
WLAN gibt es nur in Deutschland, ansonsten heißt das Zauberwort Wi-Fi.
(Foto: REUTERS)
Zeitgemäß zu leben, heißt postfaktisch zu fühlen - und zwar alles, was der Alltag gefühlt mit sich bringt: Temperaturen, Zeiträume, Hunger, Müdigkeit oder Paarungslust. Sogar fehlende Englischkenntnisse lassen sich herbeifühlen.
Mit dem Klima fing alles an. Vor gefühlt 20 Jahren. Es war aufgefallen, dass die Sommer irgendwie wärmer und die Winter irgendwie kälter sind als die tatsächlich gemessenen Temperaturen. Im Wetterbericht war deshalb auf einmal ganz offiziell von der "gefühlten Temperatur" die Rede. Übrigens auch in der englischsprachigen Welt: "the perceived temperature".
Gefühlt befanden wir uns damals noch in der Steinzeit: ohne Smartphones. Ohne Instagram. Und ohne "Wi-fi" – was ja heutzutage gefühlt das erste Anliegen vieler Café- und Hotelgäste ist: "Do you have a Doubleyou Lan Password?" Leider bleiben gefühlt 99 Prozent aller deutscher Touristen unverstanden, wenn sie so etwas auf Reisen fragen. Weil im Ausland niemand WLAN versteht, der kein deutsch spricht. The Zauberword heißt "wi-fi", also wai-fai (Und "Zauberwort" ist übrigens "magic word").
Doch zurück zu den gefühlten Temperaturen: Mit ihnen sind uns im Alltagsleben allerlei andere Fühler gewachsen. Sie ermöglichen es, beliebige Situationen oder Angelegenheiten zu erfassen - und sie haben echte Recherchen und empirische Nachforschungen völlig überflüssig gemacht. Oder anders gesagt: Unkenntnis und Ungenauigkeit sind zum sympathischen Credo geworden! Die sprachliche Mode, die daraus hervorgegangen ist, kann man gefühlt überall hören:
"Er ist gefühlt 30." (Obwohl er tatsächlich 40 ist.)
"Sie ist gefühlt 50." (Obwohl sie tatsächlich auch 40 ist.)
Oder:
"Ich warte hier eine gefühlte Ewigkeit."
"Ich habe gefühlt die ganzen Ferien gegessen."
Oder:
"Gefühlt verdiene ich zu wenig."
"In München ist mein Geld gefühlt nur halb so viel wert."
Oder:
"Mein letzter Sex ist gefühlt ein Jahr her."
"Meiner zehn."
So bedauerlich sich vieles anfühlen mag, so erbaulich kann wiederum anderes sein. Zum Beispiel, wenn sich Politiker auf gefühlte Mehrheiten und gefühlte Minderheiten verlassen. Es gab einmal einen SPD-Kanzlerkandidaten, der eine gefühlte Innentemperatur kurz vor dem Siedepunkt erreichte. Das war 2017, als Martin Schulz vor der Bundestagswahl erklärte: "Gefühlt bin ich schon Kanzler".
Ein Tag voller Gefühle
Auch für uns Denglische Patienten ist diese Art der gefühlten Kommunikation vorteilhaft, wenn wir uns mal wieder bemühen, Englisch zu sprechen. Gefühlige Redewendungen sind schließlich auch im Englischen gang und gäbe. Man braucht dafür nicht einmal Kanzlerkandidat zu sein. Ohne Probleme kann man den ganzen Tag lang Dinge fühlen:
- "I feel bad/sorry for you" - Du tust mir leid
- "Feel free!" - Tun Sie sich keinen Zwang an/Bedien dich
- "I feel you should not be doing this" - Es wäre besser, wenn du damit aufhörst
Offenkundig geizen englische Sprecher nicht mit ihren Gefühlen. Das eröffnet ein neues und breites Spektrum gefühlter Möglichkeiten, wenn wir uns mal wieder bemühen Englisch zu sprechen. Sprachliche Optionen, für die man bei uns nur schräg angesehen würde. Ich denke an die gängige Formulierung "I feel like …". Mit ihr kann man sich auf Englisch jederzeit gewissermaßen jeden Wunsch herbeifühlen: "I feel like eating an apple!" Ähnlich formuliert man bei uns dafür nur schräg angesehen: "Ich fühle mich nach einem Apfel." Oder "Gefühlt fehlt mir ein Apfel." Dabei bedeutet der englische Satz nicht mehr und nicht weniger, als dass man einen Apfel essen möchte. Oder dass man Lust auf ihn hat – was umgekehrt auch total daneben klingen würde: "I have lust on an apple …" Denglischer geht es nicht!
Was nun unser modisches Zeitadverb "gefühlt" betrifft, gibt es zwei Regeln:
1. Man kann es nicht direkt übertragen. Sagen Sie also nicht Sätze wie "I have waited a felt/perceived eternity". Oder: "The last time I've had sex was felt ten years ago." Oder: "He is felt mid twenty."
2. Bilden Sie einen Hauptsatz mit dem Gefühl und packen Sie die Aussage in den Nebensatz! Ungefähr so wie Fernsehreporter, die vor einem brennenden Haus, vor dem britischen Parlament oder vor Massenprotesten in Hongkong stehen und sagen: "Ich habe das Gefühl [Hauptsatz], dass es hier brennt [Nebensatz]!" Auf Englisch: "I feel it's on fire." Oder: "It feels like (it is) on fire!"
Sagen Sie:
"I feel/it feels like I've been waiting for ages."
"I feel/it feels like it's been ten years since I had sex."
"I feel/it feels to me like in my mid twenties." Für "gefühlt Mitte Zwanzig" gibt es allerdings auch einen ganz anderen Vorschlag, der noch eleganter ist. Vielleicht erinnern Sie sich an den Kinofilm mit Naomi Watts and Ben Stiller: "While we were young".
Denglische Patienten, die das alles draufhaben, werden sich rasch noch besser verstanden fühlen und können in Zukunft gefühlt jede kommunikative Klippe nehmen - vorausgesetzt, sie tappen nicht mehr in die WLAN-Falle.
Quelle: ntv.de