Nach einem russischen Drohnenangriff im Sommer 2025 auf die ukrainische Hafenstadt Odessa sind Wohnhäuser zerstört. Seit mehr als drei Jahren leben die Menschen mit dem Krieg.
(Foto: picture alliance / abaca | Lyashonok Nina/Ukrinform/ABACA)
Diese Woche keine Kolumne im üblichen Sinn, an diesem Sonntag möchte ich Ihnen etwas zumuten. Sie schaffen das. Sie holen sich einen Kaffee, setzen sich gemütlich aufs Sofa, schauen aus dem Fenster und sehen den restlichen Herbstblättern beim Fallen zu.
Am Ende des Textes werden Sie froh sein, dort zu leben, wo Sie gerade leben, ein festes Dach über dem Kopf und einen Job zu haben, die Kinder gehen nach den Ferien wieder in die Schule, alles wie immer. Nichts ist wie immer in der Ukraine. Seit über drei Jahren. Und das sollten wir Menschen, die sich nun, da Halloween endlich vorbei ist, langsam, aber sicher auf Weihnachten vorbereiten, immer wieder bewusst machen. Von meinem Freund Andreas Toelke haben Sie hier schon gelegentlich gelesen. Heute möchte ich Ihnen erzählen, was er mir neulich aus Odessa geschrieben hat:
Julia
Julia sieht top aus und moderiert souverän eine Veranstaltung im Innenhof vom "Union", ein Palast im Herzen Odessas. Es geht um irgendwelche Kosmetikprodukte. Oder Styling. Mein Ukrainisch reicht auf keinen Fall aus, um zu verstehen, in welche Untiefen von Ästhetik sie gerade abtaucht. Julia ist irgendwann mal nach Los Angeles gezogen, ohne ein Wort Englisch zu können, hat dort mit ihrer geballten Energie einen Freundeskreis aufgebaut, um festzustellen: Eigentlich gehöre ich nach Odessa. Also hat sie die Zelte wieder abgebrochen, kehrte zurück in die Heimat - und damit in den Krieg.
Aljona
Aljona lebte mit ihrem Mann im Donbass, hatte dort eine Immobilienfirma und repräsentierte die ukrainische Mittelschicht: eine Tochter, ein Haus - all das, was man auch in Deutschland so kennt. 2014 dann das von Russland initiierte Gemetzel, und 2022 die Konsequenz: ab nach Odessa. Hier folgte erst einmal ihr persönlicher Absturz - Depressionen, Perspektivlosigkeit. Aljona und ihr Mann haben die russische Aggression jedoch nicht hingenommen, die Ärmel hochgekrempelt, eine Hilfsorganisation gegründet und ganz nebenbei auch wieder ökonomisch Fuß gefasst. Nicht so erfolgreich wie in ihrer Heimat, aber immerhin so, dass ein Leben möglich ist. Die wunderschöne Tochter ging nach Paris und startete eine Karriere als Model.
Es sind Stellvertreterinnen - Frauen, gebildet, wortreich, energetisch. Aktuell sind es die Frauen in der Ukraine, die, lapidar ausgedrückt, den Laden am Laufen halten. Auch Aljonas Mann ist mittlerweile bei der Armee. Was das bedeutet, liegt auf der Hand: Angst. Jeden Tag. Völlig egal, wie oft und weshalb angegriffen wird, wie nah die Bomben einschlagen und wie laut die Drohnen über das eigene Dach fliegen - der Mann an der Front begleitet jeden Tag, übermächtiger als alles, was Aljona selbst passiert oder passieren könnte.
Julia hat einen Partner, der in Odessa ist - der dort auch bleiben wird. Sie hat also "nur" mit den Angriffen auf die Stadt zu tun. Als wäre das nicht genug, fahren die beiden Frauen mit weiteren Freiwilligen einmal in der Woche an die Front, um dort Lebensmittel, Hygieneprodukte und vieles mehr auszuliefern - Alltagsgegenstände, die in bestimmten Gebieten der Ukraine nicht erreichbar oder unerschwinglich sind.
Unsicherheit
Ganz kurz zum Sozialsystem: Flüchtet man innerhalb der Ukraine, bekommt man für drei Monate pro Person 50 Euro, danach muss man selbst sehen, wie man klarkommt. Das bremst sehr, sehr viele Menschen, sich aus den Frontgebieten zurückzuziehen - in halbwegs sichere (so zumindest die subjektive Wahrnehmung) Gebiete innerhalb der Ukraine. Zu Ihrer Information: Es gibt keinen Ort in der Ukraine, an dem man wirklich sicher ist!
Bei ihren Versorgungsfahrten in Frontgebiete bringen Aljona und Julia jedoch nicht nur Hilfsgüter. Sie bringen auch ein Gefühl mit: das Gefühl für die Menschen, die dortgeblieben sind: "Wir sind nicht allein." Ihr Job ist auch, Zuversicht zu verbreiten. Zuversicht, die sie aus irgendeiner Ecke ihres Gehirns heraufbeschwören müssen, um die Einsätze mental zu überstehen und das zu vermitteln, was genauso nötig ist wie eine Packung Tampons oder Zigaretten.
Mein Freund kennt die beiden seit über drei Jahren, hat zig Fahrten mitgemacht, und zum Teil konnten er und sein Verein "Be an Angel" mit Hilfsgütern, Logistik oder Kosten für Benzin und so weiter unterstützen. Er schreibt weiter: Jede Fahrt beginnt mit einer greifbaren Anspannung - jeder und jede wusste: Wir begeben uns jetzt wissentlich in absolute Lebensgefahr. Helme und kugelsichere Westen gehören zur Standardausrüstung - bei einem Raketen- oder Drohneneinschlag sind diese Hilfsmittel nichts anderes als Accessoires.
Drei Jahre Kraft
Warum er das macht? Andere Ukrainer fahren mit ihren SUVs den Ku’damm rauf und runter oder baden in St. Tropez, sage ich ihm. Seine Freunde sorgen sich um ihn. Aber ich habe aufgehört zu fragen, es nutzt nichts. Er kann nicht anders. Er muss das tun. Danke übrigens.
Er schreibt weiter: Die Fahrten beginnen in der Regel zwischen vier und fünf Uhr morgens mit dem Beladen der drei Minibusse, und je näher man an die Front kommt, desto stiller wird es unter den Reisenden. Vor Ort sieht man zwei Frauen, die keine Sekunde an sich selbst denken, sondern sich darauf konzentrieren, die Hilfsgüter auszugeben, mit den Menschen ein kurzes Schwätzchen zu halten und sich anzuhören, wie deren Leben aussieht. Nebenher dokumentieren sie sehr präzise die Ausgaben der Spenden: Jede Person wird mit Identifikationsdokument eingecheckt, muss gegenzeichnen, was ausgegeben wurde - oft sind es die Bürgermeister von Dörfern, die im Vorfeld einen Teil dieser Arbeit schon erledigt haben. Als Übersicht über die drei vergangenen Jahre - über drei Jahre ungebrochene Kraft, sich gegen das Grauen zu stellen.
Und jetzt? Völlig unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit hat es sintflutartige Regenfälle in Odessa gegeben. Die Stadt am Meer erlebt eine weitere Katastrophe im Krieg - als ob der Krieg allein nicht schon eine Katastrophe wäre. Straßen sind eingebrochen, Erdgeschosswohnungen und Läden zerstört. Die durch den Krieg ohnehin überlasteten Feuerwehren sind nicht in der Lage, der Katastrophe Herr zu werden.
Die Basis ist weg
Die Katastrophe für die beiden Frauen manifestiert sich in ihrem Warenlager - ungefähr 800 Quadratmeter Fläche in einem eher abrissreifen Gebäude, das vom Team so renoviert wurde, dass die Waren sicher, trocken und übersichtlich untergebracht werden konnten. Drei Tage war es unmöglich, sich durch die überfluteten Straßen dem Lager zu nähern. Dann endlich der erste Besuch - das Lager stand bis zur Decke unter Wasser. Alles ist schlammig, nass, stinkend. Nichts von den Hilfsgütern kann gereinigt oder benutzt werden. Die Basis für die Aktivitäten der beiden ist einfach mal weg.
Allein das Lager zu renovieren, wird irgendwas um die 8000 Euro verschlingen - alle gelagerten Hilfsgüter müssen entsorgt werden, der Schlamm raus, gestrichen, neue Elektrizität, Sie können es sich vorstellen. Und 8000 Euro sind noch niedrig gegriffen - würde man das Ganze in Deutschland wieder auf die Beine stellen wollen, läge man wahrscheinlich beim Dreifachen. Dazu kommt, dass die Planung über den Haufen geworfen ist - was man wann wohin ausliefern wollte.
Toelke: Allein überhaupt noch Spenden für die Ukraine aufzutreiben, ist schon ein mittelschweres Wunder. Jetzt einen Bestand zu haben, der vernichtet werden muss - Vollkatastrophe. Den größten Teil meiner Zeit seit März 2022 verbringe ich in der Ukraine, mein Standort: Odessa - mittlerweile viel mehr als ein Standort, sondern so etwas wie eine zweite Heimat. Gerade jetzt bin ich nicht vor Ort, hatte aber Julia vor ein paar Tagen das erste Mal am Telefon - und die Frau, die sich normalerweise durch nichts erschüttern lässt, war emotional angesiedelt zwischen Nervenzusammenbruch, Hysterie und Resignation.
Beim ersten Versuch, das Lager zu reinigen, ist Aljona auch noch durch den Fußboden gebrochen, musste sich - schlammverklebt und blutend - auf der Straße quasi entkleiden, hat die Wunden gereinigt (zum Glück ist nichts Schlimmes passiert), um sofort danach weiter aufzuräumen.
Was die beiden Frauen (und Andreas) jetzt brauchen? Dass Sie diesen Text bis zum Ende gelesen haben. Danke. Ihre Empathie, klar. Ihr Verständnis, Ihr Interesse. Wie allein man sich manchmal doch fühlen muss, wenn man im Krieg ist und der Rest der Welt in den Sommerferien. Oder auf einer Party. Oder im eigenen Wohnzimmer eben. Mit dem zweiten Kaffee in der Hand. Was die beiden Frauen jetzt wirklich brauchen? In aller Offenheit? Geld. Und ein Ende des Krieges.
Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Sonntag, das meine ich ernst. Nutzen Sie ihn gut.
Quelle: ntv.de
