Panorama

Fukushima - eine Bestandsaufnahme Die Wahrheit findet ihren Weg

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Die Arbeiter in Fukushima dürfen nur kurze Zeit in der Anlage verweilen, weil die aufgenommene Strahlendosis sonst zu hoch wird.

(Foto: dpa)

Als am 11. März in Japan die Erde bebt, beginnt eine der größten Katastrophen in der Geschichte der zivilen Nutzung der Atomenergie. In der Folge bestimmen Ahnungslosigkeit und Falschmeldungen das Geschehen in den Medien. Jetzt zeichnet sich allmählich ein klareres Bild der Vorgänge ab.

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Die Tsunami-Welle trifft auf die Küste der Präfektur Miyagi.

(Foto: picture alliance / dpa)

Als um 14.46 Uhr in Japan, also um 06.46 Uhr MEZ, die Erde für ganze fünf Minuten bebte, waren die Folgen noch nicht absehbar. Erdbeben sind in dieser Region der Welt fast so häufig wie Sonnenaufgänge. Diesmal allerdings korrigierten die Behörden die Stärke der Erschütterungen von zunächst 7,8 kontinuierlich nach oben. Schon wenige Minuten nach dem Beben warnte die Japan Meteorological Agency vor einer bis zu sechs Meter hohen Tsunami-Welle für die Küste der Präfektur Miyagi, also der Nachbarregion von Fukushima und Iwate. Dort waren nur drei Meter und für die restlichen Regionen der Ostküste ein halber bis zwei Meter erwartet worden.

Tatsächlich rollte der Tsunami mit einer 15 Meter hohen Welle über Fukushima. Die sechs Reaktoren der Anlage 1 standen am Ende des Tages fünf Meter unter Wasser. Lokal wurde eine Welle von 38 Metern Höhe gemessen. Die Fehleinschätzung der Projektanten des AKW, die bislang von einem maximalen Tsunami von acht Metern ausgingen, sollte sich bereits zu diesem Zeitpunkt als katastrophal erwiesen haben.

Super-GAU statt "lokales Ereignis"

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Journalisten sprechen von einem Informations-GAU der japanischen Regierung.

(Foto: dpa)

Schnell machte die Angst vor einer Kernschmelze die Runde. Als wenig später der Block 1 explodierte, sprach die Regierung immer noch von einem "lokalen Ereignis". Auch habe es sich um eine Wasserstoffexplosion gehandelt, die Messwerte seien noch immer gering. In Deutschland warnten Wissenschaftler derweil vor dem Super-GAU. Die japanischen Behörden ordneten die Folgen des Erdbebens im ersten Reaktorgebäude auf die Stufe 4 der siebenstufigen Ines-Skala für die Beschreibung der Tragweite von Atomzwischenfällen ein. Nach der Definition ist das ein "Atomunfall mit lokalen Konsequenzen".

Heute wissen wir, dass nicht der Tsunami, sondern bereits das Erdbeben der Stärke 9 den GAU ausgelöst hat. Kurz nach dem Beben setzte die Kernschmelze am Reaktor 1 ein. Der Mantel des Reaktors war gerissen, Kühlwasser lief aus, die Brennstäbe erhitzten sich und schmolzen. Die große Explosion, die das AKW zerstörte, war demnach eine Folge der Kernschmelze.

Kein Grund zur Entwarnung

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Seit den Explosionen in den ersten liegen die Reaktoren frei. Radioaktiver Dampf gelangt seit dem ungehindert in die Luft.

(Foto: REUTERS)

Die Situation in den Blöcken 1 bis 4 ist heute dramatischer denn je. Noch immer wissen die Arbeiter in der Anlage nicht, wie sie das Unglück in den Griff bekommen sollen. In Vollschutzanzügen dürfen sie nur für wenige Minuten das Kraftwerk betreten und sich einen Überblick über das gesamte Geschehen verschaffen.

Auf dem Boden von Reaktor 1 liegt ein großer Klumpen geschmolzenen Urans. Durch die Kernschmelze mit einer Temperatur von bis zu 2000 Grad wurden Löcher in den Boden des Reaktors gebrannt. Eine Wasserkühlung ist nicht mehr möglich, weil das hoch kontaminierte Wasser in die Umwelt abfließen würde – wie schon wochenlang geschehen. Auch ist die äußere Schicht des Klumpens ähnlich einer Brotkruste verhärtet. Eine Kühlung würde den Hitzebereich nicht treffen.

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In die Keller, wie hier unter Reaktor 1, sind tausende Kubikmeter verseuchtes Wasser gelaufen. Über Kanalschächte gelangt das giftige Gemisch ins Meer.

(Foto: REUTERS)

Wissenschaftler vermuten, dass sich der Prozess eher noch fortsetzen wird. Die geschmolzene Brennstoffmasse könnte sich weiter durch den bereits zerstörten Reaktor fressen und unkontrolliert in die darunterliegenden und mit verseuchtem Wasser gefluteten Keller der Anlage fließen. Eine anschließende Dampfexplosion hätte dramatische Folgen. Eine gewaltige radioaktive Masse würde hunderte Meter hoch in die Luft geschleudert und irgendwo auf der Welt als Wolke niedergehen. Radioaktiv verseuchter Regen oder Schnee würden ganze Landstriche verseuchen.

In den Blöcken 2 und 3 sieht es nach Angaben des Betreibers nicht viel besser aus. Vorsichtig deutet Tepco auch hier die Möglichkeit einer Kernschmelze an. Nur wären die Folgen noch viel schlimmer: In Reaktor 3 lagen weitaus mehr und weitaus gefährlichere Brennstäbe – die so genannten MOX. Das sind die Mischoxidbrennstäbe, die das hochgiftige Plutonium enthalten. Eine erneute Wasserstoffexplosion in diesen Bereichen scheint nicht unrealistisch zu sein, darauf deuten die wesentlich höheren Temperaturen als am Reaktor 1 hin.

Der durch das Beben schwer beschädigte Reaktorblock 4 droht noch immer einzustürzen. Er muss mit Stahl- und Betonstreben gestützt werden. In seinem Abklingbecken lagern 1300 alte Brennelemente zur Kühlung. Der Bau des Stützkorsetts und die Kühlung der Brennstäbe werden durch starke Strahlungen behindert. Die Arbeiter dürfen sich nur für kurze Zeit in der Anlage aufhalten.

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Das Floß ist 136 Meter lang und 46 Meter breit.

(Foto: AP)

Um das Krisen-AKW in den Griff zu bekommen, muss Tepco die Reaktoren noch viele weitere Monate kühlen. Das erfordert hunderttausende Tonnen Wasser. Verdampft das Meerwasser, bildet es eine Salzkruste um die Kerne, die sich dadurch weniger kühlen lassen. Zudem stellt sich die Frage, wohin mit dem radioaktiv verseuchten Kühlwasser. Lösung soll ein riesiges Stahlfloß bringen, das vor dem Kraftwerk im Meer fest vertäut wird. Die schwimmende Insel soll nach Tepco-Angaben Tanks aufnehmen können, die Raum für 10.000 Tonnen kontaminiertes Wasser schaffen. Das Unternehmen will das verseuchte Wasser aufbereiten und erneut einem Kühlkreislauf zuführen. Allein das Schiff dürfte dafür nicht ausreichen. Schon jetzt werden am AKW Tanks installiert, die weitere bis zu 30.000 Tonnen kontaminiertes Wasser aufnehmen können.

Trotz zahlreicher Rückschläge ist Tepco zuversichtlich, die Reaktoren bis Januar 2012 herunterzufahren und damit stabilisieren zu können. Deutsche Wissenschaftler nennen das Ziel "ambitioniert". Greenpeace-Energieexperte Christoph von Lieven hält eine katastrophale Entwicklung in Fukushima weiter für möglich.

Radioaktivität bereits in der Nahrungskette

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Radioaktiv verseuchter Niederschlag könnte jede Ernte zunichte machen.

(Foto: dpa)

Wie viel radioaktiv verseuchtes Wasser bereits ins Erdreich und in den Pazifik geflossen ist, kann niemand sagen. Klar scheint aber zu sein, dass die 30-Kilometer-Sperrzone rund um das havarierte AKW schon längst nicht mehr ausreicht. So haben japanische Behörden dieser Tage radioaktiv verseuchtes Weidegras rund 60 Kilometer nördlich von Fukushima gefunden. Die Proben in der Provinz Miyagi wiesen mit 1530 Becquerel Cäsium pro Kilogramm das Fünffache des erlaubten Grenzwertes auf.

Zudem deuten die von Greenpeace festgestellten Werte und auch die vom AKW-Betreiber Tepco durchgeführten Messungen am Meeresboden auf eine stärkere Anreicherung von Radioaktivität hin, als die japanische Regierung bisher zugab. So hat Greenpeace erst vor einer Woche Werte von 22 Algenproben ins Internet gestellt, die von Bord der "Rainbow Warrior" und vom Ufer aus genommen wurden. Die Proben ergaben eine radioaktive Kontamination, die weit über dem Grenzwert liegt. "Algen sind in der japanischen Küche ein Grundnahrungsmittel", sagte Greenpeace-Biologe Dirk Zimmermann. "Unsere Untersuchungen zeigen, dass die diesjährige Ernte hochgradig radioaktiv belastet sein könnte. Der japanische Staat sollte die anstehende Algenernte unbedingt verhindern. Alle Betroffenen müssen eine Entschädigung erhalten." Für Zimmermann steht damit fest: "Die Radioaktivität hat die Nahrungskette erreicht."

Zudem wurden bereits radioaktive Substanzen in der Muttermilch von fünf Frauen in Tokio und zwei weiteren Präfekturen in Japan gefunden. Offizielle Stellen berufen sich dabei auf eine Untersuchung einer Bürgerinitiative. Bei einer Frau seien demnach minimale Mengen an radioaktivem Jod 131 und bei vier weiteren Frauen Cäsium-Isotope festgestellt worden. Insgesamt wurde die Muttermilch von 41 Frauen untersucht, die Proben stammen aus dem Zeitraum vom 22. April bis 5. Mai.

Nach Meinung des japanischen Gesundheitsministeriums sind Babys derzeit keinen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Zuvor waren bereits Spinat und Milch aus der Umgebung der Atomruine in Fukushima radioaktiv kontaminiert worden. Auch im Trinkwasser der etwa 240 Kilometer entfernten Millionenstadt Tokio tauchte radioaktives Jod auf.

Völlig unklar ist auch, wie viel und welche Strahlungen bislang am AKW freigesetzt wurden. Zwar drangen bereits in Reaktor 2 ferngesteuerte Roboter ein. Allerdings sollen nach Tepco-Angaben wegen der "hohen Luftfeuchtigkeit ihre Linsen beschlagen sein", so dass die Radioaktivität nicht habe gemessen werden können.

"Entschädigung nur ein Almosen"

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Für Japan noch recht ungewöhnlich sind Anti-AKW-Proteste mit tausenden Teilnehmern.

(Foto: REUTERS)

Auch wenn mehr als zwei Monate nach dem Unglück das mediale Interesse nachlässt, blicken die betroffenen Bewohner in den Region rund um Fukushima auf jede Nachricht aus dem Krisenstab. Sie warten meist in zu Notunterkünften umgebauten Schulen auf die Erlaubnis, endlich wieder in ihr Heim einziehen zu dürfen. Viele von ihnen hoffen auf Weihnachten, denn Tepco stellte in Aussicht, die Anlage bis spätestens Januar 2012 im Griff zu haben. Was ihnen die Regierung verschweigt, ist, dass sie möglichweise noch eine sehr lange Zeit warten müssen. Das zeigen die Beispiele Tschernobyl und Harrisburg.

Nach Angaben deutscher Mediziner ist ein Leben rund um Tschernobyl nicht möglich. Wohl aber ein Sterben. Die Aufräumarbeiten dort dauerten viele Jahre. Ganze Dörfer wurden mit Planierrauben zusammengeschoben, plattgemacht und mit Erdreich abgedeckt. In der Folge war das Grundwasser in der Region verseucht. In Harrisburg, USA, dauerte es vom Unglück 1979 bis 1984 ganze fünf Jahre, bis die Arbeiter den Reaktor öffnen und das geschmolzene Plutonium entfernen konnten. Von 1985 bis 1990 wurden 100 Tonnen Brennstoff entfernt, in den folgenden zwei Jahren acht Millionen Liter verseuchtes Kühlwasser dekontaminiert und verdampft. Die gesamten Aufräumarbeiten dauerten mehr als 14 Jahre und verschlangen rund eine Milliarde Dollar.

Als ersten Schritt kündigte Tepco jetzt Entschädigungszahlungen für die Betroffenen an: Pro Familie eine Million Yen. Das sind etwa 8000 Euro. Ein-Personenhaushalte bekommen 750.000 Yen. Die Menschen, die in der 30-Kilometer-Zone alles verloren haben, sind entrüstet. Viele haben keine Arbeit mehr, Rücklagen haben die wenigsten, ihr gesamtes Hab und Gut ist vernichtet. Die Entschädigung durch Tepco betrachten sie als Almosen.

Um Tepco vor dem finanziellen Ruin zu bewahren, stützt Japan den Konzern mit umgerechnet 43 Milliarden Euro.

Quelle: ntv.de

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