Die wahren Herren der Welt Ein Leben im Verborgenen
24.06.2017, 07:16 Uhr
Pilz frisst Pilz: Ein Helmling ist vom parasitischen Gemeinen Helmlingsschimmel befallen.
(Foto: ©Robert Hofrichter, mare-mundi.eu.)
Kreaturen ohne Augen und Fell, weder Pflanze noch Tier - und doch Lebewesen; Freund und Feind zugleich. "Sie sind bereits unter uns!", schreibt Robert Hofrichter. "Und schlimmer noch, sie sind in uns ..."
Sie leben seit Millionen Jahren auf unserem Planeten und waren vermutlich die ersten, die das Land kolonialisierten, bevor überhaupt Tiere die Ozeane verließen: Pilze. Über diese wundersamen und mystischen Wesen hat der österreichische Zoologe und Biologe Robert Hofrichter ein faszinierendes Buch geschrieben: "Das geheimnisvolle Leben der Pilze". Hofrichter entführt den Leser in ein größtenteils unbekanntes Universum, und das auf eine so spannende und spektakuläre Weise, dass man nach den 240 Seiten weiß, dass man bisher nichts wusste, ja nicht einmal ahnte. Pilzfans wie ich wissen über das Objekt ihrer Begierde, dass es eigentlich nicht der Pilz ist, der ins Körbchen muss, sondern nur sein Fruchtkörper. Der "Pilz an sich" ist ein unterirdisches Fadenwesen und vermehrt sich über Sporen, die aus den Röhren oder Lamellen des Fruchtkörpers auf den Boden fallen. Und was noch? Genau! Das war’s nämlich schon. Reicht auch eigentlich aus, um Pfifferlinge mit Speck und Zwiebeln oder Steinpilze mit breiten Bandnudeln genießen zu können. Klar, es ist empfehlenswert, sich wenigstens ein bisschen auszukennen, damit die Pilzpirsch nicht in der Notaufnahme endet. Was wissen wir noch? Denn da gibt es ja noch jede Menge andere Pilze. Manche von uns können vom Nagelpilz ein Lied singen, andere Pilze besiedeln gern andere Körperteile und der Arzt muss ran. Wir kennen Schimmelpilze, wissen, dass der auf dem Camembert der gute und jener auf dem Brot der böse ist; ärgern uns über Pilze im Bad oder unter der Tapete. Hofrichter, der auch Naturschützer, Journalist und Naturfotograf ist, erzählt viel, viel mehr über das verborgene Leben im Untergrund. Nicht trocken-sachlich, sondern witzig-lebendig, ohne dass fundierte Wissenschaft auf der Strecke bleibt. Unterhaltsame Bildung im besten Sinne! Ich glaube, sämtliche Pilze gehören zu Hofrichters Bekanntenkreis; es gibt übrigens schätzungsweise 1,5 Millionen Arten. Beschrieben sind weltweit erst 100.000 Arten. Da ist also noch jede Menge Luft nach oben. Und wenn ich morgen früh in den Spiegel schaue und wieder ein neues graues Haar entdecke, werde ich mir nicht sicher sein, ob da nicht doch eher ein Pilz sprießt.

Die gebundene Ausgabe ist im Gütersloher Verlagshaus erschienen und kostet 19,99 Euro.
(Foto: ©Robert Hofrichter, mare-mundi.eu.)
"Das geheimnisvolle Leben der Pilze" ist im Mai im Gütersloher Verlagshaus erschienen. Die gebundene Ausgabe hat 240 Seiten und 29 Farbfotos des Autors. Hofrichters Pilzbuch ist kein Bestimmungs-, sondern ein Kennenlernbuch, den dem sich Freund und Feind aus der Pilzwelt tummeln. Wer’s braucht, findet in einem Register alle erwähnten Pilzarten und ihre wissenschaftlichen Bezeichnungen mit Seitenangabe, unter anderem den Kubanischen Kahlkopf, Totenfinger oder den Zitzen-Riesenschirmling, um nur einige der teils wunderlichen Namen zu nennen. Nomen est omen gilt auch für Pilze: So ließ sich Linné bei seinen Klassifizierungen gern von Äußerlichkeiten inspirieren. Die Gemeine Stinkmorchel nannte er "Phallus impudicus", was so viel heißt wie schamloser Penis. Diesen Artnamen von 1753 trägt der Pilz noch heute (sieht ja auch heute noch so aus), obwohl schon der deutsche Name zwecks Charakterisierung ausreichend wäre: Der Pilz verströmt einen widerlichen Aasgeruch, der Fliegen anlockt, die dann die Pilzsporen verbreiten. Es gibt noch jede Menge andere Stinker wie den Tintenfischpilz oder die Aseroe rubra, die wie eine Anemone aussieht. Wiederum andere Arten wie der Teufelszahn leuchten im Dunkeln. All diese wundersamen Produkte der Natur kommen daher wie Lebewesen von einem anderen Stern, wie Aliens aus dem schlimmsten aller Albträume. Schon das und zusätzlich der Höllengestank hindern uns am Runterschlucken, auch wenn sie nicht direkt giftig sind. Die Puppen-Kernkeule hat allerdings ihren Namen nicht nach dem Aussehen, sondern nach ihrem Ursprung. Sie wächst für unsereins ziemlich unappetitlich heran: Die Sporen von Cordyceps militaris töten die im Boden liegenden Puppen von Schmetterlingen und ernähren sich von den abgestorbenen Insektenkörpern. Aber: Die Puppen-Kernkeulen enthalten entzündungshemmende Polysaccharide, die auch gegen Tumore und Metastasen wirksam sind und in der Medizin eingesetzt werden. Durch seine parasitäre Lebensweise vermeidet der Pilz außerdem Schmetterlingsplagen und trägt so zum natürlichen Gleichgewicht im Ökosystem bei.
Pilze niemals unterschätzen

Einer der gefährlichsten Pilze der Welt: Auf das Konto des Grünen Knollenblätterpilzes gehen in Europa die meisten tödlichen Vergiftungen.
(Foto: ©Robert Hofrichter, mare-mundi.eu.)
Robert Hofrichter verbindet sein umfangreiches und detailliertes Wissen so gekonnt mit persönlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen, dass es eine wahre Freude ist, in dem Buch zu schmökern. In 17 faszinierenden Kapiteln beschreibt er, was Pilze alles können. Sie prägen unseren eigenen Körper stärker, als es uns bewusst oder auch lieb ist. Pilze fungieren als Mediziner, Chemiker oder Atomtechniker, geben verseuchte Industriebrachen gesund an uns zurück. Sie arbeiten als Müllräumer - ohne sie wäre die Erde meterdick mit Abfällen bedeckt. Ohne sie hätten wir Menschen keine saubere Wäsche, und keine Orchidee könnte das Licht der Welt erblicken, wenn da nicht die Pilze wären. Der Leser erfährt, welche Rolle Pilze in der Evolution gespielt haben und warum Ötzi Zunderschwamm und Birkenporling bei sich trug. Haben tatsächlich Pilzsporen Mitglieder von Carters Ausgrabungsteam ins Jenseits befördert? Wahr am "Fluch der Pharaonen" ist jedenfalls, dass wir alle pilzreiche Luft einatmen, und zwar mit jedem Atemzug mindestens zehn Sporen. Wissenschaftler haben berechnet, dass mit dem biologischen Feinstaub täglich sieben Nanogramm fremde Pilz-DNA in unseren Körper gelangen. Pilze "sind bereits unter uns!", schreibt Robert Hofrichter. "Und schlimmer noch, sie sind in uns ..."
Der Autor veranschaulicht, wie Pilzsporen um die Welt und mit ins All reisen, dass Pilze auch im Meer- und im Süßwasser leben oder in der Wüste wachsen, wie auf trickreiche Weise Ameisen und Termiten Pilzfarmen betreiben. Überall lauert der Pilz, denn Pilze sind allgegenwärtig. Ohne Pilze kein Wald, nicht mal Leben. Ohne Pilze hätten wir weniger Regen, denn ihre Sporen zählen in der Atmosphäre zu den wichtigsten Wolkenmachern. Pilze prägen das Weltklima in einem Ausmaß, das früher niemand für möglich gehalten hätte. Da in der Nähe von Pilzen auch der Tod lauern kann, befasst sich Hofrichter auch mit echten und unechten Vergiftungen sowie mit dem Fungi-Mord. Es gibt übrigens mehr Tote durch Hunde und Bandwürmer als durch Pilze! Sehr amüsant sind die Geschichten über die Magie von Kuhfladen oder über das Schamanen-Pipi im Zusammenhang mit diversen Magic Mushrooms.

Ein gut schmeckender Speisepilz, doch Nicht-Kenner zucken am Buffet zurück: Der Violette Rötelritterling behält auch nach dem Kochen seine intensive Farbe.
(Foto: ©Robert Hofrichter, mare-mundi.eu.)
Pilze sind mal verliebt und mal Heiratsschwindler, sind wahre "Hacker" und Überlebenskünstler. Und Verkehrsplaner! Robert Hofrichter beschreibt, wie Forscher auf der Suche nach optimalen Wegeplänen pilzgeimpfte Holzstückchen als Städte oder Verkehrspunkte in Nährböden versenken und das geheimnisvolle Wesen seine Arbeit machen lassen. Die Planer lehnen sich zurück und die Pilzfäden haben in 48 Stunden den kürzesten Weg zwischen zwei Punkten gefunden und klugerweise zusätzlich Querverbindungen zwischen den Hauptsträngen geschaffen, damit im Krisenfall nicht alles zusammenbricht. Forscher entdeckten diese erstaunliche Fähigkeit, indem sie das britische Bahnnetz mit Hilfe eines Schleimpilzes nachbauten. Ach, hätten doch die BER-Planer auch einen Schleimpilz benutzt statt ihrer eigenen Köpfe! Berlin wäre wahrscheinlich diese Jahrhundert-Blamage erspart geblieben.
Der Planet der Pilze

Der Liebling aller Schwammelsucher: der Steinpilz. Im Bild ein Sommer-Steinpilz in einem Laubwald im Osten Europas.
(Foto: ©Robert Hofrichter, mare-mundi.eu.)
Manches ist so unglaublich (nicht nur die "Verkehrsplanung"), dass ich dachte, ich würde veräppelt. Aber je weiter ich las, je mehr Erstaunliches sich mir offenbarte, umso deutlicher wurde die Tatsache, dass die wahren Herren der Erde die Pilze sind, mit ihrer unvorstellbaren Vielfalt, die lange, lange vor uns da waren und die uns immer noch zeigen, wo der Hammer hängt. Ein im Jahr 2000 im US-Bundesstaat Oregon entdeckter Hallimasch (gemeint ist der "Pilz an sich" und nicht der oberirdische Fruchtkörper) wiegt 600 Tonnen - so viel wie vier Blauwalweibchen. Der Blauwal, und damit ein Säugetier, gilt als das schwerste Tier der Erde. Bei den Pflanzen nimmt diese Stelle ein Riesenmammutbaum in Kalifornien mit einer Masse von 2100 Tonnen ein. Der ist nun zwar schwerer als der erwähnte Hallimasch, doch dessen räumliche Dimension stellt alles in den Schatten: Der Pilz nimmt eine geschätzte Fläche von 880 Hektar ein, das sind mehr als 1.200 Fußballfelder - von wegen "Männlein im Walde"! Der Riesenpilz aus Oregon dürfte 2400 Jahre alt sein. Für Förster und Waldbesitzer ist das alles weit weniger erfreulich, denn diese Pilzgattung (und nicht nur die) befällt die Bäume parasitär und kann sie zum Absterben bringen. Im Kampf dagegen ist der Mensch der Schwächere, denn bis zu einem Meter tief treibt der Fadenkörper sein Unwesen und frisst sich von Baum zu Baum durch den Waldboden.

Ein voll entfalteter Parasolpilz. Aber Vorsicht: Der ähnlich aussehende Gift-Safranschirmling ist ungenießbar.
(Foto: ©Robert Hofrichter, mare-mundi.eu.)
Nicht immer also gibt es eine friedliche Koexistenz zwischen Baum und Pilz oder gar eine Symbiose zu beiderseitigem Nutzen, an dem wir Menschen zu gerne teilhaben. Denn ohne das Zusammenleben von Bäumen und Pilzen müssten wir Pfifferlinge und Steinpilze und die meisten anderen Köstlichkeiten von unserer Genusskarte streichen. "Das Zusammenleben von Bäumen und Pilzen zählt zu den größten Wundern unserer Welt", schreibt Hofrichter. "Ein einziger Baum kann mit bis zu hundert verschiedenen Pilzarten vergesellschaftet sein und innerhalb derselben Spezies mit vielen verschiedenen Individuen. Ein Kubikzentimeter Erdboden kann bis zu zwanzig Kilometer (!) hauchdünner Pilzfäden enthalten. Den Neuronen des menschlichen Gehirns nicht unähnlich durchwächst der Pilz alles und baut dabei ein unvorstellbar komplexes Geflecht auf." Pilze vernetzen den Wald mit seinen Bäumen zu einem Ökosystem, zu einem regelrechten WWW - dem wood wide web. Nicht alle Pilze gehen mit Bäumen eine innige Verbindung ein. Es gibt Spezialisten mit ausgeklügelten Verbreitungsstrategien. Der nur wenige Millimeter kleine Kugelschneller schießt seine Sporenpakete bis zu sechs Meter weit. Stäublinge wie die Boviste "pupsen" ihre Sporen in die Luft, vom Volksmund wenig charmant Nonnenfurz genannt. Selbst der Gattungsname bedeutet Wolffurz (Lycoperdon). Andere setzen nicht auf Winde, sondern auf tierische Gehilfen: Die begehrten Trüffeln duften so verlockend nach Sexualpheromonen, dass zum Beispiel Wildschweine sie ausbuddeln, futtern - und die unverdaulichen Sporen wieder ausscheiden. "Ein übel riechender Haufen wird so zum Ursprung für einen Genuss, den wir Menschen besonders seines Aromas wegen schätzen", schreibt Hofrichter. Netter kann man’s kaum sagen!
Essbare Pilze sind am wenigsten giftig

Den Heiratsantrag machte Robert Hofrichter seiner Frau im Wald: mit Schmalzbrot, Bier und einem Ring vom Parasolpilz.
(Foto: ©Hofrichter, privat)
Man sollte nicht allen Freunden immer trauen, mahnt der Autor an anderer Stelle. Denn vieles, was wir über Pilze wissen, hat sich mit den Jahren gewandelt. Pilzfans lernen eigentlich nie aus und es ist besser, nicht erst aus Irrtümern zu lernen (wenn man’s überhaupt noch kann). So hat sich der Kahle Krempling als "stiller Killer" entpuppt, der erst mit einer Verzögerung von Monaten und sogar Jahren töten kann. Und auch Ritterlinge sind nicht immer ritterlich, wie das Beispiel des Grünlings zeigt. Die bis etwa 2000 als wohlschmeckende Speisepilze geltende Art kann bei bestimmten empfindlichen Menschen eine Muskelschwäche mit tödlichem Ausgang verursachen. Auch ich habe in jungen Jahren auf heimischem Sandboden mit Begeisterung Grünlinge gesammelt ... und überlebt. Offenbar liegt bei mir diese Prädisposition nicht vor. Inzwischen ist der Grünling in Deutschland so selten, dass er unter die Bundesartenschutzverordnung fällt, denn Pilze sind genauso wie viele Tier- und Pflanzenarten durch schädliche Umwelteinflüsse bedroht.
Selbst die Eindeutigkeit der Champignonwelt gerät ins Wanken, denn außer dem einen altbekannten Bösewicht, dem Karbol-Champignon, entpuppen sich etliche Verwandte inzwischen als verschlagene Sippschaft. "Die Grenze von Speise- und Giftpilz ist in vielerlei Hinsicht verschwommen", zitiert Hofrichter den Pilzexperten Lothar Krieglsteiner zu der Diskussion um das in den beliebten Champignons vorkommende Agaritin, das sehr unterschiedlich bewertet wird (durchaus auch positiv). "Man bekommt den Eindruck, dass bald keine Speisepilze mehr übrig bleiben werden. Auf der anderen Seite gilt für mich: Würde man die Strenge, die man auf pilzliche Nahrungsmittel anwendet, auf andere übertragen, gäbe es auch keine Erdbeeren oder keinen Brokkoli mehr zu kaufen", so der promovierte Mykologe.
Pilze sind übrigens kein Gemüse, denn sie sind keine Pflanzen. Tiere aber auch nicht, obwohl sie in ökologischer Hinsicht mehr Tier als Pflanze sind, weil sie fressen. Es geht mit der Wesensbestimmung durch die Jahrhunderte hinweg ziemlich bunt durcheinander. Heute haben die Pilze ihren unbestrittenen Platz als eigenes Reich in der Organismenwelt erhalten. Ich werde nach dem Lesen von Hofrichters Buch, das zu Recht den Untertitel "Die faszinierenden Wunder einer verborgenen Welt" trägt, diese Pilzwelt mit anderen Augen sehen. Und auch die Pfifferlinge auf meinem Teller, denn "essbare Pilze sind am wenigsten giftig"!
Quelle: ntv.de