Die Kandidatur eines Provokateurs "Hartz-IV-Schnösel" will in den Bundestag
16.05.2013, 13:35 Uhr
Ralph Boes, 55, Hartz-IV-Empfänger, Idealist.
(Foto: picture alliance / dpa)
Für einige ist er ein Held, der sich für die Menschenwürde aufopfert. Für andere ist Ralph Boes Deutschlands frechster Schnorrer. Mit einer Anti-Hartz-IV-Kampagne kandidiert der Langzeitarbeitslose jetzt für den Bundestag, Nazi-Vergleiche inklusive. Kann das gut gehen?
Ralph Boes organisiert seine Kampagne in einer Erdgeschosswohnung in einem Berliner Hinterhof. Der 55-Jährige sitzt in seinem Zimmer. Es ist ein wenig düster, kaum 15 Quadratmeter groß. Seine Hochbettkonstruktion würde etwas Platz schaffen - wären da nicht all die Bücher und Aktenordner, die losen Zettel. Boes nennt seinen Raum "Rumpelkammer", tatsächlich ist das Zimmer im Bezirk Wedding jetzt seine Wahlkampfzentrale. "Ich kandidiere als Direktkandidat", sagt er.
Boes ist seit 2006 arbeitslos. Jetzt will er in den Bundestag einziehen. Nicht, damit er endlich einen bezahlten Job bekommt. Boes will das Hartz-IV-System abschaffen. Große Erfahrung im Berliner Polit-Betrieb hat er nicht. Dafür eine zweifelhafte Prominenz.
Kampf mit leerem Bauch

Rotes Wedding: Bewohner des Berliner Bezirks protestieren gegen hohe Mieten.
(Foto: picture alliance / dpa)
Der gebürtige Rheinländer ist nicht irgendein Direktkandidat. Ende des vergangenen Jahres sorgte er bundesweit für Aufsehen. Der Studienabbrecher (Philosophie, Germanistik, Kunstgeschichte) und gescheiterte Unternehmer (Angebote der "Geistesschulung" für ältere Menschen) lebte damals von 37,40 Euro im Monat. Das Jobcenter hatte ihn zu 90 Prozent sanktioniert, weil er jeden Arbeitsvermittlungsversuch boykottierte, gegen jede Anweisung des Amtes Einspruch erhob. "Alle Jobs, dir mir angeboten wurden, waren sinnlos", sagte er. "Das war Nötigung und Erpressung." Und so setzte Boes darauf, einen juristischen Präzedenzfall zu schaffen. Er wollte dem Bundesverfassungsgericht beweisen, dass die Gesetze für Arbeitslose menschenunwürdig sind.
Um zu untermauern, was es bedeutet, von 37,40 Euro im Monat zu leben, weigerte er sich, das wenige Geld, das ihm blieb, für Lebensmittel auszugeben. Er begann zu hungern, schaffte es mehr als drei Wochen lang, nur von Tee und Brühe zu leben. Als sein Jobcenter die Sanktionen dann aber wegen Formfehlern zurücknahm, war der Präzedenzfall vorerst dahin. Boes unterbrach seinen Hunger-Protest.
Seine Aktion, Boes nannte sie "Sanktions-Hungern", sicherte ihm dennoch Berichte in fast allen großen deutschen Medien. Doch reicht diese C-Prominenz wirklich schon aus, um ihm den Weg in den Bundestag zu eröffnen?
Seine Anhänger hungern für ihn
Was für nahezu alle seiner Konkurrenten selbstverständlich ist, fehlt Boes. Er hat keine Partei, auf die er sich im Wahlkampf stützen könnte. Doch an Unterstützern fehlt es ihm dennoch nicht. Hunderte haben sich auf seiner Webseite als Sympathisanten registriert und ein Zirkel aus ein paar Dutzend Aktivisten trifft sich regelmäßig mit Boes in Berlin. Auch in Hamburg hat sich eine aktive "Wir-sind-Boes"-Gruppe gegründet.

Wahlkampf oder Sympathiewelle? Unterstützer von Ralph Boes setzen an einer Berliner Kreuzung ihre Ortsmarke: "Hungerstreik oder Grundgesetz!"
(Foto: Issio Ehrich)
All das ist beachtlich für einen Direktkandidaten. Einige seiner Anhänger stechen in Sachen Opferbereitschaft für ihren Kandidaten zudem das gewöhnliche Parteimitglied mit Leichtigkeit aus.
Martin (Name geändert) ist so ein Anhänger. Als Boes nach einer neuen Sanktionsrunde im Frühjahr, diesmal waren es 60 Prozent, den Hungerstreik wieder aufnahm, bot der 56-Jährige ihm seine Unterstützung an. Boes und der ebenfalls arbeitslose Martin bilden jetzt mit einer weiteren Aktivistin eine Hungerstaffel. In den nächsten Tagen wird Martin sein Geld für Lebensmittel an Boes abtreten und für ihn hungern. So lange, bis er nicht mehr kann, beteuert er. Schließlich kann Boes die drei Monate bis zur Bundestagswahl nicht durchfasten. Er braucht Kraft für den Kampf gegen die politische Konkurrenz.
Wahlprogramm im Postkartenformat
Was er dafür außer Kraft noch braucht, sind Argumente. Die Grünen setzen auf ein 180 Seiten starkes Wahlprogramm. Die SPD kommt auf 120 Seiten. Wer sich einigermaßen geschickt anstellt, schafft es, Boes' politische Agenda auf einer Postkarte zusammenzufassen. Sein Ziel: ein bedingungsloses Grundeinkommen in Höhe von 1000 Euro im Monat für alle - und damit das Ende des Hartz-IV-Systems. Sein Argument: Weil die Industrialisierung die Vollbeschäftigung zur Mär gemacht hat, drängt das Konzept des "Fördern und Forderns" Menschen in sinnlose Arbeit und damit in menschenunwürdige Lebensumstände. Bürgern die Zuwendungen zu kürzen, die ohnehin am Existenzminimum leben, weil sie sich gegen diese sinnlose Arbeit sträuben, ist zudem verfassungsfeindlich.
Was schmissig klingt, ist allerdings äußerst umstritten. Der Arbeitsmarktexperte Hilmar Schneider vom Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) sagt: "Die Freiheit desjenigen, der auf Basis des bedingungslosen Grundkeinkommens tun und lassen kann, was er gerne würde, funktioniert nur, wenn ich irgendjemand anderem ein Stück seiner Freiheit wegnehme." Gemeint ist damit sein Besitz. Das bedingungslose Grundeinkommen setzt laut Ökonomen eine großangelegte Umverteilung voraus, bei der auch die Mittelschicht kräftige Einschnitte zu verkraften hätte.
Erziehungswissenschaftlich grober Unfug
Zudem kann von einer Verfassungsfeindlichkeit kaum die Rede sein. So sehen das Juristen. "Sozialgerichte haben die Sanktionen bisher nicht grundsätzlich infrage gestellt", sagt Rechtsanwalt Imanuel Schulz, der sich in Berlin auf Hartz-IV-Klagen spezialisiert hat. Das Bundesverfassungsgericht dürfte dies kaum anders sehen. Denn Hartz-IV-Empfänger bekommen unabhängig von Sanktionen Lebensmittelgutscheine und eine Wohnung. Damit ist ihre Existenz und für Juristen der "Kernbereich ihrer Grundrechte" gewährleistet.
Ein Thema, das viele bewegt, sind die Hartz-IV-Sanktionen trotzdem - weil es wegen unqualifizierter Mitarbeiter und zu wenig Zeit und Geld immer wieder zu unberechtigten Sanktionen kommt. Zudem ist fraglich, ob die Strafen tatsächlich dabei helfen, Menschen in den Arbeitsmarkt zu drängen. Selbst der Leiter eines Jobcenters, Holger Delfs, sagt: "Verfassungsfeindlich sind die Sanktionen nicht, aber sie sind sinnlos." Der Husumer spricht gar von "erziehungswissenschaftlich grobem Unfug".
Ein umstrittenes Thema, ein entgratetes Programm - ein Nachteil muss das nicht sein. Das beweisen auch andere. Die Alternative für Deutschland (AfD) schreckt dieser Tage die etablierten Parteien auf und hat eigentlich nur ein Ziel: Sie will den Euro abwickeln. Die FDP setzte bei der Bundestagswahl 2009 auf die Steuererklärung auf dem Bierdeckel und das Credo "Mehr Netto vom Brutto". Das reichte für 14,6 Prozent der Stimmen.
Spricht also vieles dafür, dass Boes im Wahlkreis Mitte, um den er kämpft, reüssiert? Tatsächlich ist es extrem unwahrscheinlich, dass 2013 überhaupt ein parteiloser Direktkandidat in den Bundestag einzieht. In der Geschichte der Republik gelang das nur drei Direktkandidaten - 1949, bei der ersten Bundestagswahl. Und dann ist da schließlich noch Boes' Auftritt.
Die Sache mit dem Schnösel
Er hat keine Partei, kein umfassendes Programm, und offensichtlich fehlt ihm auch ein Wahlkampfberater. Boes trägt gern einen modischen Schal. Auf seiner Nase sitzt eine rahmenlose runde Brille - man sieht dem 55-Jährigen an, dass er nicht gerade aus dem Arbeitermilieu stammt. Seine Eltern waren Winzer und Hoteliers. Bei seinen ersten Fernsehauftritten Ende 2012 wurde ihm das zum Verhängnis - auch wenn das nur Oberflächlichkeiten sind. Aber was war das für ein Bild, als da ein Herr mittleren Alters im Schneidersitz auf Sandra Maischbergers Talk-Show-Sofa saß und über unwürdige Arbeit philosophierte, das System aufs Schärfste kritisierte, das ihm Essen und ein Dach über dem Kopf sicherte. Allein dieser Anblick ließ seine Argumente für viele Zuschauer verpuffen. Die "Bild"-Zeitung porträtierte ihn kurz darauf unter dem Titel: "Das ist Maischbergers Hartz-IV-Schnösel". Das Blatt nannte ihn "Deutschlands frechsten Schnorrer".
Und heute? "Ich hab bei meinem Auftritt nicht an 'Bild'-Leser gedacht", sagt Boes. "Ich hab mich so gegeben wie ich bin." Und so sitzt der Arbeitslose auch in seiner Wahlkampfzentrale im Berliner Hinterhof mit einem adretten roten Schal zu einem weißen Oberhemd und Sakko - und spricht vom "Volksverhetzungsprogramm Hartz IV". Tatsächlich geht er noch einen Schritt weiter, offenbart, dass er die Grundregel der deutschen Politik nicht kennt, die da lautet: keine Hitler-Vergleiche.
Über die Schriften der geistigen Väter der Agenda 2010 sagt er. "Wenn man das liest, ist der Vergleich zum Dritten Reich nicht weit." Schließlich habe auch Hitlers Regime klein angefangen. Jobcenter-Mitarbeitern unterstellt er ein "Eichmann-Syndrom".
Selbst im "roten Wedding", dem einstigen Arbeiterbezirk, in dem es heute vor allem eine hohe Arbeitslosenquote gibt, kann Boes mit dieser Rhetorik wohl kaum Wähler zur Urne treiben. Doch vielleicht will er das auch gar nicht. Vielleicht will der 55-Jährige aus der "Rumpelkammer" in Berlin vor allem eines: provozieren. Um Aufmerksamkeit zu erregen. Und um das Gefühl vieler Bürger zu nähren, dass die Hartz-IV-Gesetze, die Sanktionen nicht der Weisheit letzter Schluss sein können.
Quelle: ntv.de