Politik

Sklaverei mitten in Europa Willkommen in der vierten Welt

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(Foto: Ville Tietäväinen / Avant-Verlag 2014)

"Bei jedem Besuch im Supermarkt fühle ich mich wie ein Krimineller", sagt Ville Tietäväinen. Der Finne hat gesehen, wie in Südspanien Obst und Gemüse angebaut werden. Dort arbeiten illegale Immigranten in einer modernen Form der Sklaverei. Der Zeichner hat darüber ein erschütterndes Buch gemacht.

Zehntausende illegale Immigranten arbeiten in den Gewächshäusern Südspaniens - unter unmenschlichen Bedingungen.

Zehntausende illegale Immigranten arbeiten in den Gewächshäusern Südspaniens - unter unmenschlichen Bedingungen.

(Foto: REUTERS)

Nahezu täglich werden neue Zahlen vermeldet: Mal sind es Hunderte, zuletzt sogar Tausende Flüchtlinge, die von südeuropäischen Staaten im Mittelmeer aufgegriffen werden. Eine breite Diskussion darüber findet äußerst selten statt. Zuletzt war dies der Fall, als im vergangenen Oktober mehr als 300 Flüchtlinge kenterten und ums Leben kamen. Die damals angestoßene Debatte versandete allerdings recht schnell.

Warum wagen diese Menschen eine lebensgefährliche Reise nach Europa? Was sind ihre Hoffnungen und Träume? Was erwartet sie hier? Diese Fragen haben in der Diskussion um die Flüchtlinge sehr selten einen Platz. Der Finne Ville Tietäväinen ist ihnen nachgegangen. Er reiste nach Marokko und Südspanien, um jene Immigranten kennenzulernen, die die gefährliche Überfahrt überlebt haben und in riesigen Gewächshäusern arbeiten - illegal und unter unmenschlichen Bedingungen. "Als ich diese gewaltige Ungerechtigkeit sah, fühlte ich mich verpflichtet, sie darzustellen", erzählt er im Gespräch mit n-tv.de.

Ein Meer aus Plastik

Ein Meer aus Plastik: Wie Felder überspannen Folien von Gewächshäusern riesige Gebiete in Südspanien.

Ein Meer aus Plastik: Wie Felder überspannen Folien von Gewächshäusern riesige Gebiete in Südspanien.

(Foto: Ville Tietäväinen / Avant-Verlag 2014)

In Finnland lösten seine Zeitungsartikel zu dem Thema eine breite Diskussion aus. Nun legt Tietäväinen in Deutschland seinen Comic vor, der das Thema aufgreift und künstlerisch verarbeitet. Die Graphic Novel "Unsichtbare Hände", erschienen im Avant-Verlag, ist ein erschütterndes Zeugnis über Unmenschlichkeit, Sklaverei und Ausbeutung mitten in der EU. Es ist eine Lektüre, die lange nachhallt, weil sie jeden betrifft, der im Supermarkt Obst oder Gemüse aus Spanien kauft.

Seit 2001 beschäftigt sich Tietäväinen mit dem Thema. "Ich wusste damals nichts über das Leben dieser Immigranten und auch nichts über diese riesigen Gewächshäuser im spanischen Almería", so Tietäväinen. Die Gegend um die Hafenstadt wird auch "Mar del Plástico" genannt, Meer aus Plastik, weil riesige Gebiete von den Folien der Gewächshäuser bedeckt sind.

Rashid (l.) und Nadim kommen in Marokko eher schlecht als recht über die Runden.

Rashid (l.) und Nadim kommen in Marokko eher schlecht als recht über die Runden.

(Foto: Ville Tietäväinen / Avant-Verlag 2014)

Mit Hilfe des finnischen Sozialanthropologen Marko Juntunen reiste Tietäväinen 2005 nach Marokko und Südspanien. Während er in Marokko freundlich bei einer Familie aufgenommen wurde, gestalteten sich die Recherchen in Almería wesentlich schwieriger. "Die Immigranten dort misstrauen allen Europäern, weil sie mit uns keine guten Erfahrungen gemacht haben", erinnert sich Tietäväinen. "Sie haben Angst, dass man sie deportieren könnte." Schließlich fassten sie jedoch Vertrauen und zeigten den Finnen ihre Lebensverhältnisse. Nur die Arbeitsplätze blieben unzugänglich, weil sich die Besitzer dagegen sperrten.

Aus diesen Erlebnissen gestaltete Tietäväinen sein Buch. Es ist keine reine Dokumentation. Der Künstler hat die vielen Eindrücke zu einer fiktiven Geschichte destilliert, in der aber alle Orte und Charaktere einen realen Hintergrund haben. "Jede Figur vereint verschiedene Züge von Menschen, denen ich begegnet bin", sagt der Zeichner. Dieser Kniff ermöglicht ihm, den Weg einer einzelnen Person von Marokko nach Almería und weiter nach Nordspanien zu verfolgen. "Mir ging es darum, dieses komplexe Thema möglichst tiefgreifend darzustellen, aus der Perspektive einer Person."

Katastrophale Arbeitsbedingungen

Die Immigranten müssen ohne Schutzkleidung Pestizide versprühen - und fragen sich, wer wohl dieses Gemüse noch essen wird.

Die Immigranten müssen ohne Schutzkleidung Pestizide versprühen - und fragen sich, wer wohl dieses Gemüse noch essen wird.

(Foto: Ville Tietäväinen / Avant-Verlag 2014)

Diese Person ist Rashid. Der Marokkaner, der bei seinen Eltern in einem Armenviertel von Tanger lebt, hat eine Frau und eine Tochter. Doch der Schneider kommt kaum über die Runden. Als er schließlich auch noch seinen Job verliert, folgt der den Verlockungen eines Schleppers und wagt zusammen mit seinem Freund Nadim die gefährliche Überfahrt nach Europa. Doch in Spanien angekommen, lösen sich alle Vorstellungen vom europäischen Paradies in Luft auf.

Rashid kann zwar in einer jener riesigen Gewächshäuser arbeiten, doch dort herrschen katastrophale Bedingungen: Die Immigranten hausen in notdürftigen Hütten aus Folien, ohne fließend Wasser, Strom und sanitäre Anlagen. Sie müssen stundenlang schuften und ohne Schutzkleidung Pestizide versprühen. Vom Verdienst bleibt kaum etwas übrig, das sie nach Hause schicken könnten. Rashid etwa muss erst die Dienste des Schleppers abarbeiten. Statt seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen, gerät er in eine moderne Form der Sklaverei. Und das alles unter der permanenten Furcht, als Illegaler abgeschoben zu werden.

Blick aus dem All auf die Gegend um Almería und El Ejido: Die weißen Flächen sind Gewächshäuser.

Blick aus dem All auf die Gegend um Almería und El Ejido: Die weißen Flächen sind Gewächshäuser.

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

Auf dem Gebiet um Almería arbeiten etwa 90.000 Menschen, 40.000 bis 60.000 davon sind Illegale. Das besondere an "Unsichtbare Hände" ist, dass Tietäväinen die Geschichte konsequent aus deren Sicht erzählt. "Mir ging es darum, dass die europäischen Leser Verständnis für die Immigranten aufbringen, für ihre Träume und Hoffnungen." Dazu gehört, dass Tietäväinen zwar die Arbeitsbedingungen schonungslos aufdeckt, auf einer weiteren Ebene aber auch das Innenleben der Protagonisten ausleuchtet.

"In Marokko habe ich gesehen, welchen großen Anteil die Religion im Leben dieser Menschen einnimmt", erzählt er. Vor allem habe er gemerkt, wie unterschiedlich die Glaubensausrichtungen sind. "Ich möchte den Lesern zeigen, dass die Muslime kein großer, monolithischer Block sind, sondern dass es viele verschiedene Glaubensrichtungen gibt, die da aufeinanderprallen." So kommen in einer Schlüsselszene des Buches etwa zwei Islamisten zu den Immigranten, um sie für den Dschihad anzuwerben, stoßen jedoch auf taube Ohren. Die Immigranten haben ganz andere Probleme.

Kriminelle und Staat machen mit

"Unsichtbare Hände" ist bei Avant erschienen, 216 Seiten im Hardcover-Großformat, 34,95 Euro.

"Unsichtbare Hände" ist bei Avant erschienen, 216 Seiten im Hardcover-Großformat, 34,95 Euro.

So schneidet Tietäväinen etliche weitere Themen an: die Umweltverschmutzung in der Region, die Pestizidbelastung von Obst und Gemüse, die Konkurrenz zwischen den nord- und schwarzafrikanischen Immigranten, die sich gegenseitig beschuldigen, die Löhne zu drücken. Dargestellt wird aber auch die zweifelhafte Rolle der Polizei, die die Illegalen nach Almería schickt, wo billige Arbeitskräfte gesucht werden. Die Immigranten sind in einem System gefangen, in das Kriminelle und staatliche Stellen gleichermaßen verstrickt sind und aus dem es kein Entkommen gibt.

Dem Autor ging es aber nicht darum, ein politisches Buch zu schreiben und zu zeichnen. Er gibt auch keine Lösungen vor. "Ich wollte einfach ein bewegendes Drama schreiben", sagt er. Vor allem im letzten Drittel des Buches löst er sich zunehmend vom realen Hintergrund seiner Recherchen. Dann stehen Rashids Gefühle und sein Denken im Mittelpunkt, seine Suche nach Erlösung aus dieser Vorhölle. Tietäväinen will zeigen, was im Inneren von Menschen passiert, die um ihr Überleben kämpfen müssen.

Seine Zeichnungen passen sich diesem düsteren Thema an: Die Farben sind dunkel und ausgebleicht, es gibt nur wenig Licht. "Es sind symbolische Farben", sagt Tietäväinen. "Die Farben in Marokko sind komplementär zu denen in Europe." Zudem mischte der Zeichner Ölkreide und Wasserfarben, was eine bestimmte Textur ergibt. Öl und Wasser - dieser Gegensatz soll auch für das Verhältnis von Afrika und Europa stehen. Die Figuren und das Setting sind dafür realistisch gehalten. Vor allem gelingt es ihm, mit Text und Bild den Anspruch zu erfüllen, eine Dokumentation mit einem bewegenden Drama zu verbinden. Während der Text immer tiefer in die Gedanken von Rashid und den anderen Immigranten abtaucht, liefern die Bilder eine erschreckende Dokumentation über das unmenschliche Leben der Illegalen.

"Die meisten Geschichten, die ich hörte, waren sehr traurig", erinnert sich Tietäväinen an seine Reise nach Südspanien. Das kann man in "Unsichtbare Hände" nachempfinden. Das Buch erschüttert, macht nachdenklich, im besten Fall rüttelt es auf. Denn die Arbeitsbedingungen, unter denen die Immigranten schuften, sind die Grundlage für den Konsum in Westeuropa. Menschen wie Rashid werden ausgebeutet, damit auch in deutschen Discountern billiges Obst und Gemüse liegt.

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Quelle: ntv.de

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