Politik

Am Montag starten Abschiebungen Die Flüchtlingskrise ist längst nicht gelöst

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Mit den Kräften am Ende und schwindenden Hoffnungen: Flüchtlinge im griechischen Lager von Idomeni.

(Foto: REUTERS)

Der EU-Türkei-Pakt greift ab Montag: Erste Flüchtlinge sollen aus Griechenland in die Türkei abgeschoben, im Gegenzug Syrer in Europa aufgenommen werden. Was aussehen soll wie der Start in neue Zeiten, ist problematischer, als es sich die EU eingestehen will.

Es ist die stets gepriesene europäische Lösung, für die sich Kanzlerin Angela Merkel wochenlang eingesetzt hat: Ab Montag wird es die ersten Umsiedlungen nach dem EU-Türkei-Pakt geben. Die Bundesregierung ist bemüht darum, diesen Tag als Beginn einer Erfolgsgeschichte zu verkaufen. Die Flüchtlingskrise ist, wenn schon nicht gelöst, dann doch zumindest auf einem guten Weg der Lösung. Doch stimmt das? Tatsächlich gibt es noch eine ganze Reihe erheblicher Probleme:

Der Partner: Recep Tayyip Erdogan

Die Lösung baut auf einen Partner, der keinen Spaß versteht. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan verfährt in seiner Heimat nicht eben zimperlich mit Kritikern. Dasselbe erwartet er offenbar von seinen EU-Partnern im Umgang mit Medien und Menschen, die im Ausland ihm nicht genehme Kommentare abgeben.

Die Löschung eines satirischen Beitrags der NDR-Sendung "Extra 3" lehnte die Bundesregierung zwar mehrfach ab. Dafür, dass das ein wirklich zutiefst undemokratisches Ansinnen war, war die Gegenwehr aus Berlin allerdings recht leise. Kanzlerin Angela Merkel äußerte sich dazu persönlich nicht, ließ Außenminister Frank-Walter Steinmeier, einen Regierungssprecher - und natürlich nicht zuletzt Botschafter Martin Erdmann sprechen.

Viele hätten sich von Merkel aber eine deutlichere Abgrenzung gewünscht. Der Eindruck drängt sich auf: Erdogan darf sich so gerieren, weil Europa auf ihn angewiesen ist. Der Pakt mit der Türkei ist ein Pakt mit einem zweifelhaften Partner. Wie weit wird Ankara noch gehen?

Die Menschenrechte: Ist die Türkei sicher?

Viel wichtiger als das, was die Türkei Europa zumutet, ist aber, was Menschen erwartet, die wieder in die Türkei zurückkehren müssen. Das gerne von rechts geäußerte Argument, in der Türkei gehe es Kriegsflüchtlingen immerhin besser als in ihren Heimatländern, ist zynisch. Zumal es erhebliche Kritik an der Menschenrechtslage in der Türkei gibt. Die Türkei akzeptiert die Genfer Flüchtlingskonvention nur mit einer Einschränkung: Sie gilt nur für Menschen, die aus Europa kommen. Syrer oder Afghanen sind nach dieser Logik in der Türkei Flüchtlinge zweiter Klasse.

Amnesty-International-Direktor John Dalhuisen sagt: "Die EU-Staats- und Regierungschefs haben vorsätzlich die grundlegendste Tatsache ignoriert: Die Türkei ist kein sicheres Herkunftsland für syrische Flüchtlinge." Laut Amnesty International schiebt die Türkei täglich bis zu 100 Menschen zurück in das Kriegsland Syrien ab.

Die Umsetzbarkeit: Keiner will zurück

Zu menschenrechtlichen Bedenken kommt ein weiteres Problem hinzu: Genügt die Massenabschiebung rechtsstaatlichen Standards? Die EU als Wertegemeinschaft kann sich kaum über solche Hürden hinwegsetzen, ohne Glaubwürdigkeit einzubüßen. Und tatsächlich gibt es hier erhebliche Zweifel.

Das Internationale Recht verbietet das sogenannte Refoulment, also die Abweisung von Flüchtlingen ohne ein Asylverfahren - inklusive Revisionsmöglichkeiten. Die Europäische Union will das gewährleisten: In den Hotspots in Griechenland sollen alle rechtsstaatlichen Anforderungen erfüllt werden. Doch diese Aufnahmezentren sind noch nicht so weit. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen kritisiert, dass die Kapazitäten zur ordnungsgemäßen Registrierung und Bearbeitung von Asylgesuchen längst nicht ausreichten. Dass es so zu grenzwertigen Verfahren kommt, scheint programmiert.

Und schließlich führt der EU-Türkei-Pakt schon jetzt zu jenen unschönen Bildern, die Europa sich und seinen Bürgern gerne erspart hätte: In den Aufnahmelagern auf Griechenlands Ägäis-Inseln werden hunderte Neuankömmlinge ihrer Perspektivlosigkeit gewahr. In - so beklagen es Menschenrechtsgruppen - gefängnisartigen Unterkünften warten sie auf ihre Abschiebung. Mehrere Hilfsorganisationen weigern sich mittlerweile, Handlanger der Zustände zu sein: Es fehlt an Essen, Platz und Kommunikationsmöglichkeiten.

Fast jeden Tag kommt es zu Ausschreitungen. Und das wird zunehmen, wenn die Abschiebungen erst einmal losgehen. Medien berichten über die Pläne der griechischen Küstenwache und der europäischen Grenzschutzagentur Frontex: Demnach soll jeder abzuschiebende Flüchtling von einem Polizisten begleitet werden.

Das Gegengeschäft: Wer nimmt Flüchtlinge auf?

Der Deal mit der Türkei besagt, dass Europa je zurückgeführtem Flüchtling einen Syrer aufnimmt. Bis zu 72.000 sollen so nach Europa kommen - in der Hoffnung, dass die Zahl der illegalen Überfahrten abnimmt und dieses Kontingent nicht ausgeschöpft wird. Doch wohin mit den Menschen? Noch immer gilt: Die meisten Menschen, die in der Türkei ausharren, wollen nach Deutschland oder nach Schweden.

Die Bundesrepublik hat sich bereit erklärt, in einem ersten Schritt 1600 Menschen zu übernehmen, bei Bedarf steigt der Anteil Deutschlands auf 16.000. Bereits mit der ersten Maschine am Montag kommen 40 Syrer, die im niedersächsischen Aufnahmelager Friedland unterkommen sollen. Doch nach dem Willen von Kanzlerin Merkel und der EU sollen die Menschen auf den ganzen Kontinent verteilt werden. Konkrete Zusagen sind aber rar.

Die Erfahrungen mit den berühmten 160.000 Flüchtlingen, die die EU gemäß einer Vereinbarung aus dem vergangenen Herbst verteilen wollte, machen jedenfalls wenig Mut. Die Zahl der tatsächlich bereits Umverteilten beläuft sich auf eine niedrige vierstellige Zahl. Vor allem osteuropäische EU-Mitglieder lehnen die Aufnahme von Flüchtlingen ab.

Eine europäische Asylpolitik: Wie geht es weiter?

Es ist absehbar: Selbst wenn der EU-Türkei-Plan funktioniert, ist es nur auf Zeit ruhig. Notleidende Menschen werden sich neue Wege nach Europa suchen, Europa wird sich nicht abschotten können. Rechtsnormen wie das Schengen-Abkommen und die Dublin-II-Regeln sind faktisch außer Kraft, sie werden künftig kaum unverändert funktionieren.

Hinter den Kulissen arbeitet die EU-Kommission an einer Reform. Der "Tagesspiegel" zitiert aus einem Strategiepapier des EU-Vizekommissionspräsidenten Frans Timmermans und des EU-Migrationskommissars Dimitris Avramopoulos. Demnach liegen zwei Optionen zur Reform von Dublin II vor. Der ersten Option zufolge sollen Asylbewerber künftig anhand von Kriterien wie der Aufnahmekapazität der Mitgliedstaaten und mit Blick auf bestehende Familienverbindungen der Migranten fair auf die einzelnen EU-Staaten verteilt werden. Die zweite Option sieht ein Festhalten am bestehenden Dublin-System mit einem automatischen Korrekturmechanismus vor. Asylbewerber sollen verteilt werden, wenn ein Mitgliedstaat bei der Aufnahme von Asylbewerbern überfordert ist.

Es ist absehbar, dass der Weg zu einer Einigung in dieser Frage schwer wird. Die einseitigen Grenzschließungen mehrerer Länder an der Balkanroute lassen ahnen, wie klein die Bereitschaft zur gegenseitigen Hilfe in Ernstfällen ist.

Quelle: ntv.de

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