Kiewer Philosoph im Interview "Russland ist ein Schatten der europäischen Zivilisation"
21.03.2022, 19:12 Uhr
"Putin sagt, er wolle die Ukraine 'entnazifizieren', aber es ist Russland, das die Hochburg des Neonazismus und Faschismus des 21. Jahrhunderts ist", sagt Vakhtang Kebuladze.
(Foto: via REUTERS)
Die Sowjetunion habe Menschen nur als Ressource gesehen, sagt der ukrainische Philosoph-Professor Vakhtang Kebuladze im Interview mit ntv.de. "Die Situation im heutigen Russland ist sogar noch schrecklicher: Die Menschen sehen sich selbst als Ressource. Sie entmenschlichen sich selbst."
ntv.de: Wie geht es Ihnen?
Vakhtang Kebuladze: Ich bin okay, ich bin zu Hause in meiner Wohnung in Kiew, zusammen mit dem Freund meiner Tochter. Es ist gut, nicht allein zu sein. Ich bin gesund, unverletzt, insofern geht es mir gut. Aber die gesamte Situation ist natürlich schrecklich.
Wie verbringen Sie Ihre Tage?

Vakhtang Kebuladze ist ein ukrainischer Philosoph, Publizist und Übersetzer. Er lehrt Philosophie an der Taras-Schewtschenko-Universität Kiew und an der Nationalen Universität "Kyiw-Mohyla Akademie".
(Foto: Pen Ukraine)
Es gibt viel zu tun hier in Kiew. Wir versuchen, unsere Armee, die Polizei und die Territorialverteidigung zu unterstützen. Wir bringen älteren Leuten, die selbst nicht auf die Straße gehen können, Medikamente - mit Lebensmitteln gibt es im Moment Gott sei Dank kein Problem. Wir helfen Zivilisten dabei, Kiew zu verlassen. Die Züge fahren noch, es gibt auch noch Busse nach Lwiw in die Westukraine. Wir versuchen auch, Fahrten aus der Ostukraine Richtung Westen zu organisieren, aus Charkiw, Tschernihiw und anderen Städten. Da ist es zurzeit besonders gefährlich. Und ich versuche, am Informationskrieg teilzunehmen - auch wenn das für deutsche Ohren seltsam klingen mag. Dieses Gespräch ist ein Teil dieser Tätigkeit. Ich spreche Deutsch und Englisch, deshalb spreche ich mit britischen, amerikanischen und deutschen Medien. Freunde von mir machen das mit Medien aus Frankreich, Spanien und anderen Ländern. Ich versuche, unseren Leuten in Polen, in Deutschland, in Spanien und Griechenland zu helfen - vor allem in diesen Ländern habe ich Verbindungen. Dann nutze ich noch meine akademischen Kontakte, um jungen Wissenschaftlerinnen aus der Ukraine zu helfen, Stipendien oder Promotionsprogramme in Ländern wie Polen, Deutschland und Österreich zu finden; junge Männer dürfen die Ukraine ja nicht verlassen. Es ist also viel zu tun, und an jedem Tag kommt etwas Neues, weil die Lage sich so schnell ändert.
Wie finden Sie es, dass Männer zwischen 18 und 60 die Ukraine nicht verlassen dürfen?
Ich unterstütze das und ich kenne auch niemanden, der das Land verlassen will, obwohl er es nicht darf. Meine Bekannten und Freunde bleiben alle in der Ukraine. Das ist unser Land, wir sollten es verteidigen.
Ist es in Ihrem Umfeld ein Thema, dass Deutschland noch immer Gas, Öl und Kohle aus Russland bezieht und bezahlt?
Absolut. Das ein sehr wichtiges Thema für uns. Es ist das Hauptproblem. Wir brauchen unbedingt ein Embargo für Öl, Erdgas und Kohle aus Russland. Mit dem Geld aus dem Exportgeschäft finanziert Russland den Krieg. Russland nutzt das Geld, um seine Wirtschaft gegen die Sanktionen zu stabilisieren und seinen Krieg gegen die Ukraine weiter zu finanzieren. Das muss aufhören. Das ist blutiges Geld.
Wie kann Deutschland, wie kann Europa der Ukraine noch helfen?
Wir brauchen eine No-Fly-Zone, eine Flugverbotszone. Sie sollten uns helfen, den Himmel über der Ukraine für die russischen Flugzeuge und Raketen zu schließen. Sehen Sie: Russland kämpft nicht nur gegen unsere Armee, sie greifen Zivilisten an, Frauen und Kinder, sie zerstören unsere Infrastruktur, unsere Städte, Krankenhäuser, Theater, Schulen. Das ist ihre Strategie. In den ersten Tagen des Krieges haben sie versucht, Kiew zu erobern. Das hat nicht funktioniert. Sie kommen nicht in die Städte hinein. Deshalb zerstören sie diese von außen - Kiew, Charkiw, Mariupol. Sie wollen diese Städte nicht erobern, um dort zu wohnen: Sie wollen die Städte und die Menschen darin vernichten. Deshalb ist es für uns so wichtig, dass der Himmel geschlossen wird.
Die NATO-Staaten sagen, sie wollen keinen Dritten Weltkrieg riskieren und deshalb keine russischen Flugzeuge abschießen.
Den Dritten Weltkrieg haben die Russen schon angefangen. Wenn wir sie in der Ukraine nicht stoppen, dann gehen sie weiter. Die Russen töten uns jeden Tag, und seien Sie sicher, dass sie bereit sind, auch Sie zu töten. Ich bin kein Militärexperte, ich weiß nicht, auf welche Weise eine Flugverbotszone eingerichtet werden kann. Aber ich weiß, dass es gemacht werden muss. Es geht nicht um unsere Armee, es geht um das Leben von Zivilisten, von Frauen und Kindern. Es geht darum, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Es geht um das Schicksal der Welt.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat betont, es sei "Putins Krieg", Putin allein habe ihn zu verantworten. Was sagen Sie dazu?
Das ist nicht Putins Krieg oder der Krieg des Kremls. Russland greift uns an. Umfragen zeigen, dass mehr als 70 Prozent der russischen Bevölkerung diesen Krieg unterstützt. Ich bin absolut sicher: Sie kennen das Ausmaß der Katastrophe. Sie verstehen sehr gut, dass ihre Soldaten nicht nur gegen die ukrainische Armee kämpfen, sondern dass sie unsere Städte vernichten. Putin sagt, er wolle die Ukraine "entnazifizieren", aber es ist Russland, das die Hochburg des Neonazismus und Faschismus des 21. Jahrhunderts ist. Deshalb würde ich sagen: Die ganze Bevölkerung Russlands ist dafür verantwortlich.
Der deutsche Philosoph Karl Jaspers unterschied nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen krimineller Schuld und moralischer Verantwortung. Nicht jeder Deutsche trug eine strafrechtlich relevante Schuld an den Verbrechen Deutschlands, aber im Sinne von Karl Jaspers waren alle Deutschen moralisch dafür verantwortlich, was Deutschland gemacht hatte. Doch es gibt einen Unterschied zwischen damals und heute: In Grundzügen wussten die Deutschen, was passierte, aber das Ausmaß und die Details des Holocaust haben sie erst nach dem Krieg verstanden. Heute gibt es keinen Mangel an Informationen. Auch in Russland gibt es Zugang zum Internet. Auch Russen können sich informieren, und sie wissen: Es ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und sie unterstützen das. Das bedeutet, sie sind nicht nur moralisch verantwortlich, sondern tragen eine unmittelbare Schuld. Sie sind ein Teil dieser Verbrechen. Das ist schrecklich.
Sie haben Russland schon vor dem Krieg als einen "Schatten der Zivilisation" bezeichnet. Was meinen Sie damit?
Aus meiner Sicht gibt es die westliche, die europäische Zivilisation. Und es gibt Russland. Russland hat keine eigene Zivilisation, es ist ein Schatten der europäischen Zivilisation. Alle Institutionen, alle Lebensweisen der europäischen Zivilisation werden in Russland als dunkler Schatten gespiegelt. Das Positive wird ins Negative verkehrt. Statt einer freien Presse gibt es Lügen, statt christlicher Kirchen gibt es eine Kirche, die Teil des Staates, Teil des Geheimdienstes FSB ist und die die Ideologie des Regimes legitimiert. Es gibt einen offenen Brief der Konferenz der russischen Hochschulrektoren, in denen die Universitäten als Stütze des Staates bezeichnet werden und der Krieg gegen die Ukraine verteidigt wird. Mehr als 700 Hochschulrektoren haben diesen Brief unterzeichnet. Das ist eine moralische Katastrophe. Der Krieg gegen die Ukraine ist nicht ein Problem von Putin oder ein Problem des Kremls. Es ist ein Problem der ganzen Gesellschaft. In Deutschland heißt es immer: Es gibt Putin, es gibt den Staat, es gibt die politische Elite - aber es gibt auch die große russische Kultur, die mit der russischen Politik nichts zu tun hat. Das ist ein Fehler.
Inwiefern?
Wir können die Wurzeln für die heutigen russischen Aggressionen gegen die Ukraine, gegen Georgien und Moldau bei Puschkin, bei Dostojewski, bei Tolstoi und bei Bulgakow finden. Es gibt ein Buch darüber von einer amerikanisch-polnischen Slawistin, Ewa Thompson, es heißt "Imperial Knowledge". Sie zeigt das perfekt, von Puschkin bis ins 20. Jahrhundert. Wir sollten uns abgewöhnen, zwischen russischer Kultur und russischem Imperialismus zu unterscheiden. Was wir heute als russische Kultur verstehen, ist toxisch und xenophob. Für uns als Ukrainer ist das ein riesiges Problem. Wie viele Ukrainer habe ich zwei Muttersprachen, Russisch und Ukrainisch. Das ist ein Trauma für mich, ein Schmerz: dass eine Kultur, die zum Teil auch meine Kultur ist, so gefährlich ist. Kennen Sie den PEN-Club?
Die Vereinigung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern.
Ich bin Mitglied des ukrainischen PEN-Zentrums. Wir waren schockiert, als wir neulich einen Aufruf des deutschen PEN-Zentrums gelesen haben. "Der Feind heißt Putin, nicht Puschkin", steht darüber. Die deutsche PEN-Sektion schreibt darin, es gebe auch in Russland viele Schriftsteller, "die Putins skrupelloser Gewaltherrschaft und diesem Krieg widersprechen". Aber wieso bleiben diese Schriftsteller dann in Russland? Warum bezahlen sie dort Steuern? Wieso protestieren sie nicht? Sie sind nicht Opfer dieses Staats. Meines Erachtens sind Sie Teil der Situation.
Ich bin in der Sowjetunion zur Welt gekommen, ich bin ehemaliger Sowjetbürger. Als ich 7 Jahre alt war, begann der Krieg in Afghanistan, als ich 17 war, endete er. Ich habe erlebt, dass Menschen vom Staat nur als Ressource gesehen wurden, was typisch ist für totalitäre Staaten. Aber die Situation im heutigen Russland ist sogar noch schrecklicher: Die Menschen sehen sich selbst als Ressource. Sie entmenschlichen sich selbst.
Für wie sinnvoll halten Sie angesichts dieses Befundes Verhandlungen mit Russland über ein Ende des Kriegs?
Russland versteht nur eine Sprache der Macht. Die gesamte Menschheit, auf jeden Fall aber die freie Welt muss größtmöglichen Druck auf Putin, auf den Kreml und auf Russland ausüben. Nur dann können wir mit den Russen sprechen. Ich habe es schon vor dem Krieg gesagt: Putin ist der Feind unserer Gegenwart, die russischen Liberalen sind die Feinde unserer Zukunft. Denn auch sie wollen Russland als Imperium erhalten. Die einzige Lösung, die ich sehe, ist die völlige Isolierung Russlands - ökonomisch, politisch, wissenschaftlich, kulturell, intellektuell.
Über den ukrainischen Präsidenten Selenskyj haben Sie vor drei Jahren gesagt, er sei eine "virtuelle Figur". Wie sehen Sie Selenskyj heute?
Ich bin kein Anhänger von ihm. Aber unsere Gesellschaft, mein Volk, die politische Nation der Ukraine befindet sich im Krieg, da werde ich den Präsidenten jetzt nicht kritisieren. Seine heutige Rhetorik, seine Kommunikation, seine Haltung unterstütze ich. Wenn der Krieg vorbei ist, können wir wieder über Politik diskutieren, da wir dann wieder freie Menschen in einem freien Land sind. Aber erst einmal müssen wir den Krieg gewinnen, erst einmal müssen wir unser Land, unsere Freiheit, unsere Würde, unser Leben, die ganze freie Welt und die menschliche Zivilisation gegen die Russen verteidigen - zusammen.
Mit Vakhtang Kebuladze sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de