Politik

Das Protestlager am Maidan "Diese Bewegung folgt keinem Anführer"

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Seit zwei Monaten harren die Demonstranten in klirrender Kälte auf dem Maidan aus.

(Foto: dpa)

Täglich liefert die ukrainische Caritas den Demonstranten auf dem Maidan warme Mahlzeiten. Ihr Chef Andrij Waskowycz ist beeindruckt vom Mut der Menschen dort. "Diese Bewegung folgt keinem Anführer", sagt er.

n-tv.de: Was für Leute sind das, die seit zwei Monaten in Kiew auf dem Maidan in der Kälte ausharren?

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Andrij Waskowycz ist Chef der Caritas in der Ukraine.

(Foto: privat)

Andrij Waskowycz: Auf dem Maidan sind alle gesellschaftlichen Schichten vertreten, vor allem die sich erst jetzt bildende ukrainische Mittelklasse: Kleinunternehmer, Angestellte, Beamte, Facharbeiter - und sehr, sehr viele Studenten. Die Studenten sind aus Solidarität mit ihren Kommilitonen auf den Maidan gekommen, die in der Nacht zum 30. November von den Sondereinheiten der Miliz niedergeknüppelt wurden. Ich finde es sehr beeindruckend, mit welchem Mut und mit welcher Entschlossenheit all diese Menschen auf dem Maidan stehen und bereit sind, Opfer zu bringen.

Warum machen sie das?

Das alles sind Leute, die sagen: Wir wollen nicht so weiterleben wie bisher, wir wollen eine Zukunft haben, wir wollen einen europäischen Weg für die Ukraine. Wenn wir jetzt nicht aufstehen, werden wir die nächsten Jahrzehnte in einer Diktatur leben.

Stimmt es, dass es Leute gibt, die seit zwei Monaten auf dem Maidan schlafen?

Absolut, ja. Viele Leute waren von Anfang an da. Es gibt Gruppen, die in den Hilfsdiensten arbeiten, zum Beispiel in den Feldküchen, die dort seit Beginn dabei sind. Teilweise kehren die Leute für ein paar Tage zurück zu ihren Familien, um sich etwas auszuruhen. Danach kommen sie zurück.

Die ukrainische Caritas hat ebenfalls eine Küche auf dem Maidan?

Nein, in unserer Suppenküche in Kiew bereiten wir Essen zu, das wir dann zum Maidan bringen. Wir unterstützen aber auch die ukrainischen Malteser. Die haben eine große Feldküche auf dem Maidan.

Sie sind derzeit in Deutschland. Was sagt der deutsche Caritasverband zu Ihrem politischen Engagement?

Wir sind politisch in dem Sinne, dass wir für die Freiheit eintreten und gegen die Maßnahmen, die von der Regierung geplant waren, um in der Ukraine eine Diktatur einzuführen. Wir unterstützen die Menschen, die auf dem Maidan für ihre Freiheit einstehen, für ein Sozialsystem, das den Menschen und seine Nöte in den Mittelpunkt stellt, für soziale Gerechtigkeit. Das sind alles Prinzipien der Caritas.

Wie ist es mit den Gewalttaten rund um den Maidan? Wie viele Gewalttäter, würden Sie schätzen, sind unter den Demonstranten?

Ich würde nicht von Gewalttätern sprechen. Ich würde davon sprechen, dass unter den Demonstranten Menschen sind, die bereit sind, ihre Positionen zu verteidigen, wenn notwendig auch mit Waffengewalt. Wenn wir von "Ausschreitungen" sprechen, so waren dies immer Reaktionen auf Gewalt, die der Staat ausgeübt hat. Die gewaltsamen Aktionen traten auf, nachdem Menschen niedergeknüppelt wurden, nachdem Menschen verschwunden sind, nachdem Menschen zusammengeschlagen wurden auf dem Heimweg vom Maidan. Man weiß bis heute nicht, ob die gewaltsamen Aktionen, die am Zugang zum Regierungsviertel begonnen haben, seitens der Machthaber provoziert wurden oder nicht. Aber selbst wenn es so gewesen wäre: Den Menschen ist die Geduld gerissen. Nach 60 Tagen noch immer nicht gehört zu werden, nach 60 Tagen noch immer ignoriert zu werden, nach 60 Tagen beschimpft zu werden als Extremisten. 60 Tage lang waren die Demonstrationen absolut friedlich, bewundernswert friedlich. Dass dann die Geduld gerissen ist, das ist verständlich.

Es wurden Molotov-Cocktails auf Polizisten geworfen. Geht das nicht zu weit?

Das war eine Reaktion darauf, dass die Polizei mit Gummigeschossen auf friedliche Demonstranten gefeuert hat, dass Blendgranaten eingesetzt wurden, die viele Demonstranten verletzt haben.

Es hat sogar Tote gegeben.

Man spricht von fünf Toten, die nicht alle auf dem Platz ums Leben kamen. Drei Menschen wurden erschossen, zwei weitere wurden mit Anzeichen von Folter in einem Wald gefunden.

Wer wird für die Verschleppungen und Morde verantwortlich gemacht?

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Glaube und Gewalt: Militante Demonstranten bei einem Gottesdienst in Kiew.

(Foto: Reuters)

Das waren die sogenannten Tituschki. Das sind von den Sondereinheiten organisierte Schlägerkommandos, die aus den östlichen Regionen der Ukraine nach Kiew gebracht wurden. Diese Leute kommen aus verschiedenen Sportclubs, ihre Aufgabe war es, die Situation in der Stadt zu destabilisieren, die Menschen durch Terror auf der Straße einzuschüchtern. Sie waren nachts unterwegs, haben Menschen überfallen. Tituschki waren es auch, die die Journalistin Tetiana Chornovol am 25. Dezember aus ihrem Wagen gezerrt und zusammengeschlagen haben.

Kann man die Tituschki mit den Betriebskampfgruppen in der DDR vergleichen?

Ich würde sie eher mit der SA der Nazizeit vergleichen.

Wie ist derzeit die Stimmung auf dem Maidan, was hören Sie aus Kiew?

Die Leute sind weiter bereit und sehen auch weiterhin die Notwendigkeit, auf dem Maidan zu bleiben. Denn die Zugeständnisse, die bisher gemacht wurden, sind eigentlich nur Lippenbekenntnisse. Der Rücktritt von Ministerpräsident Mykola Asarow hat nichts geändert. Das Amt hat jetzt sein bisheriger Stellvertreter Serhij Arbusow inne, der eng mit der Familie von Präsident Viktor Janukowitsch verbunden ist. Ein reelles Zugeständnis ist die Rücknahme der diktatorischen Gesetze vom 16. Januar, mit denen die Regierung die Bürgerrechte eingeschränkt hatte. Aber die Aufhebung der umstrittenen Gesetze ist vom Präsidenten noch nicht unterzeichnet und damit nicht in Kraft getreten. Es wird noch ein sehr langer Prozess sein, bis man einen Ausweg findet aus der heutigen Krise. Denn es geht noch immer um die Hauptforderung der Demonstranten: Neuwahl der Werchowna Rada, also des Parlaments, Neuwahl des Präsidenten.

Unterhalb dieser Forderungen gibt es keinen Kompromiss?

Zunächst muss eine Road Map entwickelt werden, wie diese Hauptforderungen erfüllt werden können. Nur so kann eine Deeskalation erreicht werden.

Welche Rolle spielt Vitali Klitschko?

Er ist bestimmt eine der Führungsfiguren dieser demokratischen Bewegung. Aber es wird auch kritisiert, dass er nicht radikal genug vorgeht. Die Opposition versucht, geeint aufzutreten, aber es gibt Probleme mit der Frage, wer der Anführer der drei großen Oppositionsparteien ist.

Und welche Rolle spielt die Partei Swoboda?

Das ist eine der drei Oppositionsparteien im ukrainischen Parlament. Sie ist teilt mit den anderen Parteien den Wunsch, dieses System zu verändern.

Es gibt oder gab Kontakte zwischen Swoboda und der deutschen NPD. Wie rechts oder rechtsradikal ist Swoboda?

Wissen Sie, seit Beginn des Konfliktes sind von Swoboda keine rechtsradikalen Slogans mehr gekommen. Die Partei und ihre Anhänger sind heute Teil der antidiktatorischen Bewegung, sie sind auf diesem Platz und versuchen zunächst einmal die demokratischen Werte zu vertreten, für die die Menschen auf dem Maidan stehen. Es ist ganz wichtig, dass Swoboda stärker in die politische Mitte rückt und die Leute an ihrem rechten Rand neutralisiert. Aber Swoboda hat im derzeitigen Augenblick eine positive Funktion. Die Frage wird sein, mit welchen Slogans sie in den Wahlkampf zieht, wenn es zu Neuwahlen kommt.

Was passiert mit der demokratischen Bewegung, wenn es zu Neuwahlen kommt?

Ich halte es für ganz wichtig, dass die jungen Leute vom Maidan ihren Mut und ihre Entschlossenheit auch dann in die Gesellschaft tragen. Der wesentliche Unterschied zur Revolution in Orange von 2004 zu heute ist: Dies ist eine Bewegung von unten, die begriffen hat, dass sie die Verantwortung für die Entwicklung des Landes trägt. Diese Bewegung folgt keinem Anführer. Sie versteht, dass es bei der Gestaltung demokratischer Prozesse auf das tägliche Engagement der Bürger ankommt.

Mit Andrij Waskowycz sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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