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Willy Brandt und das "Tor zur Stadt" Erfurt und der Bahnhofsbau

Der erste Eindruck ist entscheidend. Das wusste auch Willy Brandt, als er im März 1970 aus einem Fenster des Erfurter Hofs auf den Bahnhofsvorplatz sah - und auf tausende jubelnde DDR-Bürger. Es war der "emotionalste Moment“ seines Lebens. Der Platz trägt heute seinen Namen und vieles ist anders.

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Bahnhofsbau mal anders: "Erfurt bekommt mehr Tiefe" - wird aber nicht tiefer gelegt.

Bahnhöfe, egal wie groß sie auch sein mögen, haben etwas Geheimnisvolles. Sie versprühen einen Hauch von weiter Welt, von Abenteuerlust. Die Gleise verschwimmen am Horizont, scheinen ins Unendliche zu reichen. Wildfremde Menschen kommen und gehen. Und meist ist der Bahnhof das erste, was sie von einer Stadt sehen. Der Bahnhof prägt nicht nur das Bild des Ortes, er ist das "Tor zur Stadt“ und heißt ihre Gäste willkommen. Ein guter Gastgeber wiederum achtet auf das Aussehen des Bahnhofs, der das Ansehen der Stadt beeinflusst.

In Stuttgart wird derzeit darüber gestritten, inwieweit das Bauprojekt "Stuttgart 21“ und das Hickhack darum das Ansehen der Schwabenmetropole trübt. In der Thüringer Landeshauptstadt Erfurt ist man da schon ein Stück weiter. Auch dort ging der Neubau des Hauptbahnhofs nicht geräuschlos über de Bühne. Die Kosten liefen zwar nicht aus dem Ruder, über dem Plan lagen sie trotzdem. Mehr als 260 Millionen Euro kostete es, den Erfurter Hauptbahnhof auf "ICE-Knotenpunkt“ zu trimmen. Das ist Teil des im Beamtendeutsch genannten Verkehrsprojekts Deutsche Einheit Nummer 8. Im Bahn-Jargon war vom "Schienenprojekt der Superative“ die Rede, mit transeuropäischen Ausmaßen, da die Hochgeschwindigkeitsstrecke Berlin-München-Verona-Palermo betroffen ist. 

Bilderreise im Zeitraffer

Rund acht Jahre nahm der Abriss, Um- und Neubau des Erfurter Hauptbahnhofs in Anspruch. Von 2002 bis 2008 wurde er von einer Fotografin begleitet, die von immer gleichen Standpunkten aus den Umbau, gewissermaßen im Zeitraffer, dokumentierte und ihn so für die Nachwelt in einzigartigen Schwarz-Weiß-Bildern für immer festgehalten hat. Die identischen Bildausschnitte der Serien lassen dabei die gravierenden Änderungen fast plastisch hervortreten.

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Beate Hövelmans

Bilderstrecken zu den Innenräumen des spätklassizistischen Inselgebäudes entstanden ebenso wie zu den alten Personen- und Gepäcktunneln oder zur Erneuerung des Vorplatzes samt Restaurierung des Hotels "Erfurter Hof". Weniger bekannte Bereiche des Bahnhofs, die den Reisenden einst verschlossen waren, werden in dem Bildband "Freie Bahn“ ebenso dokumentiert wie der Wandel des denkmalgeschützten Inselbahnhofs zum architektonisch-modernen Reisezentrum.

Thüringische Kleinstaaterei

Die Bilder erzählen aber nicht nur die Geschichte des Umbaus, sondern lassen auch einen Blick in die Vergangenheit zu. Der Bahnhof, dessen Ursprünge bis weit ins 19. Jahrhundert reichen, war bereits damals eine verkehrspolitische Schnittstelle. Preußen durchbrach mit der Trasse, die entlang der alten Königsstraße führte, die damals typische Kleinstaaterei: Statt einer Trasse im eigenen Staatsbesitz kam Erfurt als Knotenpunkt ins Spiel und damit auch die angrenzenden Herzog- und Großherzogtümer Sachsen-Coburg und Gotha und Sachsen-Weimar-Eisenach. 1841 wurde die Errichtung der Thüringischen Eisenbahn beschlossen, 1847 erfolgte die erste Probefahrt von Weimar nach Erfurt. Vier Züge verkehrten danach täglich. Den Hauptbahnhof gab es zunächst noch nicht. Der Haltepunkt lag etwas abseits des heutigen Bahnhofs.

Willy Brandt und die Erfurter

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19. März 1970: Bundeskanzler Willy Brand zeigt sich am Fenster des Hotels "Erfurter Hof", direkt gegenüber des Hauptbahnhofs, den ihm zujubelnden DDR-Bürgern.

(Foto: picture-alliance / dpa)

Der Hauptbahnhof wurde erst 1889 bis 1893 gebaut. Sein hervorstechendes Merkmal war das markante, aber flach gehaltene Inselgebäude. 1905 entstand gegenüber das Hotel Erfurter Hof. 1916 folgte noch eine Erweiterung des Bahnhofs. Seitdem stand die Zeit gewissermaßen still. Der Hauptbahnhof veränderte sich kaum. Berühmt wurde er dennoch - und international bekannt: 1970 zum ersten deutsch-deutschen Gipfeltreffen empfing Willi Stoph Bundeskanzler Willy Brandt am Bahnhof. Der Satz: "Willy Brandt ans Fenster“ hallt noch heute nach - in Form einer Leuchtschrift auf dem Dach des restaurierten "Erfurter Hofs“.

Die Zeiten haben sich geändert. Geblieben ist einzig die Fassade des spätklassizistischen Inselgebäudes in Form des Vorempfangsgebäudes als eine Hommage an die bewegte Geschichte. Doch im Innern ist nach dem Abriss des deutschlandweit einzigartigen Inselgebäudes die Moderne eingezogen: McDonald’s statt Mitropa, Reisezentrum statt Fahrkartenschalter. Internationale Gäste statt sowjetisches Militär. Und außen? An die Fassade des Vorempfangsgebäudes schmiegt sich ein Glaspalast an und sorgt für einen freien Blick. Das Dach scheint zu schweben, einem riesigen Rochen nicht unähnlich.

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Die Proteste, die es beim Abriss des alten Bahnhofs bei den Einwohnern gab, sind verhallt. Es ist Gras darüber gewachsen, wie über so manch stillgelegtes Gleisbett. Die Zeit heilt alle Wunden. Was geblieben ist, ist ein repräsentatives "Tor zur thüringischen Landeshauptstadt“ - und mit "Freie Bahn“ eine einzigartige fotografische Dokumentation von Beate Hövelmans, erschienen im Sutton Verlag.

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Quelle: ntv.de

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