Empörung über Urteil von L'Aquila Sind die Experten schuldig?
23.10.2012, 18:57 Uhr
Das Erdbeben zerstörte in L'Aquila hunderte Häuser.
(Foto: dpa)
In Italien müssen sieben Erdbebenforscher ins Gefängnis, weil sie nicht vor dem verheerenden Erdbeben von L'Aquila warnten. Wissenschaftler sind empört: Schließlich ließen sich Erdbeben gar nicht vorhersagen. Doch ganz so einfach ist der Fall nicht.
Seismologen weltweit können es nicht fassen: "Ich halte das für ein krasses Fehlurteil", sagt Christian Bönnemann, von der deutschen Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe. Die italienischen Kollegen hätten wissenschaftlich alles richtig gemacht, sagt Stefan Wiemer vom Schweizerischen Erdbebendienst. Viele weitere äußern Unverständnis. Schon zu Prozessbeginn unterschrieben 5000 Seismologen einen offenen Brief, in dem sie einen Freispruch fordern. Was war passiert?
Seit Januar 2009 waren die Menschen in den Abruzzen verunsichert. Wissenschaftler verzeichneten kleinere Bewegungen der Erde. Im März meldete sich der Wissenschaftler Giampaolo Giuliani zu Wort: Aus dem Boden trete Radongas aus, ein Beben stehe bevor, die Menschen sollten ihre Häuser verlassen. Dann wurde er wegen Fehlalarms bei der Polizei gemeldet und musste seine Internetseite löschen, auf der er gewarnt hatte. Einige Bewohner der Region schliefen dennoch weiter in ihren Autos, um im Ernstfall schnell fliehen zu können.
Am 31. März tagte die Expertenkommission, die Behörden zu den Risiken von Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Chemieunfälle und anderen Katastrophen berät. Der Chef der Zivilschutzbehörde erklärte einem Lokalpolitiker am Telefon, das Ziel sei, "sofort jegliche Schwachköpfe zum Schweigen zu bringen, Behauptungen zu widerlegen, Sorgen zu beschwichtigen und so weiter". Das Gespräch wurde abgehört. Um die Menschen wirklich zu überzeugen tagte die Kommission in L'Aquila selbst.
Im Protokoll der Beben-Kommission – das erst nach der Tragödie öffentlich wurde – heißt es, es sei "unwahrscheinlich", dass auf die kleinen Erdstöße ein großes Beben folgen würde. Gleichzeitig aber betonte die Kommission: "Es existieren keine Instrumente um Vorhersagen zu machen."
Schwarmbeben können Vorboten sein
Bernardino De Bernardinis, der als einziges Mitglied der damaligen Kommission kein Wissenschaftler ist, gab in der Presse Entwarnung: "Keine Gefahr", meldete er. Er riet der Bevölkerung, sich bei einem Glas Wein zu entspannen. Wie Hinterbliebene aussagten, überzeugte er damit 29 Menschen, am 6. April, dem Tag des Bebens, in ihren Häusern zu bleiben. Nur deswegen hätten sie sterben müssen.
Der Seismologe Roger Musson schreibt im britischen Wissenschaftsmagazin "New Scientist", die Beschwichtigung von De Bernardinis sei falsch gewesen. Zwar lassen sich Erdbeben nicht vorhersagen, doch dass kein Erdbeben stattfindet, lässt sich eben auch nicht prognostizieren.
Die italienischen Kollegen hätten wissenschaftlich alles richtig gemacht, sagt der schweizerische Experte Wiemer. Sogenannte Schwarmbeben, wie sie 2009 in der Region von L'Aquila auftraten, könnten zwar Vorboten größerer Beben sein, jedoch sei dies bei weniger als einem Prozent der Fall. Eine Studie seines Instituts ist zu dem Schluss gekommen, dass eine "Schwarmbeben-Aktivität nicht zu einer allgemeinen Evakuierung führen sollte", sagte Wiemer. Demnach bestand also wirklich keine Ursache, die Bevölkerung zu warnen. Dass die Entwarnung De Bernardinis gerechtfertigt war, ist damit aber auch noch nicht gesagt.
Warum aber die Wissenschaftler seiner Kommission nun verurteilt werden, ist den Kollegen schleierhaft: Enzo Boschi, Seismologe in der verurteilten Expertenkommission, bestritt, den Bewohnern von L'Aquila je versichert zu haben, es sei alles in Ordnung. "Finden Sie einen einzigen Zeitungsartikel, ein einziges Fernsehprogramm, ein Statement an die Presse in dem ich das getan habe?", fragte der 70-jährige Ex-Leiter des Nationalinstituts für Geophysik und Vulkanologie (Ingv). "Wir Seismologen können Erdbeben nicht vorhersagen. Es ist unmöglich, sie vorherzusehen."
"Das aus der Heimat von Galileo!"
Giuliani – der Wissenschaftler, der das Beben vorausgesagt hatte – fühlt sich durch das Urteil nun bestätigt, schreibt die Zeitung "Corriere della Sera". Einige Beobachter aber wenden ein, dass er Ort und Zeitpunkt des Bebens falsch angegeben hatte. "Er hatte Menschen empfohlen, unbeschädigte Regionen zu verlassen und in Regionen zu gehen, die zerstört wurden. Hätten sie auf ihn gehört, wären die Verluste schlimmer gewesen", sagt Wissenschaftler Musson.
Das Ingv warnte in einer Mitteilung vor einer "weltweiten" Wirkung des L'Aquila-Urteils. Wissenschaftler müssten nun Angst haben, in der Öffentlichkeit über Naturkatastrophen zu sprechen. Künftig riskierten sie Gerichtsverfahren, wenn sie falschen Alarm auslösen oder keine ausreichende Warnung aussprechen.
"Stellen Sie sich vor ein Wildbiologe käme ins Gefängnis, weil er den Angriff eines Grizzlybärs nicht vorausgesagt hat", schreibt Michael Halpern auf der Internetseite der US-amerikanischen Wissenschaftlervereinigung "Union of Concerned Scientists". Die Verurteilungen seien "eine absurde und gefährliche Entscheidung", die gekippt werden müsse. "Das aus der Heimat von Galileo! Einige Dinge ändern sich nie."
Quelle: ntv.de, che/dpa