Panorama

Hilfe aus Erfurt Abschied von den Toten

Angehörige haben am Abend Abschied von den beim Amoklauf in Winnenden getöteten Kindern und ihren Lehrerinnen genommen. Die Leichen wurden in offenen Särgen in einem Krankenhaus aufgebahrt. Jeder Familie stehe ein Team aus zwei Psychologen zur Seite, sagte Wolfgang Schiele vom Regierungspräsidium Stuttgart.

Das Land will an diesem Freitag von 11.00 Uhr an im Rathaus von Winnenden Kondolenzbücher für die Bevölkerung auslegen. Ministerpräsident Günther Oettinger werde sich als einer der ersten eintragen, teilte das Staatsministerium mit.

Unterdessen fand in der Schlosskirche von Winnenden ein zweiter Trauergottesdienst statt. Erneut kamen viele Schüler der Albertville-Realschule, wo der Amoklauf am Mittwoch begonnen hatte. Der ökumenische Gottesdienst wurde auf einer Leinwand vor der überfüllten Kirche übertragen. Der Täter Tim K. hatte an der Realschule und auf der Flucht 15 Menschen erschossen, bevor er sich selbst tötete.

Umstrittene Ankündigung

Unklar ist, ob eine angebliche Ankündigung des Amoklaufs echt ist. Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech sagte, Tim K. habe in der Nacht vor der Tat im Internet einen Hinweis gegeben. "Ich meine es ernst, Bernd - ich habe Waffen hier, und ich werde morgen früh an meine frühere Schule gehen und mal so richtig gepflegt grillen", habe er in der Nacht vor der Tat in einem Internetportal geschrieben. Weiter habe es geheißen: "Merkt Euch nur den Namen des Orts: Winnenden."

Der Vater eines Jugendlichen aus Bayern, der an dem Chat teilgenommen hatte, meldete sich demnach bei der Polizei. Der Chatteilnehmer habe die Ankündigung nicht ernst genommen, und ein weiterer Teilnehmer habe erklärt, er glaube das erst, wenn er Bilder sehe. Die Betreiber der Website, auf der Tim K. den Text gepostet haben soll, dementierten allerdings, dass es eine solche Ankündigung gegeben habe (siehe Link).

Wegen Depressionen in Behandlung

Rech sagte weiterhin, der 17-Jährige habe sich seit 2008 wegen Depressionen in psychiatrischer Behandlung befunden, diese dann aber abgebrochen. K. hatte auf seiner Flucht einen Mann vor der Psychiatrischen Landesklinik in Winnenden erschossen. Die Klinik befindet sich neben der Realschule.

Den Ermittlungen zufolge gab Tim K. in der Schule 60 Schüsse ab, neun vor dem Psychiatrischen Landeskrankenhaus und weitere 44 am Ende seiner Flucht in Wendlingen. 109 noch nicht abgeschossene Patronen hatte er noch bei sich. Der Vater des Amokläufers hatte in seinem Waffenschrank 4600 Schuss Munition verwahrt. Der Jugendliche war nach Angaben von Rech im Umgang mit Schusswaffen "sehr geübt". Er war öfters Gastschütze im Schützenverein seines Vaters.

Mehr Lehrer für die Schule

Kultusminister Helmut Rau versprach der Albertville-Realschule 50 Prozent mehr Lehrer. Dies entspreche 13 Stellen. Das Land sehe sich zudem in der Pflicht, Kosten für die Sanierung der Schule zu übernehmen. Auch werde es flexible Regelungen für die Schüler geben, die in diesem Jahr ihren Abschluss ablegen. Das gelte auch für die Schüler des benachbarten Gymnasiums und die Referendare an der Realschule.

Erfurter Schüler wollen helfen

Rau lobte, dass sich Schüler des in Erfurt 2002 von einem Amoklauf betroffenen Gymnasiums angeboten hätten, den Schülern in Winnenden beizustehen. "Dass die Jugendlichen von sich aus eine solche Initiative ergreifen, ist bei all dem Erschlagenden, was wir gestern erleben mussten, auch ein Zeichen der Hoffnung."

Ob die Albertville-Realschule jemals wieder für regulären Unterricht genutzt werden kann, ließen Rau und die Leiterin der Schule, Astrid Hahn, offen. "Schnelle Festlegungen würden zu neuen Verletzungen führen", sagte Rau. Eine Perspektive für eine neuentstehende Schulgemeinschaft könne nur entwickelt werden, wenn alle - Eltern, Schüler, Lehrer, Schulträger - beteiligt würden. Die psychologische Unterstützung werde "noch einige Zeit" aufrechterhalten.

Hilfe für die Eltern

Nach den Worten von Schulleiterin Hahn wird den Eltern an diesem Freitag von Psychologen erläutert, wie sie mit ihren traumatisierten Kindern umgehen sollten. Am Wochenende stehe weiterhin psychologische Betreuung für Schüler, Eltern und Lehrer bereit.

In der nächsten Woche bestehe noch keine Schulpflicht, aber ein Betreuungsangebot in anderen Schulen mit den Lehrern der Albertville-Realschule. Auch in den Nachtstunden sei eine Hotline geschaltet.

Keine Hinweise auf Mobbing

Den Täter, Tim K., kenne sie nicht näher, habe ihm aber im vergangenen Jahr in eben der Halle, in der die Pressekonferenz stattfand, sein Abschlusszeugnis für die Mittlere Reife ausgehändigt, sagte Hahn. "Als Schulleiterin wird man ja eher mit den Schülern konfrontiert, die sich nicht an die Schulordnung halten." Sie habe keine Hinweise, dass Tim K. von seinen Mitschülern gemobbt worden sei.

Soziales Miteinander werde in der Schule groß geschrieben: Bereits in der fünften Klasse stehe Sozialtraining auf dem Stundenplan. Gewaltprävention sei ebenfalls im Angebot, erzählte die mit den Tränen ringende Pädagogin. Hahn war von einer Lehrerin per Handy über den Amoklauf informiert worden: "Hier schießt einer. Ich bin getroffen." Die Lehrerin überlebte den Anschlag verwundet.

Möglicherweise Mitschuld des Vaters

Der Vater muss sich möglicherweise wegen fahrlässiger Tötung verantworten. Grund sei, dass die vom Sohn verwendete Tatwaffe vorschriftswidrig im Elternschlafzimmer lag, sagte der Leiter der Staatsanwaltschaft Stuttgart, Siegfried Mahler. Bislang sei der Vater aber lediglich als Zeuge vernommen worden.

13 Schusswaffen seien im Waffenschrank verschlossen gewesen, außer der einen Pistole vom Schlafzimmer. Die beiden Waffenschränke waren Rech zufolge mit einem achtstelligen Zahlencode gesichert gewesen. Möglicherweise habe der Sohn die Kombination gekannt.

Nach Mahlers Angaben fanden sich auf dem Computer Gewaltfilme und Pornobilder. K. habe viel Zeit am PC verbracht. Die bisherigen Ermittlungen hätten jedoch keine Neigung des Täters zu einer Amoktat ergeben.

Selbsttötung am Ende der Flucht

Auf eine Obduktion der Opfer des Amoklaufs will die Staatsanwaltschaft verzichten, um weitere Verletzungen der Angehörigen zu vermeiden, so Mahler. Der Täter werde jedoch obduziert. Für die Selbsttötung des Amokläufers gibt es nach Angaben von Hans-Dieter Wagner von der Polizei Esslingen Zeugen.

Am Ende seiner Flucht in Wendlingen war K. zweimal ins Bein geschossen worden. Er sei dann in ein Firmengebäude geflüchtet, sagte Wagner. Dort habe der 17-Jährige mindestens zwölf Schüsse durch die Scheibe auf einen Streifenwagen abgegeben. Dann flüchtete er durch den Hintereingang und schoss auf einen Streifenwagen, zwei Polizisten wurden schwer verletzt. Anschließend schoss er auf Mitarbeiter auf einem angrenzenden Firmengelände und tötete sich selbst.

Video zeigt Selbstmord

Inzwischen kursiert ein wackeliger Video-Film, in dem die letzten Sekunden im Leben des Täters gezeigt werden. Darin ist zu sehen, wie Tim K. mehrfach um sich schießt und sich schließlich verletzt auf den Boden legt. Nach einem Film-Schnitt liegt er reglos auf dem Boden, Blut läuft aus seinem Kopf auf die Straße.

Die Geisel, die K. zuvor auf seiner Flucht genommen hatte, konnte sich mit einem Sprung aus dem rollen Pkw retten. Der Autofahrer habe seinen Wagen in einer Kurve beschleunigt und sei in einen Grünstreifen gefahren, als er ein Polizeiauto an einer Autobahnausfahrt gesehen habe, sagte ein Polizeisprecher. Der Mann habe dies als seine letzte Chance gesehen, mit dem Leben davonzukommen.

Quelle: ntv.de

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