"Ein Meer von Blut im Sand versickert" Als die Auschwitz-Mörder vor Gericht standen
20.12.2013, 10:22 Uhr
SS-Oberscharführer Boger galt als "Bestie von Auschwitz". Wahllos erschoss er Häftlinge oder folterte diese mit der "Boger-Schaukel", bei der sie kopfüber an einer Stange aufgehängt wurden.
Die Stimmung im Frankfurter Gerichtssaal ist bedrückend. Hunderte Holocaust-Überlebende stehen beim ersten Auschwitz-Prozess, der vor 50 Jahren begann, ihren einstigen Peinigern von der SS gegenüber. Und sie fassen in Worte, was kaum fassbar ist: den Völkermord im größten Vernichtungslager der Nazis.
Es sind Szenen des Grauens, die im Frankfurter Gerichtssaal in den 60er Jahren wieder auferstehen: "Auf der Rampe war großer Betrieb", berichtet der Arzt und Auschwitz-Überlebende Otto Wolken im Februar 1964. "Es wurden Tausende und Abertausende Menschen täglich vergast. Die Krematorien reichten nicht mehr aus, das anfallende Leichenmaterial aufzuarbeiten. Es wurden riesige Gräben gegraben, und zusätzlich zu der Arbeit im Krematorium wurden noch Tausende Leichen in offener Grube verbrannt. Tag und Nacht loderte das Feuer, nachts war der Himmel weithin blutrot gefärbt."
Otto Wolken ist einer von 211 Überlebenden, die im ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt aussagen. Es ist ein Mammut-Prozess, der größte Strafprozess der Bundesrepublik: 22 Männer, die in Auschwitz Dienst taten, stehen seit dem 20. Dezember 1963 vor Gericht. Es geht um Völkermord, Folter, individuelle Schuld. Und es geht um das kollektive Versagen der Deutschen, das diese auch rund 20 Jahre nach dem Krieg noch lieber verdrängen.
Der Startschuss zu dem Verfahren kommt von einem fragwürdigen Zeugen: Adolf Rögner, ein ehemaliger Kapo in Auschwitz, der wegen Betrugs gerade selbst im Gefängnis sitzt. In einem Brief an die Staatsanwaltschaft schreibt er im März 1958 von einem gewissen Wilhelm Boger, wohnhaft in Stuttgart, der im KZ Auschwitz schlimmste Verbrechen begangen habe, unter anderem Massenmord, Selektionen, Totschlag, Geständniserpressungen. Zunächst reagieren die Behörden zögerlich, erst nach Monaten wird der ehemalige SS-Hauptsturmführer Boger verhaftet.
Wenig später erhält der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer zudem Dokumente aus Auschwitz. Bauer war als Sohn jüdischer Eltern vor den Nazis geflohen und hatte in den 1950er Jahren die israelische Regierung über das Versteck von Adolf Eichmann, dem Bürokraten des Holocaust, informiert. Nun wird er zur treibenden Kraft des Prozesses. Er setzt sich - im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen - für eine strenge Ahndung der NS-Verbrechen ein und erhofft sich von einem großen Verfahren eine wichtige pädagogische Funktion. Er will den Deutschen einen Spiegel vorhalten und sie endlich dazu bringen, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Hunderte Zeugen befragt
Bauers Aufgabe ist gigantisch. Fast fünf Jahre ermitteln die Behörden gegen Hunderte Verdächtige. Sie durchforsten 16.000 Seiten Akten, Totenbücher, Bestellscheine für Giftgas und Todesspritzen, befragen rund 1300 Zeugen aus aller Welt und spüren ehemalige Täter auf. Nicht jeden können sie fassen und vor Gericht stellen: Der berüchtigte KZ-Arzt Josef Mengele taucht unter und setzt sich nach Brasilien ab, der eigentliche Hauptangeklagte Richard Baer, der letzte Kommandant von Auschwitz, und ein weiterer Angeklagter sterben noch in der Untersuchungshaft. Als schließlich am 20. Dezember im Frankfurter Römer der Prozess als "Strafsache gegen Mulka u.a." eröffnet wird, sitzen 22 Männer auf der Anklagebank, die in Auschwitz meist als kleinere Handlanger der NS-Tötungsmaschinerie ihren Dienst taten: Gestapo-Männer, Blockführer, SS-Ärzte sowie ein Funktionshäftling.
Wie schon beim Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem erstaunt auch in Frankfurt viele Prozessbeobachter die Normalität der Angeklagten. Es sind gewöhnliche Kaufleute, Angestellte oder Krankenpfleger, die nun in Schlips und Anzug vor Gericht erscheinen und mit versteinerten Mienen den Prozess verfolgen. "Sie könnten jedermanns deutscher Onkel sein", schreibt der US-amerikanische Schriftsteller Arthur Miller, der den Prozess beobachtet. "Was jedoch viele Deutsche erschreckt und was sie noch heute den Ausländern rätselhaft erscheinen lässt, ist ihre Tendenz zum moralischen und physischen Zusammenbruch vor einem Befehl von oben."
"Nichts gehört, nichts gemeldet, nichts befohlen"
Tatsächlich zeigen die Angeklagten vor Gericht keine Zeichen der Reue. Stattdessen verweigern sie die Aussage - oder schützen ein erstaunliches Maß an Unwissenheit vor. So erklärt der ehemalige Lageradjudant Robert Mulka: "Ich persönlich habe von Exekutionen im Lager nichts gehört, nichts gemeldet, nichts befohlen. Ich habe Schüsse nie gehört." Von den Gaskammern habe er zwar gehört, aber sie selber nie gesehen.

Rund 1,1 Millionen Menschen wurden in Auschwitz, dem größten NS-Vernichtungslager, umgebracht.
(Foto: picture alliance / dpa)
Nichts gesehen, nichts gehört - dieser Tenor zieht sich durch die Verteidigung aller Angeklagten. Wem doch Totschlag und Misshandlung der KZ-Häftlinge nachgewiesen werden kann, der beruft sich auf "Befehl und Gehorsam". Hätten sie nicht gehorcht, so die Argumentation der Angeklagten, wären sie selber in Auschwitz an die Schwarze Wand gestellt und erschossen worden. Dabei stellen sie sich als willenlose Instrumente des NS-Regimes dar. "Ich hatte keine eigene Meinung", meint etwa der Angeklagte Hans Stark. "Wir alle hatten keine Meinungen. Uns war das Denken abgenommen. Das taten andere für uns. Bei uns wurde zur Kenntnis genommen. Aus. Ohne Kommentar."
Dass es allerdings auch in einem Vernichtungslager individuellen Handlungsspielraum der Wächter gab, zeigt der Auschwitz-Prozess in den kommenden Monaten. Wie die Gutachter feststellen, wurde kein SS-Mann mit dem Tode bestraft, weil er die Vernichtungsbefehle nicht ausgeführt hätte. Die Wärter hatten durchaus die Wahl, das Leiden der Häftlinge zumindest ein wenig zu lindern - oder aber die Rolle als Herr über Leben und Tod in vollen Zügen auszukosten: Mit "Hasenjagden" auf die Häftlinge, mit Vergewaltigungen, mit sadistischen Folter- und Tötungsmethoden.
"Bekomme heute noch Angst"
Für die Zeugen, die Auschwitz überlebt hatten, ist der Prozess extrem belastend. Nicht nur müssen sie miterleben, wie die ehemaligen SS-Männer ihre Hände in Unschuld waschen und vom Gerichtspersonal ehrerbietig gegrüßt werden. Oft genug setzt die Verteidigung die Überlebenden des Vernichtungslager unter Druck und zweifelt ihre Äußerungen an. Der Vorsitzende Richter Hans Hofmeyer und die Verteidigung sind an Fakten und Daten interessiert, an die sich viele nach rund 20 Jahren kaum mehr erinnern können.

Kaduk arbeitete in West-Berlin als Pfleger und hatte dort den Spitznamen "Papa Kaduk". Wegen Mordes wurde er in Frankfurt zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.
(Foto: dpa)
Viele Zeugen werden noch einmal von Angst überwältigt, als sie in Frankfurt ihren einstigen Peinigern gegenüberstehen. "Wenn ich nur den Namen Kaduk höre, bekomme ich heute noch Angst", erinnert sich ein ehemaliger Häftling an den SS-Oberscharführer Oswald Kaduk. "Er war fast immer betrunken, auf der Suche nach Schnaps und schlug, erschlug, erdrosselte und erschoss Häftlinge." Dabei - und das ist besonders schmerzhaft für die Überlebenden, die teilweise erstmals öffentlich über ihre traumatischen Erinnerungen sprechen - gelten nur ganz sachlich auftretende Zeugen als glaubwürdig. Zeigt sich ein Zeuge zu erschüttert, disqualifiziert ihn das in den Augen des Gerichts.
Die Deutschen reagieren ambivalent auf den Prozess. Gerade viele Ältere sprechen von "Nestbeschmutzung", andere bleiben desinteressiert und verfolgen das Verfahren nicht. Die Nazi-Zeit sei für viele "eine peinliche Erinnerung" gewesen, meint der Historiker Devin O. Pendas. "Sie wollten nicht darüber reden. Sie wollten einen Neubeginn machen. Und sie dachten, dass dabei die kritische Auseinandersetzung nicht sehr hilfreich wäre."
Auch die deutsche Justiz macht diese kritische Auseinandersetzung nicht leicht. Viele Juristen hatten schon in der Nazi-Zeit gearbeitet und stehen nun NS-Prozessen skeptisch gegenüber. Das deutsche Strafgesetzbuch stammt noch aus dem Jahr 1871 und kennt nur die Ahndung einzelner Straftaten, nicht aber den Begriff des Völkermordes. Hinzu kommt: Seit 1960 fällt Totschlag unter die Verjährungsfrist. Um einen Angeklagten aber wegen Mordes zu verurteilen, muss ihm nicht nur die Tat, sondern auch die Intention nachgewiesen werden. Doch diese lässt sich im Falle der meisten Angeklagten kaum ermitteln.
"Nicht berufen, die Vergangenheit zu bewältigen"
Das Dilemma der Justiz erklärt auch der Vorsitzende Richter Hans Hofmeyer, als er nach 183 Verhandlungstagen, Hunderten Zeugenaussagen und einer Tatortbesichtigung des Gerichts in Auschwitz am 19. August 1965 mit erstickter Stimme das Urteil verkündet. "Das Schwurgericht war nicht berufen, die Vergangenheit zu bewältigen", so Hofmeyer. Letztlich sei es nur um die strafrechtliche Schuld der Angeklagten gegangen, nicht um ihre moralische oder politische.
Und das Strafrecht zeigt sich milde: Nur sechs Angeklagte büßen für den Massenmord mit lebenslangem Zuchthaus, elf weitere erhalten begrenzte Freiheitsstrafen, drei werden freigesprochen. "Es ist, als ob ein Meer von Blut im Sand versickert", urteilt die französische Zeitung "Le Monde". Bauer, der den Prozess zu einer großen Geschichtsstunde machen wollte, bemerkt ernüchtert: "Die Welt würde aufatmen und die Hinterbliebenen derer, die in Auschwitz gefallen sind, wenn endlich einmal ein menschliches Wort fiele. Es ist nicht gefallen und es wird auch nicht fallen."
Mehr als die Hälfte der Deutschen, so ergibt eine Umfrage, spricht sich 1965 gegen weitere NS-Prozesse aus. Und tatsächlich gibt es in den kommenden Jahren nur noch kleinere Verfahren gegen einzelne Täter. Kaum ein Verurteilter im Auschwitz-Prozess muss die ganze Strafe absitzen, fast alle kommen vorzeitig wieder auf freien Fuß.
Quelle: ntv.de