Politik

Syrische Flüchtlinge in Jordanien Zaatari ist das Ende aller Hoffnung

Und dann ist da noch die Sehnsucht nach der Heimat, "wo wir glücklich waren", wie ein Mann sagt.

(Foto: Nora Schareika)

In der jordanischen Wüste steht das größte Flüchtlingslager der arabischen Welt. Zaatari ist eine gigantische Containerstadt mit 85.000 Syrern, die alles verloren haben. Der Winter stellt sie vor einen neuen Überlebenskampf.

Syrien ist hier in der Wüste so nah, dass sogar das Handynetz funktioniert. Auf einer Anhöhe im Zataari-Camp steht der Syriatel-Mast. Ohne ihn würden wohl tausende Menschen durchdrehen. In alle Richtungen erstreckt sich von dort aus das größte Flüchtlingslager der arabischen Welt. Zaatari ist eine Containerstadt mit rund 85.000 Einwohnern, auf 18 Quadratkilometern leben so viele Menschen wie in Flensburg. Doch Zaatari soll eigentlich keine Stadt sein. Das Lager soll ein Provisorium bleiben – so will es die jordanische Regierung, so wollen es aber auch die Bewohner. Zu unerträglich ist der Gedanke, dass dieses Leben auf einem gigantischen Campingplatz die Endstation sein soll nach unfassbaren Strapazen raus aus dem syrischen Bürgerkriegsgebiet.

Gemeindeanführer wie Osman Mukdad geben Zaatari eine Struktur.

Gemeindeanführer wie Osman Mukdad geben Zaatari eine Struktur.

Der Handymast sorgt immerhin für ein kleines bisschen Heimatgefühl in der jordanischen Einöde. "Ich kann nachts nur schlafen, wenn ich vorher mit meinen Verwandten drüben telefoniert habe", sagt Osman Mukdad. Er gehört zu den wenigen Menschen in Zaatari, die trotz quälender Sorge um die Angehörigen eine Aufgabe gefunden haben. Der kräftige Mann ist in seiner Straße zu einer Art Bürgermeister aufgestiegen. So viele entwurzelte Menschen auf einem Haufen, ohne Zentralgewalt und ohne etwas zu tun – da gibt es Probleme.

Mit der Ernennung solcher Gemeindeanführer ist Zaatari wieder ein bisschen mehr zu einem Ort mit Struktur geworden. Ohne solche Maßnahmen könnten die internationalen Hilfsorganisationen dieses logistische Megaprojekt nicht stemmen. Eine Wahl oder eine begrenzte Amtszeit gibt es für die Anführer nicht. "Das ist wie bei Assad", scherzt Mukdad. Es gab einen Konsens zwischen mehreren Männern und dann war er es eben. Der 34-Jährige strahlt Autorität aus, man könnte ihn sich gut in einer Provinz-Amtsstube vorstellen. Wenn es Streit in den Gemeinschaftsküchen gibt oder einfach jemand ausrastet, versucht Mukdad zu schlichten. Das sieht so aus: "Wir stürzen uns einfach drauf und bringen die Streithähne auseinander", beschreibt der Vater von sechs Kindern seine Einsätze. Das jüngste wurde in Zaatari geboren.

Eine neue Generation Flüchtlinge

Die Hälfte der Bewohner von Zaatari ist jünger als 18 Jahre. 20 Prozent sind sogar jünger als vier Jahre. Wie Familie Mukdad sind Tausende andere nach dramatischen Odysseen hier gestrandet, fast alle stammen aus der Region Daraa im Süden Syriens, wo im März 2011 der Aufstand gegen Präsident Assad seinen Anfang nahm. Seither flohen immer mehr Menschen aus der ländlichen Region ins nahegelegene Jordanien. Heute sind es rund 620.000. Und das sind nur die offiziellen Zahlen der beim UNHCR registrierten Flüchtlinge. Im Juli 2012 wurde Zaatari offiziell als Flüchtlingslager eröffnet und wuchs von da an monatlich um Zehntausende Menschen an.

Die Stadt aus dem Nichts: Zaatari liegt im Norden Jordaniens. Die syrische Grenze ist rund zehn Kilometer entfernt.

Die Stadt aus dem Nichts: Zaatari liegt im Norden Jordaniens. Die syrische Grenze ist rund zehn Kilometer entfernt.

(Foto: n-tv.de / stepmap.de)

Die meisten waren einmal Bauern, Händler oder Handwerker. Die Flüchtlinge aus Daraa waren nie reiche Leute, doch sie hatten ein warmes Zuhause, Felder oder Geschäfte. In einer Mischung aus Galgenhumor und Heimweh nennen sie im Camp jeden zweiten Esel "Baschar" - und dreschen auf die Tiere ein, als müssten sie nun stellvertretend für Assad büßen. Der Präsident ist für die meisten derjenige, der den Krieg heraufbeschworen hat. Nach Zaatari führt eine rumpelige Landstraße. Würde man, statt nach Zaatari abzubiegen, weiter geradeaus fahren, wäre man bald am Grenzübergang Jaber. Auf einem Schild an der Gabelung steht: "Syrian border. 6 km".

Zaatari nimmt keine neuen Flüchtlinge mehr auf. Stattdessen sollen jetzt die letzten 1500 Familien, die noch in Zelten leben, in Containern untergebracht werden. Trotz des Aufnahmestopps wächst Zaatari weiter und hat so manche Provinzstadt an Einwohnern überrundet. Jeden Tag werden 15 Kinder geboren, hinein in ein Leben als Flüchtling. Auch bei Familie Al-'Alu ist es wieder soweit. Arife al-'Alu erwartet ihr fünftes Kind. Sie ist schon drei Tage über dem Geburtstermin und beunruhigt. "Ich war heute und gestern am Krankenzelt. Aber es war niemand da. Ich weiß jetzt auch nicht...", sagt die hochgewachsene Frau und drückt ihren dreijährigen Sohn, der immer wieder ihre Nähe sucht.

Trotz ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft bewegt Arife al-'Alu sich behende und trägt ein Tablett mit silbernen Kaffeetassen für die Gäste herein. Tage zuvor habe man ihr gesagt, dass es wohl auf einen Kaiserschnitt hinauslaufe. Doch jetzt kümmert sich keiner um sie. An eine medizinische Versorgung nach einem solchen Eingriff ist ohnehin nicht zu denken, weil die Kapazitäten gerade für die Notfälle reichen. Mit ihren bangen Gedanken um das Baby und sich selbst ist sie allein. Die 36-jährige Mutter hat sich längst damit abgefunden, dass sie ihr Schicksal nicht mehr selbst bestimmen kann. Und so wartet sie einfach ab.

"Es gibt nichts Schönes in Zaatari"

Vor rund acht Monaten ist die Familie aus einem kleinen Dorf nach Zaatari gekommen. Abdallah al-'Alu hatte in Anchall ein Gemüsegeschäft und verdiente genug, um Geld zur Seite zu legen. Das rettete der Familie das Leben. Acht Tage seien sie unterwegs gewesen, berichtet er und zählt die Etappen auf wie einen Bahnfahrplan. Die ersten 40 Kilometer führten sie durch von den Regierungstruppen kontrolliertes Gebiet. An Schleuser zahlte Abdallah 15.000 syrische Pfund – pro Person. Das entspricht rund 70 Euro und ist etwa das Dreifache eines syrischen Beamtengehalts. Die nächste Etappe führte durch ein Gebiet, das von Milizen kontrolliert wurde. Dort bezahlte der Vater weitere 3000 Pfund pro Person.

Jede Familie erhält einen Container mit der notwendigen Grundausstattung zum Leben.

Jede Familie erhält einen Container mit der notwendigen Grundausstattung zum Leben.

Für das letzte Stück mussten die Eltern mit den vier Kindern noch einmal umsteigen und mehrere Kilometer durch die Wüste laufen. "Unser Jüngster wäre fast umgekommen vor Durst und Erschöpfung", berichtet Abdallah. Mit Dutzenden anderen Familien fuhren sie danach in einem Lkw bis zur syrisch-jordanischen Grenze – wieder gegen einen Schleuserzoll von 2000 Pfund pro Person. Am Ende war Abdallah 120.000 syrische Pfund (ca. 560 Euro) ärmer, doch die Familie in Sicherheit. Die jordanische Armee sammelte sie schließlich nach einer bitterkalten Märznacht im Freien ein und brachte sie nach Zaatari. "Wer kein Geld hat, kommt nicht raus", sagt Abdallah al-'Alu und kann sich nicht freuen, obwohl er es geschafft hat.

Denn was kommt, wagt er sich gar nicht auszumalen. "Wir haben keine Hoffnung, auf gar nichts mehr. Die nächsten fünf oder zehn Jahre wird sich nichts ändern", sagt der 36 Jahre alte Familienvater. "In Zaatari gibt es nichts Schönes, nur Essen und Sicherheit." Für seine Frau Arife und die Kinder hat er trotzdem sein letztes Geld in das Exil-Zuhause investiert, das er eigentlich gar nicht will. Vor dem Container hat er auf mehreren Quadratmetern Estrich verteilt und aus den Stangen und Planen eines alten UNHCR-Zeltes einen Vorraum gebaut. "Wenn ich könnte, würde ich morgen zurückgehen. Aber die Lage in Syrien ist katastrophal. Da ist nichts mehr. Unser Haus ist weg. Es gibt keine Schulen, nichts. Es gibt keinen Weg zurück", sagt Abdallah und während er das ausspricht, flackert Panik in seinen Augen auf. Hier im Camp gehen die beiden ältesten Kinder wenigstens in eine der Schulen der Hilfsorganisationen.

Es fehlen Millionen für die Wintervorbereitungen

Mehr als 30 NGOs und Hilfsorganisationen organisieren für die Containerstadt Lebensmittel, Grundausstattung, medizinische Nothilfe und ein Minimum an sozialen Projekten. Die Lagerleitung versucht jeden Eindruck zu vermeiden, das Camp könne eine Dauerlösung werden. Das heißt auch: keine Häuser dürfen gebaut werden, obwohl die im Winter mehr Schutz böten und weniger Heizenergie bräuchten. Dabei hat Zaatari bereits alles, was eine kleine Stadt auch hat – nur mit deutlich schlechteren Standards. Es gibt drei Krankenhäuser, fünf Schulen und eine Einkaufsstraße, die die Bewohner "Champs Elysees" genannt haben.

Doch die Linie der jordanischen Behörden ist eindeutig: In Zaatari soll sich nicht die Geschichte der Palästinenser wiederholen. Rund zwei Millionen Palästinenser leben in Jordanien, viele seit fast 70 Jahren und inzwischen mit jordanischer Staatsangehörigkeit. Ihre einstigen Flüchtlingslager sind inzwischen zu Städten und Stadtvierteln innerhalb der Hauptstadt Amman geworden. So spricht Lagerleiter Colonel Abd al-Rahman al-Amoush nur davon, dass man nun richtige Wasserleitungen verlegen und einen Teil der Elektrizität über Solarenergie organisieren wolle. Allein der Stromverbrauch im Lager, wo es ab 17 Uhr stockdunkel ist, beläuft sich auf monatlich 800.000 US-Dollar.

Für die Hilfsorganisationen zählt jetzt jeder Tag. Im vergangenen Jahr waren alle im Camp von dem ungewöhnlich kalten und langen Winter überrascht worden. Tagelang lag Schnee, es gab nicht genug Öfen und warme Kleidung. "Es war furchtbar", sagt Wejdan Jarrah, eine Mitarbeiterin des Lutherischen Weltbundes in Zaatari. "Die Menschen hier haben irgendwann aus Verzweiflung die Helfer angegriffen, weil es an allem fehlte. Sie saßen in ihren Zelten und hatten nichts Wärmendes."

Lesen Sie hier ein Interview mit LWB-Mitarbeiterin Wejdan Jarrah

Diesen Winter soll es besser werden, doch es fehlt an Geld. Der LWB etwa, eine eher kleine Hilfsorganisation, möchte für 1500 Familien ein Winterpaket schnüren mit Decken, Gasöfen und warmer Kleidung. Das kostet 75 Euro pro Familie, insgesamt 125.000 Euro. Bisher ist nur ein Bruchteil davon finanzierbar. Der UNHCR bezifferte unlängst den Fehlbetrag für das Winterprogramm für die syrischen Flüchtlinge in Jordanien auf 58 Millionen US-Dollar.

All der Verbote zum Trotz haben manche der Zaatari-Bewohner schon angefangen, sich auf einen längeren Aufenthalt einzustellen – und Häuser gebaut. In Pilotprojekten haben einige im Sommer Lehmziegel hergestellt und kleine Häuschen in der Größe der Container daraus gebaut. Zusammen mit dem Syriatel-Mast wird Zaatari so ein wenig erträglicher.

Syrische Flüchtlinge in Jordanien
  • Seit März 2011 sind 3,2 Millionen Syrer in angrenzende Länder geflohen.
  • In Jordanien sind 620.000 syrische Flüchtlinge beim UNHCR registriert.
  • 98.000 davon leben in drei Lagern, weitere 522.000 in "Aufnahmegemeinden".
  • Jordanien hat selbst nur 6,3 Millionen Einwohner, ein Drittel davon sind palästinensische Flüchtlinge.

Details zum Zaatari-Lager

  • Lage: weniger als 10 Kilometer südliche der syrischen Grenze
  • Zweitgrößtes Flüchtlingslager der Welt (85.000 Bewohner)
  • Unterbringung in Containern (ca. 15 Quadratmeter), heute noch 1.500 Zelte. Der Bau von festen Behausungen ist untersagt
  • Die Versorgung erfolgt über Lebensmittelkarten
  • Seit der Eröffnung im Juli 2012 sind im Lager sind 6000 kleine Läden und Werkstätten entstanden
  • 6 Krankenstationen und 3 Hospitäler sicher die medizinische Grundversorgung
  • Mehr als 50 Prozent der Flüchtlinge sind Minderjährige
  • 17.000 Kinder gehen in die im Lager eingerichteten Schulen
  • Jede Straße hat einen Gemeindeanführer, der das Zusammenleben organisiert, z.B. Nachtwachen

Wintervorbereitungen in Zaatari

  • Von Dezember bis März können die Temperaturen in der Wüste auf um die null Grad sinken. Das ist besonders gefährlich für Menschen in Zelten und einfachsten Behausungen
  • 15.000 Familien sind nach Angaben von Hilfsorganisationen nicht ausreichend für den Winter ausgestattet.
  • Allen Hilfsorganisationen fehlt dieses Jahr das Geld für Winterprogramme; UNHCR beziffert den Fehlbetrag auf 58 Mio US-Dollar insgesamt
  • Der Lutherische Weltbund (LWB) will 1500 syrische Familien mit Heizöfen, Gas, Decken und Winterkleidung ausstatten. Die Kosten belaufen sich auf 75 Euro pro Familie, insgesamt 125.000 Euro

Spendenkonto des LWB

IBAN: DE21 5206 0410 0000 4195 40
BIC: GENO DE F1 EK1
Stichwort: Jordanien
www.dnk-lwb.de/spenden

Quelle: ntv.de

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