Die Folgen von Fukushima Zehntausende Krebsfälle zu erwarten
06.03.2013, 16:35 Uhr
Die Stadt Namie in der Präfektur Fukushima ist weiterhin leer, die Einwohner dürfen nur für wenige Stunden zurückkehren. Sie tragen dann Schutzkleidung - wie dieses Ehepaar.
(Foto: dpa)
Mehr als hunderttausend Japaner könnten infolge der Reaktorkatastrophe von Fukushima in den nächsten Jahren an Krebs erkranken, sagen Experten voraus. Der Weltgesundheitsorganisation werfen sie dramatische Verharmlosung vor. Kritiker befürchten, dass es nicht nur in Japan eine Rückkehr zur Kernkraft geben könnte.
Vielleicht schauen die Journalisten ein wenig verwirrt angesichts der vielen Tabellen. "Zahlen sind nicht der springende Punkt", fasst Henrik Paulitz von der Ärzte-Organisation IPPNW am Ende zusammen. "Der springende Punkt ist, dass ein Land nach einer solchen Katastrophe großflächig betroffen ist." Das versteht jeder.

Das Erdbeben am 11. März 2011 sorgte für eine Havarie im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi.
(Foto: dpa (Abc TV))
Zumindest in Deutschland. Knapp 9000 Kilometer östlich, in Japan, wird der Bevölkerung derzeit etwas ganz anderes gepredigt. Zwei Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima bereitet der konservative Ministerpräsident Shinzo Abe die Rückkehr seines Landes zur Atompolitik vor. Sein zentrales Argument klingt auch deutschen Ohren vertraut: Ohne Atomstrom gebe es keine stabile Energieversorgung.
Doch Kernenergie ist vor allem eine Frage des Vertrauens. Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima war das zunächst weg. Japans Regierung hat mehrere Maßnahmen ersonnen, um es wiederzugewinnen. Von den insgesamt fünfzig japanischen Atomanlagen sind derzeit nur zwei in Betrieb. Im Januar legte die neue Atomregulierungsbehörde des Landes Pläne zur Verschärfung der Sicherheitsnormen für die Kernkraftwerke vor. Man will zeigen, dass man aus der Katastrophe von Fukushima gelernt hat.
Henrik Paulitz hat kein Vertrauen, nicht in die japanische Regierung, auch nicht in die deutschen Behörden. Er befürchtet, dass es auch hierzulande schon in wenigen Jahren eine Kampagne für eine Laufzeitverlängerung geben könnte. Zusammen mit dem Kinderarzt Winfried Eisenberg stellt er daher in Berlin einen Bericht der IPPNW vor, in dem es um die gesundheitlichen Folgen der Reaktorkatastrophe von Fukushima geht. Erst vor wenigen Tagen hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO eine Studie veröffentlicht, deren Kernaussage Entwarnung war: Umfangreiche Untersuchungen hätten ergeben, dass "keine messbaren Steigerungen der Krebsraten über das Basisniveau hinaus zu erwarten sind".
4300 fehlende Kinder

In der Präfektur Fukushima: Mit einem Ultraschall untersucht ein Arzt die Schilddrüse einer jungen Frau.
(Foto: REUTERS)
Die Zahlen, die Eisenberg vorträgt, sprechen eine andere Sprache: 2011, im Jahr der Katastrophe, starben in Japan 75 Neugeborene mehr, als statistisch zu erwarten war. Im Dezember 2011 fehlten mehr als 4300 Geburten. "Es ist anzunehmen, dass viele Embryonen in sehr frühen Phasen strahlenbedingt abgestorben sind", sagt Eisenberg. Eine Reaktion auf den Tsunami als Hauptursache für den Geburtenknick schließt der von Eisenberg zitierte Wissenschaftler, Alfred Körblein, aus - der Effekt sei auf einen Monat beschränkt. Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hatte Körblein einen ähnlichen Effekt in Bayern beobachtet.
Eisenberg betont, wegen ihres schnelleren Wachstums seien Kinder um ein Vielfaches strahlensensibler als Erwachsene; das höchste Risiko hätten Embryos. Denn: "Zellen in Teilung erleiden viel leichter Strahlenschäden als ruhende Zellen." Kinder und Schwangere hätten daher aus einer viel größeren Zone evakuiert werden müssen als Erwachsene.
Eisenberg kritisiert, dass es nach der Reaktorkatastrophe in Japan keine Jod-Prophylaxe gegeben habe. "Die Schilddrüsen waren also nicht blockiert und nahmen das radioaktive Jod 131 begierig auf." Bis März 2012, so ergab eine Untersuchung der japanischen Behörden, wurden bei 41,8 Prozent der Kinder in der Präfektur Fukushima Schilddrüsenknoten und -zysten diagnostiziert. Bei Erwachsenen seien solche Befunde nicht selten, "bei Kindern stellen sie aber normalerweise eine absolute Rarität dar". Statistisch gesehen sei zu erwarten, dass jedes vierte betroffene Kind an Schilddrüsenkrebs erkranken werde, so Eisenberg. Dass bislang nur einzelne Fälle dokumentiert wurden, überrascht den Arzt nicht. Aus Tschernobyl sei bekannt, dass es zwei bis zwölf Jahre dauere, bis eine Krebserkrankung diagnostiziert werde. Für Japan befürchtet Eisenberg für die nächsten Jahre "sehr viele Erkrankungen dieser Art".
Der "Knebelvertrag" der WHO
Ebenfalls am Mittwoch präsentierte der BUND ein Gutachten über die Sicherheit deutscher Kernkraftwerke. Danach sind etliche der neun noch laufenden Reaktoren nach wie vor nicht ausreichend vor möglichen Erdbeben oder Hochwasser geschützt. Hinzu kämen Risiken durch Brände, altersbedingte Ausfälle von Sicherheitssystemen oder eine mangelnde Sicherheitskultur. Kein deutsches Akw sei bisher hinreichend gegen einen Ausfall der Stromversorgung abgesichert. Wie die IPPNW fordert der BUND von den Parteien, sich für einen "sofortigen Atomausstieg" einzusetzen.
Den WHO-Bericht kritisiert die IPPNW als grobe Verharmlosung. So werde zwar die Häufung von Schilddrüsenknoten und -zysten erwähnt, jedoch verschwiegen, dass sie bei Kindern als Krebsvorstufe anzusehen sei. Auch die erhöhte Säuglingssterblichkeit werde von der WHO unterschlagen. Den Grund für die Zurückhaltung der WHO sieht Eisenberg in einem "Knebelvertrag" zwischen der UN-Gesundheitsorganisation und der internationalen Atomenergiebehörde IAEA aus dem Jahr 1959.
In diesem Abkommen, das Eisenberg einen "Skandal" nennt, findet sich der Satz: "Wenn eine der beiden Parteien eine Aktivität oder ein Programm in einem Bereich beginnen will, der für die andere Partei von Interesse ist oder es sein könnte, wird sie die andere Partei konsultieren, um die betreffende Frage einvernehmlich zu regeln." Mit anderen Worten: Die WHO ist gezwungen, in ihren Verlautbarungen auf die IAEA Rücksicht zu nehmen - auf eine Organisation also, deren ausdrückliches Ziel die Förderung der friedlichen Nutzung der Kernkraft ist.
Mehr als 100.000 Krebsfälle zu erwarten
Anders als die WHO rechnet die IPPNW auf der Basis offizieller Messwerte mit bis zu 80.000 Krebserkrankungen aufgrund äußerer Strahlenbelastung und 37.000 weiteren Fällen infolge von kontaminierter Nahrung. Macht zusammen 117.000 Fälle. Paulitz betont, dass es sich bei den Zahlen nicht um exakte Prognosen, sondern um statistisch errechnete Größen handelt.
Für Japan ziehen Eisenberg und Paulitz einen klaren Schluss aus ihren Tabellen: Erforderlich sei eine "engmaschige" Überwachung der gesundheitlichen Folgen von Fukushima. Ihren Bericht will die IPPNW auch in Japan veröffentlichen, doch ob er dort auf große Resonanz stoßen wird, erscheint fraglich: Außerhalb der Sperrzone ist die öffentliche Meinung eher an einer Rückkehr zur Normalität interessiert.
In Berlin betont Paulitz derweil, dass nach einer Analyse der IPPNW nicht der Tsunami, sondern das Erdbeben "der alles überragende Auslöser" der Reaktorkatastrophe war. Die Annahme, der Unfall sei "auf eine unglaubliche Sondersituation zurückzuführen", sei nicht haltbar. Sein Kollege Eisenberg verweist darauf, dass es in der Nähe des Atomkraftwerks Philippsburg am 14. und am 17. Februar leichte Erdbeben gegeben habe. "Die seismische Aktivität im Bereich des Rheingrabens kann auch zu stärkeren Beben führen", sagt er. "Was dann in Philippsburg oder Neckarwestheim geschehen könnte, mitten in Europa, können Sie sich selbst ausmalen."
Quelle: ntv.de