Armutsforscher zu Spaltung "Der Sozialneid nach unten ist sehr ausgeprägt"
09.10.2022, 18:26 Uhr
Mit Hartz IV sei ein Leben in Würde nicht möglich, sagt Armutsforscher Butterwegge.
(Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress)
Durch die explodierenden Energie- und Lebensmittelpreise drohen immer mehr Menschen in die Armut abzurutschen. Viele andere sind schon längst in ihr gefangen. Dennoch herrscht immer noch die Meinung vor: "Wer arm ist, ist faul und selbst Schuld." Warum das nicht stimmt und wo das eigentliche Problem liegt, erklärt Armutsforscher Christoph Butterwegge im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Der aktuelle Hartz-IV-Regelsatz beträgt 449 Euro. In Zeitungsartikeln und Fernsehsendungen wird Empfängerinnen und Empfängern immer wieder erklärt, mit welchen Tipps und Tricks sie damit gut über die Runden kommen können. Doch kann man von 449 Euro im Monat tatsächlich gut leben?
Christoph Butterwegge: In Würde sicher nicht. Im Hartz-IV-Regelbedarf sind beispielsweise nur wenig mehr als fünf Euro pro Tag für Nahrungsmittel vorgesehen. Man verhungert damit zwar nicht, aber der Betrag reicht nicht aus, um sich beispielsweise gesund zu ernähren. Die 449 Euro sind auch nicht genug, um sich gut kleiden zu können. Und erst recht nicht, um am sozialen und kulturellen Leben teilzunehmen. Mal ins Kino oder ins Theater zu gehen, ist mit dem Regelbedarf nicht möglich.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt. 2017 kandierte er für die Linke für das Amt des Bundespräsidenten.
(Foto: Wolfgang Schmidt)
Im neuen Jahr weicht Hartz IV dem Bürgergeld. Damit wird der monatliche Regelbedarf um rund 50 Euro erhöht. Reicht das aus?
Damit wird die momentan hohe Geldentwertung ausgeglichen, insbesondere die enormen Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Strom, der ja nicht in den Unterkunftskosten enthalten ist, die vom Jobcenter bezahlt werden. Was jedoch fehlt, ist die längst überfällige Anhebung der Regelbedarfe, die ja künstlich kleingerechnet worden sind.
Können Sie das erklären?
Laut einer Konvention der Europäischen Union ist armutsgefährdet, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Das sind 1148 Euro monatlich für eine alleinstehende Person. Seit 2006 wird jedoch die Differenz zwischen dem Regelbedarf und dieser Armutsrisikoschwelle immer größer. Somit vertieft sich auch die Kluft immer zwischen denjenigen, die armutsgefährdet sind, und den Transferleistungsbeziehern. Die ganz Armen werden also immer ärmer, weil der Regelbedarf nicht korrekt angepasst wird. Da reicht die Erhöhung um 53 Euro keineswegs aus. Man müsste sicherlich nochmal 150 Euro drauflegen.
Eine wirkliche Hilfe ist das anstehende Bürgergeld also nicht?
Das neue Bürgergeld gilt erst ab 1. Januar. Die Preissteigerungen sind aber jetzt schon da. Stromkosten sollte man aus dem Regelbedarf herausnehmen und sie in die Kosten für Unterkunft und Heizung eingliedern. Gegen diesen Vorschlag wird angeführt, dass Hartz-IV-Bezieher dann ihre elektrischen Geräte ständig anließen, weil das Jobcenter bezahlen würde. Aber das stimmt nicht. Es prüft nämlich genau, ob die Kosten für Unterkunft und Heizung angemessen sind. Zuletzt bekamen rund 450.000 Hartz-IV-Haushalte ihre Wohnkosten nicht voll erstattet. Die aus dem ohnehin kärglichen Regelbedarf zu stopfende Wohnkostenlücke betrug 87 Euro im Durchschnitt.
Die explodieren Energie- und Lebensmittelpreise belasten zunehmend auch die Mittelschicht. Drohen jetzt immer mehr Menschen in die Armut abzurutschen?
Bedingt durch das Ausmaß der Inflation entsteht eine verborgene, statistisch nur schwer zu erfassende Armut. Während das Einkommen vieler Mittelschichthaushalte oberhalb der EU-Armutsrisikoschwelle liegt, sind die Ausgaben der Menschen so stark gestiegen, dass ihre Kaufkraft unter diese Schwelle sinkt. Verfügt ein Alleinstehender zum Beispiel über 1300 Euro netto, gilt er nicht als armutsgefährdet. Dabei sind die Preise, insbesondere für Haushaltsenergie und Lebensmittel, so stark gestiegen, dass sein Lebensstandard höchstens noch dem eines Armen entspricht. Man muss kein Prophet sein, um voraussagen zu können, dass sich diese Art einer versteckten Armut ausbreiten wird.
Zu den finanziellen Sorgen kommen oft auch noch psychische Probleme. Was macht das mit Betroffenen?
Armut ist nicht ansteckend. Trotzdem werden die Betroffenen in einer reichen Gesellschaft meistens wie Aussätzige behandelt. Sie leiden nicht nur darunter, dass sie wenig Geld im Portemonnaie haben, sondern wahrscheinlich noch mehr darunter, sozial ausgegrenzt, verachtet und verächtlich gemacht zu werden. Aus diesem Grund haben sehr viele Arme gesundheitliche, psychische oder Suchtprobleme. Schuld daran ist eine Gesellschaft, die sie für ihre soziale Misere verantwortlich erklärt, statt Armut auf die Wirtschaftsstruktur, die Eigentumsverhältnisse und die Verteilungsmechanismen zurückzuführen.
Fehlt es an Solidarität in Deutschland?
Armut ist nur Teil eines größeren Problems, und zwar der sozioökonomischen Ungleichheit. Fälschlicherweise wird Armut als individuelles Schicksal betrachtet und nicht als strukturelles Problem, verursacht von der Wirtschaftsstruktur, den Eigentumsverhältnissen und den Verteilungsmechanismen dieser Gesellschaft. Sie muss man grundlegend verändern, will man das Problem lösen. Ein Entlastungspaket ans andere zu reihen, bedeutet nur, Flickwerk zu betreiben. Die meisten Finanzhilfen sind zudem gar nicht passgenau, erreichen also nicht unbedingt Bedürftige.
Das Gießkannenprinzip …
Ich würde eher vom Matthäus-Prinzip sprechen, nach dem gleichnamigen Evangelium, wo es sinngemäß heißt: "Wer hat, dem wird gegeben. Und wer wenig hat, dem wird auch das noch genommen." Typisch dafür ist das Inflationsausgleichsgesetz von Bundesfinanzminister Christian Lindner. Von ihm profitieren eindeutig die Spitzenverdiener. Dabei müsste eher Umverteilung nach dem Robin-Hood-Prinzip erfolgen - von den Reichen zu den Armen. Das wäre ein sinnvoller Mechanismus, nach dem die Entlastungspakete gestaltet werden sollten.
Meinen Sie, das würde Anklang in der breiten Öffentlichkeit finden?
Leider ist in Deutschland der Sozialneid nach unten sehr ausgeprägt. Angehörige der unteren Mittelschicht glauben oft, die Armen würden vom Staat gepampert. Dabei wäre es gerade für die Mittelschicht logischer, nach oben zu schauen. Wenn die Bezüge der Spitzenmanager mitten in einer schweren Krise um ein Viertel steigen und der Vorstandsvorsitzende eines deutschen Konzerns 19 Millionen Euro im Jahr erhält, begehrt niemand dagegen auf. Aber wenn ein Hartz-IV-Bezieher 50 Euro mehr bekommt, regen sich gerade Geringverdiener auf. Dabei sind fast eine Million Hartz-IV-Bezieher garantiert keine "Drückeberger", "Faulenzer" oder "Sozialschmarotzer", sondern Menschen wie sie, die so wenig verdienen, dass sie ergänzend Hartz IV in Anspruch nehmen.
Woher kommt dieser Sozialneid nach unten?
In unserer Gesellschaft wird Leistung mit ökonomischem Erfolg gleichgesetzt, oder präziser: verwechselt. Wer reich ist, muss also viel geleistet haben, und wer arm ist, wird dadurch für seine Antriebsschwäche bestraft. Diese Sichtweise zu ändern, ist schwer. Denn wer reich ist, ist natürlich politisch einflussreich und tut alles dafür, um seine Privilegien auf gesetzlichem Weg zu sichern.
Unter dem Hashtag #ichbinarmutsbetroffen schließen sich seit einiger Zeit immer mehr Menschen zusammen und machen öffentlich auf ihre Situation aufmerksam. Hilft das, das Thema Armut in ein anderes Licht zu rücken?
Normalerweise steigen arme Menschen nicht auf die Barrikaden, weil sie ganz andere Probleme haben. 500.000 alleinerziehende Mütter, die Hartz IV beziehen, haben eher die Sorge, wie sie Ende des Monats noch etwas Warmes für die Kinder auf den Tisch bekommen. Der besagte Hashtag ist deshalb ein riesiger Fortschritt, weil sich Arme sonst eher schämen und verstecken. Jetzt treten sie in die mediale Öffentlichkeit, vernetzen und organisieren sich sogar. Proteste der Betroffenen haben bisher immer gefehlt. Politisch hatten die Armen nie eine Stimme. Das ändert sich gerade - sie werfen ihr Gewicht in die Waagschale und können Verbesserungen ihrer Lage erreichen.
Mit Christoph Butterwegge sprach Hedviga Nyarsik.
Quelle: ntv.de