Nur 20 Asylanträge in Österreich Warum Flüchtende nach Deutschland wollen
06.09.2015, 15:01 Uhr
Flüchtlinge auf dem Wiener Bahnhof wollen weiterreisen - zur "mitfühlender Mutter" Angela Merkel.
(Foto: REUTERS)
Zu Tausenden haben sich Flüchtlinge, die tagelang in Ungarn feststeckten, auf den Weg in den Westen gemacht. Im eigentlich so schönen Österreich wollten die meisten aber nicht bleiben. Warum eigentlich?
Am Tag danach kursiert eine erstaunliche Zahl: 20 der Flüchtlinge, die tagelang unter widrigen Bedingungen in Ungarn ausharrten, haben Asyl in Österreich beantragt, nachdem das Land sie ungehindert einreisen ließ. 20 von 10.000. Die anderen, so heißt es von den österreichischen Behörden, wollen nicht bleiben und seien auf dem Weg nach Deutschland.
Wie kann das sein? Warum wollen Menschen, die die Schrecken des Bürgerkriegs kennen und die menschenverachtende Politik von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán zu spüren bekommen haben, nicht in Österreich ein neues Leben beginnen? Einem Land, das eigentlich weithin für seine hohe Lebensqualität bekannt ist.
Natürlich ist die Zahl 20 zunächst einmal eine Momentaufnahme. Viele der Flüchtlinge, die am Samstag teils entkräftet, durchgefroren und hungrig in Österreich angekommen sind, hatten sicher andere Sorgen als sich schnellstmöglich offiziell registrieren zu lassen und einen Asylantrag zu stellen. Doch angesichts all der Menschen, die mittlerweile mit Sonderzügen schon in Deutschland angekommen sind, gibt es tatsächlich kaum Zweifel daran, dass die Flüchtlinge aus Ungarn die Bundesrepublik Deutschland der Bundesrepublik Österreich vorziehen.
Eine Kommunikationspanne
Hauptgrund dafür dürfte sein, was einige als Kommunikationspanne bezeichnen. Vor gut einer Woche drang eine interne Anweisung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) an die Öffentlichkeit. "Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger", so hieß es darin, "werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt vom Bamf weitestgehend faktisch nicht weiter verfolgt." Mit anderen Worten: Mitarbeiter der Behörde schieben syrische Flüchtlinge nicht mehr in die EU-Staaten ab, die sie auf ihrer Flucht als erstes betreten haben, obwohl das europäische Asylrecht das eigentlich verlangt.
"Faktisch" war das aber auch schon vor dieser Mitteilung der Fall. Von 44.000 Syrern im ersten Halbjahr 2015 schickte die Bundesrepublik nach Angaben des Innenministeriums nur 131 zurück. Die Meldung entwickelte aber eine gewaltige Eigendynamik. Nachdem sie zunächst in sozialen Netzwerken kursierte, teils ins Englische, teils ins Arabische übersetzt wurde, erreichte sie die Flüchtlinge am Budapester Keleti-Bahnhof und in den ungarischen Flüchtlingslagern im Stille-Post-Verfahren völlig verzerrt. Mal hieß es: Deutschland wolle 800.000 Syrer aufnehmen. Tatsächlich rechnet die Bundesregierung aber nur damit, dass in diesem Jahr 800.000 Menschen aus aller Welt Schutz in Deutschland suchen werden. Dann hieß es: Deutschland nehme jetzt alle Syrer auf, die es über die Grenze schaffen.
Die mitfühlende Mutter Merkel
Unter Syrern war schnell von der "mitfühlenden Mutter" Angela Merkel die Rede. Gedichte, die Deutschland und die Kanzlerin preisen, machten die Runde. Viele Syrer wollten einfach nur noch in dieses Land. Und es verwundert ja auch nicht, dass Menschen, die schlimmste Strapazen erlitten haben, die am Ende ihrer Kräfte sind, dieser Verheißung nachgeben.
Zudem macht die Republik ja auch unabhängig von der verzerrten Meldung über Deutschlands Haltung zu den Dublin-Regeln mit seiner "Willkommenskultur" auf sich aufmerksam. Die Bilder brennender Asylbewerberheime und eines rechtsradikalen Mobs, der Polizisten angreift, verblassen neben den Aufnahmen von dutzenden Deutschen, die mit Süßigkeiten und Applaus an Bahnhöfen strahlende Flüchtlinge in Empfang nehmen. Dazu eine Kanzlerin, die hoffnungsfroh verkündet: "Wir schaffen das." In einigen Nachbarstaaten Deutschlands ist schon von Merkel als "moralischer Anführerin" Europas ist die Rede.
Niedrige Anerkennungsquoten in Österreich
Für Syrer gibt es jenseits des Images Deutschlands weitere Gründe für ihre Entscheidung. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie langfristig bleiben dürfen, ist in Deutschland höher als in Österreich. Nach Angaben der europäischen Statistikbehörde Eurostat gewährte Deutschland im Jahr 2013 fast 95 Prozent der Syrer Schutz oder Asyl. Die Anerkennungsquote in Österreich lag im selben Zeitraum bei knapp 46 Prozent (Zahlen aus dem Jahr 2014 liegen für Österreich noch nicht vor).
Zudem gibt es bei den Sozialleistungen spürbare Unterschiede. Ein alleinstehender Asylbewerber bekommt in Deutschland zusätzlich zur Grundversorgung, also Unterkunft in einer Erstaufnahmeeinrichtung, Essen und Kleidung, derzeit 143 Euro Taschengeld. In Österreich sind es 40 Euro.
Zugleich sind die Voraussetzungen dafür, sich schnell ein selbstbestimmtes, unabhängiges Leben aufzubauen in Deutschland besser. Die Österreichische Tageszeitung "Der Standard" titelte im Mai: "Das Ende eines Musterschülers". Die Arbeitslosenquote stieg in diesem Monat mit 9,2 Prozent auf ein Rekordhoch. In Deutschland dagegen ist sie mit etwas mehr als 6 Prozent so niedrig wie seit zwei Jahrzehnten nicht mehr.
Zudem gilt: Zwar haben EU-Bürger Vorrang, aber Asylbewerber in Deutschland dürfen bereits nach drei Monaten im Land eine Arbeit aufnehmen. In Österreich ist dagegen bis zum Abschluss des Asylverfahrens eine sogenannte Beschäftigungsbewilligung nötig. Die wird nach Angaben des Arbeitmarktservices (AMS) in der Regel aber nur für Saisonarbeit im Gastgewerbe oder in der Landwirtschaft für die Dauer von sechs Monaten erteilt. Das Ergebnis: Von 50.000 Flüchtlingen in Österreich haben laut der Tageszeitung "Kurier" nur 200 eine Beschäftigungsbewilligung.
Wer Flüchtlinge auf ihrer Reise durch Europa begleitet, zum Beispiel von Italien in den Norden, stellt noch etwas fest: Viele Menschen auf der Suche nach Schutz hören zum ersten Mal von der Existenz eines Staates Österreichs, wenn sie hindurchfahren.
Quelle: ntv.de