Politik

Juristin erklärt die Rechtslage So funktioniert das neue Infektionsschutzgesetz

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Im neuen Infektionsschutzgesetz gibt es aus Sicht der Bundesländer "gewissermaßen drei Befugnisschichten", erklärt Andrea Kießling.

(Foto: picture alliance / SULUPRESS.DE)

Die Union wirft den Ampelparteien vor, dass den Ländern mit dem neuen Infektionsschutzgesetz nicht mehr alle Maßnahmen zur Verfügung stehen, die es bisher gab. "Einerseits stimmt das", sagt Andrea Kießling von der Uni Bochum, "andererseits muss man sagen, dass es zusätzliche Maßnahmen gibt". Im Interview mit ntv.de erklärt sie, welche Maßnahmen den Ländern zur Verfügung stehen - und was das Problem mit den Ministerpräsidentenkonferenzen ist.

ntv.de: Können Sie verstehen, dass Nicht-Juristen den Überblick verlieren im Streit zwischen den Ampelparteien und Union um die Änderung des Infektionsschutzgesetzes?

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Andrea Kießling lehrt Öffentliches Recht sowie Sozial- und Gesundheitsrecht an der Ruhr-Universität Bochum.

(Foto: privat)

Andrea Kießling: Das kann ich sehr gut verstehen. Die Verwirrung entsteht einerseits, weil mitunter nicht ganz klar ist, was gerade gilt und wann wer was anordnen darf. Und andererseits, weil viele Menschen nicht verstehen, warum die epidemische Lage von nationaler Tragweite gerade jetzt auslaufen soll.

Warum lassen die Ampelparteien die epidemische Lage auslaufen?

Die epidemische Lage von nationaler Tragweite gibt es seit 2020, sie ist die Grundlage für die Corona-Maßnahmen in den Bundesländern. Seit April dieses Jahres gilt sie immer nur für drei Monate, danach muss sie vom Bundestag verlängert werden. Wenn er das nicht tut, läuft sie automatisch aus. Dieses Auslaufen passiert am kommenden Donnerstag, am 25. November.

Aber warum?

Ende Oktober hatten SPD, Grüne und FDP das in einer Pressekonferenz damit begründet, dass die Voraussetzungen für die epidemische Lage nicht mehr vorliegen, weil die Intensivstationen und das Gesundheitssystem insgesamt nicht überlastet seien. Schon damals war allerdings nicht ganz eindeutig, ob das wirklich so war.

Die Ampelparteien, vor allem die FDP, argumentieren, dass die bisherige Rechtslage auf "tönernen Füßen" stand. Das ganze Infektionsschutzgesetz sei daher nicht rechtssicher gewesen.

Aus meiner Sicht war nicht immer ganz eindeutig, worauf sich dieses Argument bezieht. Zum Teil klang es so, als sei die Feststellung der epidemischen Lage nicht mehr rechtssicher, weil es mittlerweile so viele Geimpfte gibt. Aber die epidemische Lage fragt nur, ob das Gesundheitssystem überlastet ist oder nicht. Das hat nichts damit zu tun, wie viele Deutsche geimpft sind.

Zum Teil war damit gemeint, dass Ausgangsbeschränkungen unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig seien. Es ist natürlich begrüßenswert, dass man Maßnahmen aus dem Gesetz streicht, die man für verfassungswidrig hält. Zu den Ausgangsbeschränkungen im Frühjahr 2020 gab es vor ein paar Wochen ein Urteil des Verwaltungsgerichtshofs München, der diese für unverhältnismäßig hielt. Aber in Bezug auf andere Maßnahmen gab es weder in der Rechtsprechung noch in der Rechtswissenschaft eine Diskussion, dass da zwingend etwas gestrichen werden müsste.

Die Union wirft den Ampelparteien vor, dass den Ländern mit dem neuen Infektionsschutzgesetz nicht mehr alle Maßnahmen zur Verfügung stehen, die es bisher gab. Stimmt das?

Einerseits stimmt das, andererseits muss man sagen, dass es zusätzliche Maßnahmen gibt. Der Bundestag hat in das Infektionsschutzgesetz ein paar Regelungen aufgenommen, die jetzt unmittelbar gelten, ohne dass die Länder aktiv werden müssen. Aber es wurden auch Maßnahmen aus dem Katalog gestrichen. Für die Länder gibt es jetzt gewissermaßen drei Befugnisschichten.

Das müssen Sie erklären.

Es gibt nicht eine Regelung, in der alles drinsteht, sondern es gibt verschiedene Möglichkeiten. Die erste Möglichkeit ist: So lange die epidemische Lage noch besteht, können die Länder alle Maßnahmen verordnen, die sie auch bisher verordnen konnten. Denn die epidemische Lage wurde am Donnerstag vom Bundestag ja nicht beendet, sondern sie gilt noch ein paar Tage. Das betrifft alle Maßnahmen, die wir aus dem Winter 2020/21 kennen, einschließlich Lockdown, Ausgangsbeschränkungen und Schulschließungen.

Wie lange bliebe das gültig?

Wenn ein Bundesland eine entsprechende Verordnung bis zum 25. November erlässt, gilt das bis zum 15. Dezember - so steht es jetzt im Infektionsschutzgesetz. Sachsen und Bayern haben diese Woche direkt davon Gebrauch gemacht.

Und die zweite Möglichkeit?

Die zweite Möglichkeit, die nach dem 25. November besteht, ist: Die Landesregierungen beschließen wie bisher Verordnungen, aber hier sind Maßnahmen weggefallen: die Ausgangsbeschränkungen, die Schließung von Schulen, von Restaurants, Bars und Kneipen. Die Länder können den Zugang zur Gastronomie oder anderen Bereichen jeweils noch beschränken, etwa 2G oder 3G oder eine Maskenpflicht anordnen. Aber sie können nicht mehr alles schließen.

Fehlt noch die dritte Befugnisschicht.

Die dritte Möglichkeit können sich die Länder durch einen Beschluss im Landtag eröffnen. Wenn der Landtag beschließt, dass über den gerade geschilderten Rahmen hinaus Maßnahmen nötig sind, dann erhält die Landesregierung weitere Möglichkeiten. Der Landtag legt diese Maßnahmen nicht selbst fest, kann aber den Spielraum der Landesregierung durch seinen Beschluss erweitern. Darüber haben die Ampelparteien und die Union sich vorgestern im Bundestag gestritten.

Was so weit ging, dass Abgeordnete sich gegenseitig Passagen aus demselben Text vorgelesen haben, um völlig konträre Ansichten zu untermauern.

Genau. Was die Länder auch nach einem Landtagsbeschluss künftig nicht mehr anordnen dürfen, sind Ausgangsbeschränkungen. Sie dürfen auch die individuelle Sportausübung sowie Versammlungen und religiöse Zusammenkünfte nicht mehr verbieten. Auch Kitas und Schulen dürfen sie nicht mehr schließen, ebenso wenig die Gastronomie.

Was bleibt dann übrig?

Diskos und Klubs zum Beispiel - darum ging es in dem Disput zwischen den Abgeordneten Jan-Marco Luczak von der CDU und Dirk Wiese von der SPD (pdf). Diskos und Klubs gelten nicht als Gastronomie, sondern als Freizeiteinrichtungen. Das ist ein anderer Punkt im neuen Maßnahmenkatalog des Infektionsschutzgesetzes. Freizeiteinrichtungen dürfen weiterhin geschlossen werden. Das Gleiche gilt für Freizeitveranstaltungen wie zum Beispiel Weihnachtsmärkte.

Könnte der Bund mit der bisherigen Rechtslage gegen den Willen eines einzelnen Landes bundesweite Maßnahmen verhängen?

Das hatten wir bei der sogenannten Bundesnotbremse. Die galt bundesweit überall da, wo die Sieben-Tage-Inzidenz über 100 lag, beziehungsweise im Fall von Schulschließungen über 165. So macht der Bund das jetzt auch mit 3G am Arbeitsplatz, mit 3G in Bussen und Bahnen oder mit der Testpflicht in Pflegeheimen, allerdings unabhängig von einem bestimmten Schwellenwert. Das gilt unmittelbar in ganz Deutschland.

Eine weitere Möglichkeit ist, dass der Bundesgesundheitsminister oder die Bundesregierung Verordnungen erlassen. Aber auch diese Möglichkeit muss der Bundestag erst per Gesetz schaffen. Das gibt es beispielsweise bei den Testpflichten und Quarantäneregeln für Reiserückkehrer und Einreisende.

Am 22. Oktober haben die Länder in einer Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) den Bund aufgefordert, das Infektionsschutzgesetz so zu ändern, dass es keine Landtagsbeschlüsse mehr braucht. Ist das passiert?

Ja - das ist bei der jetzigen Änderung aufgenommen worden. Als Grüne und FDP im Sommer sagten, dass die epidemische Lage keine gute Grundlage für die Corona-Maßnahmen ist, gab es entsprechende Überlegungen auch in der Großen Koalition. Der CDU-Politiker Erwin Rüddel, in der letzten Legislaturperiode Vorsitzender des Gesundheitsausschusses, hat noch Ende Oktober gesagt, in der Union sei man sich einig, dass die epidemische Lage zum 25. November auslaufen solle. Schon vor der Bundestagswahl, im September, hatte die GroKo das Infektionsschutzgesetz deshalb so geändert, dass die Länder auch ohne epidemische Lage tätig werden konnten. Dafür mussten die Landtage jeweils einen Beschluss fassen. Die Landesregierungen wollten das aber jetzt im Herbst nicht: Die Ministerpräsidenten hatten die Befürchtung, dass sie in ihren Parlamenten nicht die notwendigen Mehrheiten für Corona-Maßnahmen sicher haben - etwa in NRW wegen der FDP oder in Bayern wegen der Freien Wähler.

Die Aufforderung, das Infektionsschutzgesetz wieder zu ändern, führte zu dem Ergebnis, das wir jetzt haben. Die Landesregierungen haben eine Reihe von Maßnahmen zur Verfügung, die sie ohne Landtag beschließen können. Nur für bestimmte Regeln brauchen sie die Landesparlamente. Rein rechtlich besteht übrigens weiterhin die Möglichkeit, dass der alte Maßnahmenkatalog wieder zur Anwendung kommt: wenn der Bundestag die epidemische Lage erneut feststellt - denn aus dem Gesetz gestrichen wurde die entsprechende Regelung nicht.

Würden Sie sagen, dass die etwas unklaren Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern sehr dabei helfen, Verantwortlichkeiten zu verschleiern?

Das kann man so sehen. Ein Beispiel: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat im August die Impfverordnung geändert, um für bestimmte Personengruppen Auffrischungsimpfungen zu ermöglichen. Man kann schon fragen, wer dafür verantwortlich ist, dass diese Booster-Impfungen dann nicht im nötigen Umfang stattgefunden haben.

Und, wo liegt die Verantwortung?

Die Länder sind für die Organisation dieser Impfungen zuständig. Aber das heißt natürlich nicht, dass das Bundesgesundheitsministerium das nicht besser koordinieren könnte.

Ich habe auch den Eindruck, dass die MPK ein Gremium ist, das politische Blockaden begünstigt. Einzelne Landesregierungen sagen sich offenbar: Bevor wir eine unpopuläre Entscheidung treffen, warten wir lieber noch ein paar Tage bis zur MPK. Ein paar Tage können in der Pandemie allerdings eine lange Zeit sein.

Mit Andrea Kießling sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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