Grenzen, Respekt und Authentizität Juul zeigt Eltern den Leitwolfmodus
08.02.2016, 09:38 Uhr
Wolfseltern führen das Rudel gemeinsam und lassen dem Nachwuchs Raum zum Selbständigwerden.
(Foto: imago stock&people)
In seinem neuen Buch fordert der dänische Familientherapeut Jesper Juul Eltern auf, die Leitwölfe ihres Familienrudels zu sein. Denn ohne liebevolle Führung nehmen Kinder Schaden.
Es ist ein Fall, wie ihn unzählige Familien kennen: Immer wieder kommt die Dreijährige abends aus dem Kinderzimmer. Eigentlich soll sie schlafen, die Eltern wollen wenigstens noch ein bisschen Zeit für sich. Aber das Kind schläft nicht, und Mutter und Vater kommen nicht zur Ruhe. In ihrer Verzweiflung wendet sich die Mutter an Jesper Juul. Der dänische Familientherapeut soll sagen, wie sie sich bei der Tochter durchsetzen kann, ohne sie zurückzuweisen.
Der Fall hat es in Juuls neues Buch "Leitwölfe sein" geschafft, weil er das Dilemma vieler Eltern beschreibt. Inzwischen ist normal, was Juul einst als "Gleichwürdigkeit" in den Erziehungssprachgebrauch einbrachte. Jedes Familienmitglied mit seinen Bedürfnissen, Wünschen, Träumen und Ambitionen ist gleichermaßen wichtig. Nach Jahrhunderten, in denen Kinder im Zweifelsfall übergangen wurden, liegen die Probleme inzwischen anderswo.
Familien ringen um einen demokratischen und respektvollen Umgang miteinander und stoßen dabei immer wieder an Grenzen, ob nun beim Essen, beim Schlafen, beim Anziehen oder beim Medienkonsum. Die Rede ist von "kleinen Tyrannen", denen alles recht gemacht wird, und von Eltern, die sich in der Kinderversorgung beinahe aufzulösen erscheinen und darüber verzweifeln.
Worum geht es eigentlich?
Juul wünscht sich Eltern, die persönliche Autorität haben, Führung übernehmen und dabei auch ihre eigenen Grenzen im Blick behalten. So wie es Leitwölfe in einem Rudel tun. "Eltern üben Führung genauso aus wie Macht, ob sie wollen oder nicht", sagt Juul n-tv.de. Kinder fordern ihre Eltern permanent heraus, gerade weil sie ihren Müttern und Vätern so wichtig sind. "Sie treffen unsere empfindlichsten Punkte und hinterfragen ständig unsere Grenzen und Überzeugungen." Das machen sie nicht, um die Eltern zur Weißglut zu bringen, sondern um sie zu verstehen. "Sie wollen etwas über uns wissen, denn dann fühlen sie sich sicher und geliebt", ist Juul überzeugt.
Wenn man die Kämpfe um geputzte Zähne und runtergebrachten Müll aus diesem Blickwinkel anschaut, sieht der Mann, der sich selbst nur ungern als Erziehungsexperte bezeichnet, eine riesige Chance für Eltern. Denn dann könne man sich auch selbst fragen, warum man bestimmte Dinge von den Kindern verlangt. Ist es, weil man die Macht dazu hat, oder geht es um bestimmte Werte, für die man bereit ist zu kämpfen? Die Gesundheit der Kinder beispielsweise oder die gemeinsame Verantwortung für ein schönes und sauberes Zuhause. Wer sich solche Fragen nachvollziehbar für den eigenen Nachwuchs stellt, wird authentischer, ist Juul sicher. Und wer authentischer ist, wird überzeugender.
Juul glaubt, dass die Anstrengungen, die Eltern heute unternehmen, der Preis der Freiheit sind. Wem nichts vorgekaut oder vorgeschrieben wird, der muss sich immer wieder neu entscheiden. Nicht nur für die Farbe seiner Socken oder die Müslisorte. Aber auch schon dafür. Das sei anstrengend, aber auch sehr gesund, meint Juul. Denn so werde man junge Erwachsene erleben, "die um ein Vielfaches kompetenter sind als die allermeisten Erwachsenen heute".
Wünsche sind nicht Bedürfnisse
Ohne die Führung der Eltern gehe es trotzdem nicht, weil Kinder zwar oft wissen, was sie wollen, aber nicht unbedingt, was sie brauchen. Dafür haben sie Eltern mit Erfahrungen, die wissen, dass bei Regen Gummistiefel eine gute Variante sind. Oder dass Drogenkonsum erhebliche Gefahren birgt. "Die beste Form der Kindererziehung ist der fortwährende Dialog, in dem sich beide Seiten besser kennenlernen und in dem sich Kinder die Erfahrungen und die Weisheit ihrer Eltern freiwillig zunutze machen können. Es ist eine Einladung, die auf eindeutigen Beweisen und Erfahrungen beruht."
Im Idealfall stehen sich ein kleiner und ein großer Mensch mit einem gesunden Selbstwertgefühl gegenüber. Jeder sieht den anderen, wie er wirklich ist, respektvoll, aber ohne das zu bewerten. Deshalb sei es auch gar nicht so wichtig, perfekt zu sein. "Unsere Kinder brauchen keine Perfektion, sie müssen nur fühlen, dass wir ernsthaft nach uns selbst suchen und nicht nur nach einfachen oder fertigen Lösungen."
Der Mutter der schlafunwilligen Dreijährigen riet er übrigens, sie solle für sich klären, ob ihr die Erwachsenenzeit wirklich wichtig sei. Wenn ja, solle sie ihrer Tochter sagen: "Ich will nicht mit dir spielen, ich will nicht mit dir lesen. Ich will meine Ruhe haben. Geh in dein Zimmer." Immer wenn er so etwas sage, fragten die Eltern: "Aber fühlt das arme Kind sich dann nicht abgelehnt?", schreibt Juul. Seine Antwort laute: "Ja, hoffentlich. Darum geht es ja."
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Quelle: ntv.de