Politik

China setzt auf Zynismus Massaker? Was für ein Massaker?

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Dieses Bild ging um die Welt: Auf der Straße des Himmlischen Friedens stellt sich ein Demonstrant Panzern entgegen.

(Foto: REUTERS)

Hunderte, vielleicht Tausende starben vor 25 Jahren bei dem Massaker in Peking. In China werden die Opfer totgeschwiegen, im Ausland macht die chinesische Regierung das Blutbad zu einer Erfindung westlicher Geheimdienste.

Hausbesuch in Peking bei Qi Zhiyong: Ein renovierungsbedürftiges Wohngebiet mit Reihenhäusern im Norden der chinesischen Hauptstadt. Die Vordertür ist verrammelt, an der Hintertür verhallt das Klopfen. Niemand öffnet. Die Familie ist nicht zuhause, verrät eine Nachbarin. Wo ist sie denn? "Fragt doch die Polizei", sagt der Sohn der Frau. Telefonisch ist Qi seit einigen Tagen nicht mehr zu erreichen. Sein letztes Lebenszeichen im Internet stammt vom 28. Mai, zwei Tage vor dem Besuch. In einem Telefonat kurz davor kündigte Qi an, dass er davon ausgeht, dass ihn die Polizei sehr bald schon abholen und an einem unbekannten Ort illegal festhalten wird. Die chinesische Polizei sperrt all jene weg, die eine andere Version über die Geschehnisse am 4. Juni 1989 in Peking verbreiten als die Regierung. Ohne richterliche Grundlage, ohne offizielle Anklage. Ohne Kompromiss.

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Nichts erinnert auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking an das Massaker von 1989.

(Foto: AP)

Es war der Tag, als die von Studenten initiierte Demokratiebewegung in der Volksrepublik nach wochenlangen Protesten mit einem Blutbad im Stadtzentrum endete. Panzer überrollten Demonstranten, Soldaten schossen wahllos in die Menge. Die allein regierende Kommunistische Partei wusste sich aus nackter Angst vor dem Verlust ihres Machtmonopols nicht anders zu helfen. Es gab Hunderte, manche sagen Tausende Tote. Offizielle Zahlen gibt es bis heute nicht. So oder so: Es war ein Massaker an der eigenen Bevölkerung.

Qi verlor damals im Kugelhagel ein Bein. Er gehörte nicht zu den Studenten, sondern war Bauarbeiter, 33 Jahre alt. Er war aus Neugier in die Innenstadt gekommen, um zu sehen, was dort vor sich ging. Heute zählt er zu den Wenigen, die sich wagen, der Regierungsstrategie in die Parade zu fahren. Im Gegensatz zu vielen anderen, die die Rache der Partei fürchten, spricht er über den dunkelsten Tag der chinesischen Geschichte unter Führung der KP. Deshalb wird er vom Staat drangsaliert.

Volk unter Drogen

Schweigen! Vergessen! Auslöschen! So tun, als sei nichts gewesen. Das ist die Taktik der Partei nach Innen. Sie funktioniert, weil die Menschen eingeschüchtert sind von der Brutalität ihres Regimes. Schulbücher lehren eine harmonische Wahrheit des 4. Juni für eine sogenannte harmonische Gesellschaft, die die Parteipropaganda ausgerufen hat. Diese Wahrheit besagt: Ja, es gab Studenten, die für Demokratie auf die Straße gingen. Doch keiner von denen sei gestorben. Stattdessen habe das chinesische Militär heldenhaft die Umsturzversuche von Kriminellen, Verbrechern und Taugenichtsen niedergeschlagen. Ein wilder Mob konterrevolutionärer Kreaturen habe im Soge der Studentenproteste versucht, die vermeintliche Harmonie zu zerstören. Sie hätten unbewaffnete Soldaten angegriffen und gemeuchelt. Das Militär habe die soziale Ordnung zum Wohle des Volkes aufrecht erhalten. Ende des Kapitels.

Die perfide Verzerrung der Realität hinterlässt Verbitterung, Wut und eine traumatisierte Bevölkerung, die ein Vierteljahrhundert später zu großen Teilen versucht, unpolitisch ihr Leben zu bewältigen. Die Droge, mit der die Regierung die Menschen stillhält, heißt Konsum. Doch Menschen unter Drogeneinfluss sind unberechenbar. Deswegen fürchtet die Partei jede Form der öffentlichen Aufarbeitung der Geschehnisse. Sie könnten Forderungen nach politischer Teilhabe wieder aufleben lassen. Offensiv geht Peking inzwischen jenseits der eigenen Staatsgrenzen mit dem 4. Juni um. Massaker? "Alles nur Hörensagen", "Woher wollt ihr das wissen? Seid ihr dabei gewesen?", "Habt ihr mit jemandem gesprochen, der dabei war?" Als willkommene Stütze der eigenen Darstellung verweisen die Chinesen auf Wikileaks-Dokumente, in denen die US-Botschaft in Peking 1989 nach Washington mitteilte, dass auf dem Platz des Himmlischen Friedens selber möglicherweise nur wenige Schüsse gefallen seien. Die Chinesen sehen sich bestätigt in ihrer Darstellung, dass es kein Tiananmen-Massaker gab. Alles sei von westlichen Geheimdiensten ausgeklügelt worden, um das kommunistische Regime zu schwächen und ein bis heute gültiges Waffenembargo gegen China auszurufen.

Die Version verbreitet Peking mit Hilfe vieler Kanäle in alle Welt: über seine Konfuzius-Institute, seine hochrangigen Wirtschaftsdelegationen und seine international operierenden Staatsmedien und nicht zuletzt über ahnungslose Bürger. Die Zeit spielt für Peking. Jetzt mag es noch viele Zweifler an der KP-Geschichte geben. Aber auch noch in 20 Jahren? Die heranwachsende chinesische Elite der Zukunft ist von der Propaganda derart geblendet, dass sie vielleicht aus voller Überzeugung die Heldentaten des Militärs preisen wird statt den Mut der Studenten, gegen ein Unrechtssystem zu demonstrieren. Und vielleicht gibt es in 20 Jahren im Ausland genügend Politikverdrossene, die den Chinesen allein schon deshalb glauben wollen, weil sie voller Trotz und Zynismus der Meinung sind, dass ihre demokratischen Politiker mindestens genauso verlogen sind wie die Autokraten in Peking.

Eine solche Entwicklung wollen Menschen wie Qi und die vielen anderen Aktivisten unbedingt verhindern. Zu lebhaft sind ihre Erinnerungen daran, wie Panzer auf dem Platz Menschen überrollten. Wie Soldaten westlich davon auf unbewaffnete, friedliche Menschen das Feuer eröffneten. Wie Soldaten fliehende Menschen verfolgten bis in die kleinen Gassen der Hauptstadt und sie mit Genehmigung der Regierung regelrecht hinrichteten, als sie sie stellten. Vielleicht sollte die Bezeichnung Tiananmen-Massaker durch Peking-Massaker ersetzt werden. Zeitzeugen wie Qi wäre das bestimmt recht. Die Geschichte umzuschreiben im Sinne der KP, ist eine nachträgliche Verhöhnung der Opfer.

Quelle: ntv.de

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