Mangelhafte EU-Analyse 96 Forscher kritisieren Glyphosat-Bewertung
30.11.2015, 17:20 Uhr
Für die Hersteller geht es um Milliardenumsätze: Die Zulassung des Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat in der EU läuft nächsten Sommer aus.
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"Wahrscheinlich nicht krebserregend", lautet die EU-Bewertung für Glyphosat. Die Zulassung des auch hierzulande großflächig eingesetzten Pestizids läuft ab und soll erneuert werden. Renommierte Forscher üben offen Kritik. Der Streit spitzt sich zu.
Im Streit um das auch in Deutschland viel verwendete Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat haben 96 Wissenschaftler aus aller Welt den europäischen Behörden gravierende Mängel vorgeworfen. In einem offenen Brief an EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis kritisieren sie, dass die EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa) den Stoff kürzlich als "wahrscheinlich nicht krebserregend" eingestuft hat. Auch gegen das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) erhoben die Wissenschaftler schwere Vorwürfe.
In dem Schreiben fordern die Wissenschaftler die EU-Kommission auf, bei ihren Entscheidungen "die fehlerhafte Bewertung der Efsa nicht zu beachten". Die Analyse des BfR sowie die darauf aufbauende Bewertung der Efsa enthalte schwerwiegende Mängel, schreiben die Forscher in dem Brief. Sie sei in Teilen "wissenschaftlich inakzeptabel", ihre Sprache "irreführend". Außerdem seien die Ergebnisse "durch die vorliegenden Daten nicht gedeckt" und "nicht auf offene und transparente Weise erzielt worden".
WHO: "Wahrscheinlich krebserregend für Menschen"

Glyphosat steht in Verdacht, Krebs zu erregen. Der Nachweis des Stoffes in Muttermilch heizte die Diskussion in der Vergangenheit zusätzlich an.
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Hingegen hatte die zur Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehörende Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) den Wirkstoff im Frühjahr als "wahrscheinlich krebserregend für Menschen" bewertet. Diese Analyse sei "mit Abstand die glaubwürdigere", unabhängig und transparent, heißt es in dem Brief.
Die Risiken des weltweit am meisten verkauften Pestizids sind schon seit langem umstritten. Umweltschützer halten den Stoff für hochgiftig und fordern seit Jahren ein Verbot von Glyphosat.
Die Zulassung des Unkrautvernichtungsmittels in der Europäischen Union läuft nächsten Sommer aus, für die Hersteller geht es um Milliardenumsätze. Für eine neue Genehmigung müssen die Risiken des Unkrautvernichters neu bewertet werden. Ob das Mittel weiter eingesetzt werden kann, entscheidet die EU-Kommission, die sich dabei auf das Urteil der Efsa und des BfR stützt.
Wissenschaftliche Standards missachtet
Koordinator des offenen Briefes ist der Krebsforscher Christopher Portier, ehemaliger Direktor des US National Toxicology Program, einer wichtigen Einrichtung der US-Regierung zur Chemikalien-Prüfung. Er begründet sein Engagement damit, dass der wissenschaftlichen Risikobewertung ein "schlechter Dienst" erwiesen werde, "wenn sorgfältig entwickelte Methoden zur Analyse und Interpretation von Informationen zugunsten spontaner Herangehensweisen beiseite gelegt werden, die entweder falsch sind, oder für eine genaue Untersuchung durch eine breitere wissenschaftliche Gemeinschaft nicht zugänglich sind".
Unter den 96 Unterzeichnern sind anerkannte Wissenschaftler, die für international renommierte Institute arbeiten, etwa die Deutsche Forschungsgesellschaft oder das Krebsforschungszentrum Heidelberg sowie Universitäten in den USA, Australien oder Japan. Die Forscher weisen allerdings ausdrücklich darauf hin, dass sie für sich selbst sprechen, nicht für ihre Institutionen.
Der Grünen-Politiker Harald Ebner sprach von einem "ungewöhnlichen und starken Signal aus der Wissenschaft". Nur allzu oft werde den Kritikern des Pflanzengifts mangelnde "Wissenschaftlichkeit" unterstellt. Der offene Brief zeige nun, dass genau das Gegenteil der Fall sei. "Die Prüfbehörden ignorieren munter wissenschaftliche Standards und verweigern jede Transparenz, um zum gewünschten Glyphosat-Freispruch zu kommen", erklärte Ebner in Berlin. Die Bundesregierung müsse sich dafür einsetzen, dass die Empfehlung der Efsa zurückgewiesen und neu aufgerollt werde, forderte er.
Quelle: ntv.de, Christine Kellmann, AFP