Aufarbeitung des Missbrauchs Darüber müssen wir reden
09.07.2010, 09:02 Uhr
Missbrauch findet in einem bestimmten Umfeld statt.
(Foto: picture alliance / dpa)
Die aktuelle Missbrauchsdebatte ist schon die zweite in Deutschland. Um neuen Fällen wirksam vorzubeugen, muss die Gesellschaft wirkliche Veränderungen anstoßen.
Im Januar trat der Rektor des Canisius-Collegs in Berlin mit der Tatsache an die Öffentlichkeit, dass an der katholischen Elite-Schule Kinder jahrelang und systematisch sexuell missbraucht wurden. Seitdem hat Deutschland wieder eine veritable Missbrauchsdebatte. Es ist schon die zweite. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre gab es schon einmal heftige Diskussionen um den sexuellen Missbrauch von Kindern. Im Zuge der Emanzipationsbewegung der Frauen waren vor allem Übergriffe auf Mädchen in der Familie thematisiert worden. Jetzt stehen Übergriffe auf Jungen im institutionellen Rahmen im Vordergrund.
Das Durchschnittsalter der Betroffenen, die sich beispielsweise bei der Bundesbeauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs melden, liegt bei 50 Jahren. Wenn man also davon ausgeht, dass sie im Alter von 10 bis 15 Jahren Opfer sexueller Gewalt wurden, dann geschah ein Großteil der Taten, über die wir heute reden, während Deutschland über Missbrauch debattierte.
Diskurs mit Blick in die Zukunft

Sophinette Becker plädiert für mehr Transparenz.
(Foto: privat)
Sophinette Becker, Leitende Psychologin der Sexualmedizinischen Ambulanz am Klinikum der Goethe-Universität in Frankfurt, betont im Gespräch mit n-tv.de, dass für unsere Sicht auf den Missbrauch offenbar der jeweilige gesellschaftliche Diskussionsstand wesentlich ist. Für die 1980er Jahre bedeutet das: "Der Diskurs über sexuellen Missbrauch war damals nicht der, der er heute ist."
Genau das wird man wohl in 20 Jahren auch über die heutige Debatte sagen können. Deshalb gilt es heute den Blick zu weiten auf all jene Bereiche, die derzeit noch in den Blindfeldern liegen, und über die Schritte zu reden, die sonst in einigen Jahren als Versäumnisse benannt werden.
Autoritäre Verhältnisse öffnen
Becker gibt zu bedenken: "Die jetzt aufgedeckten Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirche und in Internaten haben gemeinsam, dass sie in geschlossenen Systemen stattfanden." Wer jetzt also auf die Kirche oder die Reformpädagogik einschlägt, vergisst, dass ein solches geschlossenes System auch ein Chor oder ein Sportverein sein könnte. Man muss aber nach Beckers Ansicht dafür sorgen, dass "es keine geschlossenen Systeme mehr gibt, in denen Kinder von einer oder mehreren Personen abhängig sind und da nicht rauskönnen."
Überlegungen dafür gibt es längst, je transparenter eine Einrichtung für Außenstehende ist, desto geringer ist die Gefahr sexueller Übergriffe. Auch Beschwerdesysteme für die Kinder können ein Ansatz sein. Denn die Kinder spüren nach Ansicht von Sexualwissenschaftlern nahezu ausnahmslos, dass eine Grenze überschritten wird. "Aber sie sehen", so Becker, "keine Möglichkeit, sich jemandem anzuvertrauen."
Pädosexualität als Krankheit verantworten

Nicht um Täterschutz geht es Christoph Joseph Ahlers, sondern um ernst genommenen Kinderschutz.
Mit dem Berliner "Präventionsprojekt Dunkelfeld" hat die Auseinandersetzung mit einem weiteren Aspekt begonnen. Hier erhalten vor allem Männer vorbeugend therapeutische Hilfe, damit sie nicht zu Tätern werden. Der Sexualpsychologe gibt allerdings im Gespräch mit n-tv.de zu bedenken, dass bereits ein solches Projekt an die Grenzen dessen stößt, was die Gesellschaft akzeptieren kann. "Hier müsste es gelingen, eine differenziertere Betrachtung in das gesellschaftliche Wertebild zu integrieren. Nicht die Impulse, die Gedanken oder die sexuelle Ansprechbarkeit durch Kinder sind der Makel, sondern die Tat."
Ahlers vertritt die Auffassung, dass Pädosexualität eine unabänderliche Sexualpräferenz ist und schlägt als Konsequenz für alle Menschen, die mit Kindern arbeiten wollen, ein wissenschaftliches Screening vor. Eine Idee, die auch unter Sexualwissenschaftlern umstritten ist. Es sei ernst genommener Kinderschutz, von künftigen Lehrern, Pfarrern, Trainern oder Chorleitern zu verlangen, sich "ihrer Sexualpräferenz klar zu werden". Der Pädosexuelle als Patient, der allerdings in die Pflicht genommen wird, mit seiner Krankheit verantwortungsvoll umzugehen, ein Ansatz, der noch geradezu ungeheuerlich erscheint.
Geld für die Sexualforschung
Mit der Bundesbeauftragten zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs und einem für Missbrauchsopfer gibt es deutliche politische Zeichen, sich des Themas ernsthaft anzunehmen. Darüber hinaus allerdings muss genau das aber in Frage gestellt werden. Sowohl Ahlers als auch Becker mahnen, dass die Sexualwissenschaft in Deutschland nicht ernst genug genommen und vor allem nicht ausreichend finanziert wird. Für Ahlers‘ Screening-Idee gibt es die Verfahren längst. "Was fehlt, sind die Leute, die das sachverständig handhaben können. Kein Facharzt oder Fachtherapeut lernt die Diagnostik und Behandlung sexueller Störungen. Auch da ist die gesellschaftliche Ausgrenzung des Themas Sexualität universitär etabliert."
Becker gibt zu bedenken, dass in der Ausbildung vieler Psychotherapeuten das Thema Sexualität kaum zur Sprache kommt. Hinzu kommt, dass, wenn man die Familie an dieser Stelle einmal außer Acht lässt, Jungs am häufigsten in Institutionen missbraucht werden, Mädchen aber in Therapieeinrichtungen. Deshalb setzt sich Becker dafür ein, "dass in allen therapeutischen Ausbildungen darüber gesprochen wird, dass es passieren kann, dass man sexuelle Empfindungen gegenüber dem Patienten hat. Das ist kein Verbrechen, das man verdrängen muss. Sondern es ist eine Empfindung, die man reflektieren kann. Damit muss man lernen umzugehen, und man darf es eben auf keinen Fall umsetzen." Genau dafür aber bedarf es Lehrstühle und Gelder, die in den vergangenen Jahren deutlich weniger geworden sind.
Jedes Jahr gibt es in Deutschland rund 15.000 Anzeigen wegen sexueller Übergriffe auf Kinder. Nach Schätzungen von Fachleuten werden allerdings jährlich zwischen 250.000 und 300.000 Kinder missbraucht, Mädchen etwa dreimal so oft wie Jungen. Sexueller Missbrauch ist kein Zeitgeistthema, sondern für viele Kinder schmerzvolle Realität, deren Folgen weit in ihr Erwachsenenleben reichen.
Quelle: ntv.de