Tragt doch was ihr wollt! Haarsträubende Kopftuch-Geschichten
10.10.2015, 10:54 Uhr
Das ist eine Variante aus einem palästinensischen Laden.
(Foto: REUTERS)
Bei wenigen Themen gehen die Meinungen so auseinander, werden sonst rationale, liberale, vernünftige, ruhige Menschen plötzlich emotional, unvernünftig, laut, gar aggressiv, wie beim Thema Kopftuch.
Wie herrlich, wenn man die Wahl hat! Wenn man oder frau so frei ist, zu tragen, was sie will. Denn heute habe ich Lust, einen Hut zu tragen. Es regnet. Gestern trug ich meine Haare offen, sie waren frisch gewaschen. Morgen werde ich mir wohl einen Pferdeschwanz machen, denn dann sind die Haare vielleicht nicht mehr so schön wie gestern und heute. Vielleicht trage ich sie aber doch nochmal offen, weil ich einen Pickel am Hals habe oder weil ich mich aus welchem Grund auch immer abschotten will gegen die Blicke meiner Umwelt. Und damit wären wir eigentlich auch schon beim Thema Kopftuch.
Neulich habe ich mich in Marrakesch so sauwohl unter meinem Tuch gefühlt, dass ich mich selbst gewundert habe. Okay, ich habe hysterische Angst vor einem Sonnenstich und mit Sonnenbrille sieht man mit so einem Tuch auf dem Kopf auch eher stylish (hoffentlich) und hippiesk (na, Oma) als gläubig oder unterdrückt aus. Alles gut also, möchte man meinen. Ist auch schön, nicht ganz nackt durch die engen Gassen eines arabischen Marktes zu laufen - das mach' ich ja zu Hause übrigens auch nicht. Ist aber schön, mit wehendem Haar Fahrrad zu fahren, kann man nicht anders sagen. Ganz großartig ist aber, dass ich die Wahl habe, mir meinen Kopf zu gestalten, wie ich es will.
Das Kopftuch als It-Piece?
Der ganze Streit um das Stück Stoff ist wahrlich nicht neu - fast genauso alt wie das Kopftuch selbst wahrscheinlich - wird momentan aber dadurch beflügelt, dass eine neue Komponente dazu gekommen ist: Es soll Frauen geben, die das Ding tatsächlich nicht nur als Glaubens-Statement, aufgezwängt von ihrem herrischen Ehemann oder Vater, sondern als modisches Statement, vielleicht aber auch nur als Accessoire, nutzen wollen. Aber wo kommen wir denn da hin? Macht hier neuerdings jede, was sie will?
Es sieht doch so aus: Es gibt gute Kopftuch-Frauen und es gibt schlechte Kopftuch-Frauen. So wie es gute Frauen ohne Kopftuch und schlechte Frauen ohne Kopftuch gibt. Es gibt auch gutaussehende Frauen und nicht so gutaussehende Frauen, sowohl mit als auch ohne Kopfttuch. Jetzt kommen aber diese frechen Frauen, die sich einfach aus Lust und Laune in einen Werbespot für den Klamottenhersteller H&M stellen und so tun, als ob es ihnen gefallen würde, so ein Unterdrücker-Kopftuch zu tragen. Moment mal, "die so tun als ob"? Es wirkt doch momentan wirklich eher so, als ob da viel Freiwilligkeit hinter steckt.
Kopftücher gibt es schon ewig, unsere Mütter haben sie in der westlichen Welt getragen. Sehr wahrscheinlich um ihre frische Dauerwelle zu schützen, um die Haare gegen den Wind zu feien, weil sie keine Ohrenschmerzen bei Sturm haben wollten, weil ihnen kalt war, oder weil es schick war, irgendwann in den Siebziger Jahren, oder als Turban. Freiwillig. Eine Tante von mir hatte sehr dünnes Haar, mit einem Tuch auf dem Kopf sah sie immer sehr mondän aus. Und was ist eigentlich mit Nonnen? Ist uns normalen Bürgern deren Lebenstil nicht auch total fremd? Und sind die etwa nicht verschleiert?
50 ways to leave your lover - different ways to wear your headscarf
Schon klar, es geht um die voll verhüllten Frauen, von denen man (leider) gar nichts sieht. In Deutschland tragen jedoch Studien zufolge drei Viertel der in Deutschland lebenden Musliminnen überhaupt kein Kopftuch. Und wenn, dann ist es nicht immer eine Burka! Ja, es ist schwer, mit Frauen, die eine Burka tragen, in Kontakt zu kommen. Oft gehören sie in die Familien, deren Töchter auch nicht zum Kindergeburtstag deiner Kinder kommen dürfen. Schade. Auch schade, dass das kleine neue Mädchen aus Afghanistan in der dritten Klasse bis vor kurzem noch mit vielen bunten Haarspangen in der Schule saß, in der vierten nun aber ihre wunderschönen Haare unter einem Schleier sind. Schleier! Tuch! Nicht Burka, aber dazu später mehr. Schade, aber so ist es nunmal, sagt dann auch selbst in einer internationalen Schule die Schulleitung. Aber ganz ehrlich? Es ist manchmal auch sehr schwer, mit einer Frau in Kontakt zu geraten, die ihre Hermès-Tasche wie einen Panzer vor sich her trägt, die von oben aus ihrem SUV herabguckt oder die alle Hausfrauen per se oder alle Vollzeit-arbeitenden Mütter per se verurteilt. Frauen eben, pfff.
Kopf gern immer einschalten, mit oder ohne Tuch
Es geht beim Kopftuch nicht immer um Unterdrückung. Es geht auch oft um Freiwilligkeit. Und es geht um Tradition. Und haben wir uns eigentlich schon einmal Gedanken darüber gemacht, wieviele Frauen unterdrückt, geschlagen, misshandelt werden, die KEIN Kopftuch tragen? Die eine riesige Sonnenbrille aufsetzen über ihrem blauen Auge? Die langärmelig auch bei 30 Grad im Schatten bevorzugen, damit man die Kratzer nicht sieht? Die psychisch misshandelt werden, was wir übrigens gar nicht sehen können?!
Mir geht eine Begegnung aus dem Sommerurlaub im Salzburger Land/ Österreich nicht aus dem Kopf: Wir sind in Sankt Gilgen, am Zwölferhorn, und stehen in der Schlange an der Gondel. Eine osteuropäische Gruppe - Mutter stillt, Vater isst Joghurt, der Kleine winkt und lächelt. Japaner mit den riesigsten Fake-Smartphones und Keilabsätzen (der Louis Trenker in mir lacht sich kaputt). Eine arabische Familie - vier Söhne, Vater im Trainingsanzug, Mutter komplett verschleiert. Und wir, die Patchwork-Familie mit den vier Nachnamen, den drei Vätern, den schwer zuzuordnenden Kindern. Ich sehne mich spontan nach einem Heimatfilm, denn wir werden noch eine Weile in der Schlange anstehen. Kein Heimatfilm, gut, dann Leute beobachten. Und dann glotz' ich wohl die Schleierfrau an - korrekter gesagt: die Frau unter dem Niqab (siehe Bild) - minutenlang. Sie guckt zurück, mit ihrem Kleinkind auf dem Arm. Als wir uns in dem Wartegatter gegenüber stehen, sagt der kleine arabische Junge "Salaam aleikum", und ich sag' "Aleikum Salaam" oder so etwas in der Art, "wir sehen uns gleich oben auf dem Berg". Die verschleierte Frau ist überfreundlich, fragt mich tausend Dinge, sie erkennt meine Vorurteile, und sie geht mit der besten Waffe voran, die die Menschheit kennt: einem Lächeln - das ich leider nicht komplett sehen kann, aber an ihren Augen erkenne.
Seitdem bin ich von: "Warum ist die denn bloß so verschleiert, die Arme" zu: "Hey, wie nett, sie spricht mich an" übergewechselt. Und dazu, dass die meisten Frauen sich selbst für oder gegen einen Schleier entscheiden. Den Frauen, die gezwungen werden, geht es so schlecht wie anderen Frauen, die zu Dingen gezwungen werden, die sie nicht tun wollen. Das ist bedauernswert, aber kein Grund, abfällig über alle Kopftuch-tragenden Frauen zu denken oder zu sprechen.
Die bereits erwähnte H&M-Kampagne hat nun vor allem zur Folge, dass zahlreiche Musliminnen sich positiv äußern: "Danke, H&M. Für uns bedeutet es sehr viel, in den Mainstream-Medien wahrgenommen zu werden." Und Mariah Idrissi, die 23-Jährige aus London, deren Eltern aus Pakistan und Marokko stammen, die zum ersten Mal in dieser Kampagne modelt und für nur wenige Sekunden zu sehen ist, stellt im "Spiegel" fest: "Endlich werden wir nicht mehr ignoriert. Und ob ich einen Hidschab trage oder nicht, das ist ganz allein meine Entscheidung, nicht nur eine Frage der Mode, sondern meiner Spiritualität." Vielleicht ist Spiritualität ein gutes Wort in diesem Zusammenhang, nicht so streng wie "Glaube" und ganz weit weg von "Zwang".
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Quelle: ntv.de