Ungenauer "Leitindikator" Wie hoch ist die Hospitalisierungsinzidenz wirklich?
20.10.2021, 16:44 Uhr
Eine Entspannung auf den Stationen ist laut Intensivmedizinern bisher nicht in Sicht.
(Foto: picture alliance/dpa)
Die deutsche Corona-Politik blickt derzeit stärker auf die Zahl der Covid-19-Patienten als auf die Zahl der Infektionen. Doch der politisch gewollte "Leitindikator" ist mangelhaft und irreführend. Es braucht weitere Daten als Interpretationshilfe.
Seit der Einführung der Hospitalisierungsinzidenz als neuem "Leitindikator" gleicht die deutsche Corona-Politik wieder mehr einem föderalen Flickenteppich als einem effektiven Bollwerk gegen das Virus. Denn einheitliche Grenzwerte sind in der Pandemie-Abwehr nicht mehr vorgesehen. Stattdessen stützen die Bundesländer ihre Corona-Strategie teils auf mehrstufige "Frühwarn"- oder Ampelsysteme - also eine Kombination aus verschiedenen Kennzahlen mit unterschiedlich hoch angesetzten Schwellenwerten.
Die Hospitalisierungsinzidenz soll dabei als "wesentlicher Maßstab für die weitergehenden Schutzmaßnahmen" dienen. So hatte es die Bundesregierung im Juli durchgesetzt, die Länder stimmten der umstrittenen Abkehr von der Sieben-Tage-Inzidenz damals zu. Die neue Kennziffer zur Hospitalisierung soll angeben, wie viele Covid-19-Patienten im Verhältnis zur Bevölkerung in den letzten sieben Tagen ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Die Hospitalisierungsinzidenz soll anzeigen, wo regional Überlastungen im deutschen Gesundheitssystem drohen.
Je schlimmer die Lage, desto unzuverlässiger der Indikator
Das Problem: Der neue Leitindikator kann das in der vorliegenden Form gar nicht leisten. Die Fallmeldungen, die als Berechnungsgrundlage dienen, kommen viel zu langsam beim RKI an. Der Meldeverzug ist so erheblich, dass die täglich veröffentlichten Werte systematisch viel zu niedrig ausfallen. Die Hospitalisierungsinzidenz neigt also in der Praxis dazu, den Ernst der Lage dramatisch zu unterschätzen.
Die tagesaktuell berichteten Inzidenzwerte liegen in der Regel viel zu niedrig und weit unter den im Nachhinein korrigierten Angaben. Wie viele nachträgliche Meldungen im Nachhinein ergänzt werden müssen, variiert dabei aber stark: Je mehr Covid-Patienten ins Krankenhaus eingeliefert werden, desto größer fallen die Verzerrungen aus. Ausgerechnet in Belastungsphasen weist der neue Leitwert der deutschen Pandemie-Politik extreme Ungenauigkeiten aus. Als Hilfsmittel zur Orientierung ist die Hospitalisierungsinzidenz damit denkbar ungeeignet.
Korrekturhinweise aus dem RKI
Erst nach Wochen zeichnen die Meldedaten zur Krankenhausauslastung das volle Bild. Das Robert-Koch-Institut (RKI) versucht deshalb, die Schwächen der Statistik neuerdings durch eigene Berechnungen auszugleichen. Im RKI-Wochenbericht vom 14. Oktober veröffentlichte die Behörde erstmals ein sogenanntes Nowcasting zur bundesweiten Hospitalisierungsinzidenz. Dabei wird die Zahl der zu erwartenden Nachmeldungen für die jeweils letzten 40 Meldetage anhand von statistischen Verfahren geschätzt. Heraus kommt eine Kurve, die sich vor allem in den letzten beiden Berichtswochen von den gemeldeten Werten zunehmend zu entkoppeln scheint.
Damit gleicht das RKI-Nowcasting einen schweren Konzeptionsfehler aus: Die jeweils aktuellsten Hospitalisierungsinzidenzen unterschätzen die Lage tendenziell am stärksten. Um sagen zu können, welche Rolle die Covid-Belastung in den deutschen Krankenhäusern aktuell spielt, fehlen dem RKI schlicht die Daten. Von manchen Einweisungen erfährt es erst nach Wochen. Die nur nach und nach eintreffenden Meldungen sorgen aber dafür, dass die frisch gemeldeten Werte meist niedriger liegen als die bereits mit Nachmeldungen versehenen aus den Vorwochen.
Bei konstanter Corona-Lage scheint die Hospitalisierungsinzidenz deshalb dauerhaft zu sinken. Zumindest auf Bundesebene soll die per Nowcasting adjustierte Hospitalisierungsinzidenz dem künftig entgegenwirken. Das aufwändige statistische Schätzverfahren soll die tatsächliche Größenordnung der Krankenhausaufnahmen sowie aktuelle Trends sichtbar machen.
Das reicht aber kaum aus, um Politik und Öffentlichkeit eine brauchbare Lagebeurteilung zu ermöglichen: Anders als die täglich aktualisierten Angaben zur Hospitalisierungsinzidenz auf Bundes- und Länderebene, wie sie im Covid-19-Trend-Dashboard des RKI veröffentlicht werden, soll das Nowcasting vorerst nur im Wochenrhythmus erscheinen - und dort auch nur in Form einer bundesweiten Trend-Aussage.
Die Corona-Politik der Länder orientiert sich dagegen weiterhin an den unkorrigierten Werten auf Regionalebene. Zum Teil berechnen die Länder dabei ihre eigene Hospitalisierungsinzidenz, die von den Angaben des RKI abweicht.
Näher dran: Hospitalisierungsinzidenz bei ntv.de mit Schätzwerten
Um trotzdem einen Überblick über die aktuelle Situation in den einzelnen Bundesländern bieten zu können, stellt ntv.de ab sofort die Hospitalisierungsinzidenz auf Länderebene jeweils mit zwei Linienverläufen dar: Die dunkelrote Linie bildet die jeweils tagesaktuell berichteten Werte des RKI ab. Die hellrote Linie zeigt die Entwicklung der Hospitalisierungsinzidenz mit den nachträglich korrigierten Werten, inklusive aller bis dahin vorliegenden Nachmeldungen. Da für den jeweils letzten Meldetag noch keine Nachmeldungen eingegangen sind, laufen die Linien am Ende stets zusammen.
Über das Dropdown-Menü lassen sich die die Angaben zur bundesweiten Hospitalisierungsinzidenz, aber auch für jedes einzelne Bundesland aufrufen. Die Infografik vermittelt einen Eindruck davon, wie stark die berichtete Krankenhausauslastung jeweils nach oben korrigiert werden muss.
Der Blick auf die Daten zeigt: Die Verzerrungen durch Nachmeldungen sind enorm. Erkennbar wird aber auch, wie stark sich die Verzerrungen regional unterscheiden. Liegt die untere, dunkelrote Linie an einem bestimmten Tag innerhalb der grauen Fläche (= bislang aufgelaufene Korrekturen), bedeutet das: Der ursprünglich gemeldete Wert hat sich inzwischen mehr als verdoppelt. Deutlich wird dabei: Auffällig hohe Korrekturen gab es seit Mitte Juli vor allem in Hamburg, wo sich der zunächst vermeldete Wert später teilweise noch um mehr als das Vierfache erhöhte.
Zusätzlich berechnet ntv.de für jedes Bundesland eine ntv-Schätzung der aktuellen Sieben-Tage-Hospitalisierungsinzidenz unter Berücksichtigung der zu erwartenden Nachmeldungen für den jeweiligen Meldetag. Konkret geschieht dabei folgendes: Auf Grundlage der täglich aktualisierten RKI-Daten wird für die vergangenen 28 Tage jeweils die prozentuale Abweichung des korrigierten Werts vom ursprünglich gemeldeten Tageswert berechnet. Aus diesen Differenzen wird dann ein Mittelwert gebildet. Diese Prozentzahl gibt einen Hinweis darauf, um wie viel die aktuelle Hospitalisierungsinzidenz durch Nachmeldungen ansteigen dürfte. Auf der Basis dieser Erfahrungswerte lässt sich dann eine ungefähre Schätzung abgeben, wie hoch der aktuelle Wert für die Hospitalisierungsinzidenz tatsächlich angesetzt werden müsste.
Im Vergleich zum Nowcasting des RKI handelt es sich bei der ntv-Schätzung um eine stark vereinfachte Berechnung. Die ergänzten Angaben zur Hospitalisierungsinzidenz setzen die offizielle, mit Mängeln behaftete Statistik in einen Kontext und geben eine Vorstellung davon, wie hoch zukünftige Korrekturen ausfallen können. Beide Infografiken werden künftig auch täglich aktualisiert im ntv.de-Überblicksartikel "Alle Daten, alle Fakten zum Coronavirus" zu sehen sein.
Nach zwei Wochen fallen Tageswerte doppelt so hoch aus
Eine dritte ntv.de Infografik zur Hospitalisierungsinzidenz vergleicht die oben angesprochenen Abweichungen zwischen ursprünglich gemeldeten und nachträglich korrigierten Werten. Sie tut das für die einzelnen Bundesländer am Beispiel eines Wertes, der zwei Wochen zurückliegt - und für den ein Großteil der Nachmeldungen bereits eingegangen sein dürfte. Dabei offenbaren sich zum Teil Korrekturen um mehr als das Doppelte.
Die von ntv.de berechneten Schätzwerte lagen nach Abgleich mit den Bestandsdaten bisher sehr viel näher an der Realität als die tagesaktuell veröffentlichten Meldedaten. Die mit Hilfe der Schätzwerte ergänzte Hospitalisierungsinzidenz deutet an, wie stark die Bundesländer mit dem bisher verwendeten Pandemie-Maßstab daneben liegen.
Wie hoch die Hospitalisierungsinzidenz zu einem bestimmten Zeitpunkt wirklich war, lässt sich den amtlichen Datensätzen erst mit einigen Wochen Verzögerung entnehmen. Für einen Warnindikator ist das ein gravierender Mangel: Die Daten inklusive Nachmeldungen belegen, dass einzelne Bundesländer zeitweise selbst großzügig bemessene Warnstufen gerissen hätten.
Angesichts der politischen Bedeutung des Indikators scheint es geboten, die Covid-Situation in den deutschen Krankenhäusern trotz der problematischen Datenlage so genau wie möglich zu beschreiben und einzuordnen. Die gesetzlich verankerten Pflichtmeldungen der Länder haben jedenfalls nur geringe Aussagekraft.
Aktuelle Hospitalisierungsinzidenz beschönigt die Lage
Das RKI sieht das offenbar ähnlich - und hat mit den Nowcasting-Angaben zur bundesweiten Hospitalisierungsinzidenz eine erste Korrektur vorgelegt. Auf Länderebene sind solche Prognosemodelle jedoch von Seiten der Bundesbehörde nicht vorgesehen - ein Zugeständnis an die Landesregierungen, die offenbar fürchten, sich durch die Veröffentlichung eines Schätzwertes angreifbar zu machen. Als Entscheidungsgrundlage käme das Nowcasting schon allein aus juristischen Gründen nicht in Frage, heißt es.
Die Hospitalisierungsinzidenz wurde zum neuen Leitindikator erklärt, weil sie in Zeiten der steigenden Impfquoten vermeintlich mehr Aussagekraft besitzt als die Zahl der Infektionen. Allerdings hat man sich dabei im Vorfeld offenbar zu wenig Gedanken darüber gemacht, wie die Kennzahl zur Krankenhausauslastung zustande kommt und was die Umsetzung der politischen Vorgabe in der Praxis bedeutet. Übersehen wurden vor allem die Tücken des Meldesystems.
In die Hospitalisierungsinzidenz sollen eigentlich nur Fälle einfließen, die "wegen Corona" ins Krankenhaus eingeliefert werden - nicht "mit Corona". Wer also wegen eines Unfalls aufgenommen und bei der Routineprobe positiv getestet wird, sollte nicht in der Statistik auftauchen. Das RKI räumt jedoch ein, dass es im Einzelfall nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Krankenhäuser auch Fälle an das Gesundheitsamt übermitteln, in denen die Erkrankung erst bei oder nach der Aufnahme festgestellt wurde und die Infektion nicht ursächlich für die Krankenhauseinweisung war.
Krankenhäuser faxen Fallmeldungen an die Gesundheitsämter
Auf dem langen Meldeweg zwischen Krankenhaus, Gesundheitsamt und RKI gehen offenbar zahlreiche Informationen verloren. Für weniger als 80 Prozent der hospitalisierten Fälle ist dem RKI ein Hospitalisierungsdatum bekannt. Umgekehrt gibt es aber für alle hospitalisierten Fälle ein Meldedatum, das angibt, wann das Gesundheitsamt Kenntnis von dem Fall erlangt hat - unabhängig vom Zeitpunkt der Diagnose.
Deshalb ist für die Hospitalisierungsinzidenz auch das Meldedatum der Infektion ausschlaggebend, nicht das Datum der Krankenhausaufnahme. An der Erfassung hatte es zunächst viel Kritik gegeben. Das RKI räumt ein, dass es sich gewissermaßen um eine Notlösung handelt: Weil die Krankenhäuser nicht direkt an das Meldesystem angeschlossen sind, müssen die Daten einen Umweg über die Gesundheitsämter nehmen - natürlich per Fax. Bei einem hohen Fallaufkommen ist der Papierstau in den Gesundheitsämtern nahezu vorprogrammiert.
Länder nehmen die dritte Welle als Referenzwert
Die lückenhaft erfassten und veröffentlichten Krankenhausdaten könnten die Politik dazu verleiten, viel zu spät ins Infektionsgeschehen einzugreifen, fürchten Experten. Erste Anzeichen dafür gibt es schon: Die Grenz- und Schwellenwerte der Länder bei der Hospitalisierungsinzidenz etwa liegen weit über dem, was das RKI in seiner Control-Covid-Strategie vorschlägt.
Die Bandbreite der auf Länderebene festgesetzten "Warnschwellen" reicht von 4 bis 15 neu hospitalisierten Fällen innerhalb von sieben Tagen je 100.000 Einwohner. Die Schwellen scheinen sich damit teilweise an den Spitzenwerten der dritten Welle zu orientieren. Der Winter 2020/2021 muss somit offiziell als Referenz dafür herhalten, was in Deutschland als "verkraftbar" angesehen wird.
In der Praxis dürften die höchsten Eskalationsstufen allein schon aufgrund des Meldeverzugs in den tagesaktuellen Berichten kaum erreicht werden. Anders gesagt: Bevor sich der Zusammenbruch im "Leitindikator" abzeichnen kann, wäre er für Ärzte und Pflegekräfte womöglich bereits massiv zu spüren. Kurz: Deutschland arbeitet in der Pandemie-Abwehr mit einer "Corona-Ampel", die bei der Hospitalisierung formal immer noch auf "grün" stehen kann, obwohl an der Covid-Front längst schon Alarmstufe Rot gilt.
Quelle: ntv.de