Politik

Informationskrieg gegen Russland Die Nato bleibt undurchschaubar

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US-amerikanischer Nato-Soldat im Kosovo: Das Verteidigungsbündnis hat wesentlich mehr Informationen über aktuelle Krisen, als es preisgibt.

(Foto: REUTERS)

Russland setzt auf die Waffe von spärlicher Information und gezielter Desinformation. Die Nato ist gegen diese Strategie nicht gerüstet. Amateure sind ihr weit voraus.

Die offizielle Lesart der Ukraine-Krise geht so: Russland hat die Krim besetzt, im Donbass einen Krieg angezettelt und droht nun mit einer Ausweitung des Konflikts auf andere Staaten. Auch Nato-Mitglieder wie Estland oder Polen fühlen sich bedroht. Immer wieder wird gemeldet, Russland ziehe Truppen an den baltischen Grenzen zusammen. Die Nato spricht von Panzern, die ungehindert die Grenze zur Ukraine überqueren, von Luftabwehr und Artillerie auf ukrainischem Gebiet.

Die westlichen Medien tragen diese Meldungen weiter. Politiker begründen mit diesen Informationen ihre Entscheidungen. Regierungen genehmigen wegen der Bedrohung einen Strategiewechsel der Nato. Parlamente diskutieren darüber, mehr Geld in Rüstung zu investieren.

Dabei lassen sich die Informationen der Nato kaum überprüfen. Journalisten und Abgeordnete kommen schnell an die Grenzen dessen, was sie selbst beobachten können. Das liegt auch daran, dass die Nato ihre Mitteilungen sehr allgemein hält. Wenn sie von russischen Truppen und russischen Waffen in der Ukraine spricht, gibt sie nicht an, wann wo wie viele Einheiten gesichtet wurden. Wenn sie es täte, könnten Journalisten an diese Orte fahren oder mit Anwohnern telefonieren.

Beste Untersuchung zu MH17 kommt von Amateuren

Auf Nachfrage sagt ein Nato-Vertreter, die große Zahl schwerer Waffen in der Ostukraine widerspreche der Aussage, diese Waffen hätten die Separatisten von der Ukrainischen Armee erbeutet. Er verweist außerdem auf die Informationen russischer Nichtregierungsorganisationen. Aufklärungsergebnisse in größerem Stil zu veröffentlichen, lehnt die Nato ab. Weiterhin steht oft Aussage gegen Aussage: Die Nato behauptet, Russland sei direkt in den Konflikt involviert. Russland streitet das ab.

Die Informationspolitik der Nato lässt Raum für die russische Propaganda und ermöglicht die Ausbreitung von Verschwörungstheorien. "Ich habe mich schon oft über die spärlichen Infos der Nato geärgert", sagt Christian Mölling von der Stiftung Wissenschaft und Politik, die Bundesregierung und Bundestag berät.

Einer, der die Informationslücke füllt, ist Elliot Higgins. Der Brite begann vor drei Jahren, Bilder und Videos aus dem Syrienkrieg systematisch auszuwerten. Higgins war arbeitslos und fügte in seiner Freizeit öffentliche Informationen zusammen. Er klärte Giftgaseinsätze auf und fand deutsche Waffen in den Händen der Rebellen. Mittlerweile beschäftigt sich sein Rechercheblog Bellingcat auch mit den Vorgängen in der Ukraine.

Ein Beispiel: Im Juli 2014 rollt durch die russische Stadt Kamensk-Schachtinski ein mobiles Flugabwehrsystem vom Typ Buk. Ein Nutzer des sozialen Netzwerks www.ok.ru holt sein Handy raus und dreht ein Video. Nach 12 Sekunden beendet er die Aufnahme, später stellt er sie ins Internet. Der Schnipsel ist ein Ausriss aus seinem Alltag, ohne herausgehobene Bedeutung. Doch bei Bellingcat wird das Video zu einem Kernstück einer Analyse. Im Hintergrund ist ein markantes Haus zu sehen, Bellingcat findet das gleiche Haus auf Google Maps und Google Street View. Damit ist klar, wo das Video entstanden ist. Bellingcat analysiert eine ganze Reihe an Bildern und Videos und kann so erstaunlich exakt den Weg der Buk-Rakete nachweisen. Das Fazit: Am 17. Juni befand sich das russische Raketensystem unter Kontrolle der Separatisten in der Ostukraine. An diesem Tag stürzte das Passagierflugzeug MH17 ab. Die Separatisten behaupteten, sie seien zu einem Abschuss in dieser Höhe nicht in der Lage, weil sie keine geeigneten Waffen dazu besäßen. Bellingcat beweist das Gegenteil.

Nato hat mehr Beweise, als sie vorlegt

Das Rechercheblog ist nur eins von vielen Projekten, bei denen private Akteure mit völkerrechtlich relevanten Recherchen auf Konflikte Einfluss nehmen. Die verlässlichsten Informationen über Kriegsverbrechen der ukrainischen Armee stammen aus gut dokumentierten Vor-Ort-Befragungen der Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch. Auch in anderen Konflikten leisten private Organisationen Aufklärung. Im Januar dieses Jahres veröffentlichte Amnesty International Satellitenbilder des kommerziellen Anbieters Digital Globe und erhob Vorwürfe gegen die Terrororganisation Boko Haram: Die Bilder zeigen mehr als 3700 zerstörte Gebäude – ein deutliches Zeichen für ethnische Vertreibungen. Mit einer ähnlichen Methode dokumentiert eine vom US-Schauspieler George Clooney angestoßene Initiative die Lage des Bürgerkriegs im Sudan. Die Informationen sind wertvoll. Sie können politische Unterstützung, militärische Hilfe und Rüstungsentscheidungen beeinflussen.

Dank Handykameras, sozialen Medien und kommerziell verbreiteten Satellitenbildern wissen Beobachter heute viel mehr über Kriege, als die Kriegsparteien kontrollieren können. Die Nato aber betreibt im Wesentlichen weiter ihre Verlautbarungspolitik. "Auch die Nato könnte Informationen über Truppenbewegungen veröffentlichen", sagt Militärexperte Mölling. Die Geheimdienste ihrer Mitgliedstaaten verfügen wahrscheinlich über die besten Radar-Satelliten der Welt. Wenn in der Ukraine ein Flugzeug abstürzt und in der Nähe befindet sich eine Buk-Rakete, müsste die Nato auch im Nachhinein aufklären und beweisen können, woher dieses Buk-System stammt und wie es an den Einsatzort kam. Und zwar nicht Monate, sondern Tage, vielleicht sogar nur Stunden nach dem Ereignis.

Stattdessen überlässt die Nato das Feld der russischen Propaganda. Die zielt bis tief in die westliche Bevölkerung; eigene Medienkanäle sollen Verunsicherung schaffen und die Wähler gegen ihre Politiker aufbringen. Mit Erfolg: Die diplomatischen Bemühungen europäischer Politiker werden als Kriegstreiberei abgetan, die Theorie einer faschistischen Verschwörung in der Ukraine ist auch in Deutschland verbreitet.

Warum handelt die Nato so?

Die Bilder der Spionagesatelliten würden der Propaganda keine Chance lassen. Allerdings werden sie nie veröffentlicht. Selbst der niederländische Sicherheitsrat darf für seine Untersuchungen zu MH17 wohl nicht darauf zugreifen. Im Zwischenbericht des Gremiums findet sich zumindest kein Hinweis darauf. Eine Serie von Bildern, die nachvollziehbar eindeutige Truppenbewegungen zeigt, hat die Nato im Ukrainekonflikt noch nie vorgelegt. Wenn die Nato doch einmal Belege zeigt, greift sie meist auf einzelne Satellitenbilder von "Digital Globe" zurück – so wie die privaten Organisationen. Die Bilder zeigen dann die Stellungen von Panzern, Artillerie oder Flugabwehr. Von wann die Bilder stammen oder wo sie aufgenommen wurden, ist schwer zu beurteilen.

Bellingcat macht das anders. Satellitenbilder werden mit Fotos und Videos in Zusammenhang gesetzt. Detailversessen führt das Blog Beweise an, wann und an welchem Ort Aufnahmen gemacht wurden. Dabei spielt eine große Rolle, dass sich Bellingcat praktisch nur auf öffentlich verfügbare Informationen stützt und diese Informationen verlinkt. So kann jeder von zu Hause aus nachprüfen, für wie plausibel er die Berichte hält.

"Das Vorgehen von Bellingcat scheint systematisch und wissenschaftlich zu sein", sagt Mölling. "Man muss kein Akademiker sein, um Wissenschaft zu betreiben." Was fehlt, sei lediglich eine systematische "peer review", also eine kritische Überprüfung durch andere Experten. Doch da Bellingcat so nachvollziehbar arbeitet, dürfte diese Überprüfung jeder vornehmen können, der sich dazu berufen fühlt und entsprechende Fachkenntnisse hat. Bislang führte das nicht dazu, dass in Bellingcat-Analysen große Fehler gefunden worden wären. Das Blog genießt unter Experten einen exzellenten Ruf. Journalisten und Politikwissenschaftler bauen auf seinen Analysen auf. Die Nato profitiert davon, weil die Bellingcat-Studien bislang die offizielle Lesart der Ukraine-Krise bestätigen.

Sie selbst arbeitet aber weiterhin intransparent und setzt auf das Vertrauen der Bürger. Man wolle sich nicht auf einen Schlagabtausch mit Russland einlassen, heißt es bei der Nato. Allerdings tut sie genau das: Im Internet hat sie eine eigene Seite angelegt, auf der russische Propaganda richtiggestellt werden soll. Man engagiere sich auf Twitter, zeige einzelne Satellitenbilder, beantworte Tausende Journalistenanfragen und verschaffe Journalisten Zugang zu Nato-Einsätzen. Ihre Quellen über das russische Militär legt sie aber nicht offen.

Warum die Nato so zurückhaltend ist, dazu gibt es unterschiedliche Erklärungen. Zum einen will sie sich sicherlich nicht in die Karten schauen lassen, um einen strategischen Vorteil zu behalten. Darüber hinaus ist jede Entscheidung der Nato von ihren 28 Mitgliedstaaten abhängig. Eine Änderung ihrer Öffentlichkeitsarbeit wäre ein größerer diplomatischer Aufwand. Christian Mölling vermutet noch einen weiteren Grund: Die Nato möchte in der Ukraine-Krise nicht eingreifen. Je mehr sie die Einmischung Russlands an die Öffentlichkeit bringt, desto mehr setzt sie sich selbst unter Zugzwang – und macht damit die eigene Lage noch komplizierter.

Quelle: ntv.de

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