Islam-Kritiker fährt nach Ägypten "Sie stehen sich selbst im Wege"
05.11.2010, 12:07 Uhr
Blick auf die Sultan Hassan Moschee in Kairo.
(Foto: picture-alliance/ dpa)
Hamed Abdel-Samad hat ein Buch über den Untergang der islamischen Welt geschrieben. Es ist anders als viele islamkritische Bücher: Hinter der Kritik von Abdel-Samad steht nicht Ablehnung, sondern Sympathie: "Ich kritisiere sie, weil ich sie mag, weil ich mir Sorgen mache um sie", sagte er Anfang Oktober im Interview mit n-tv.de. Deshalb erscheint sein Buch auch in Ägypten. Zur Buchvorstellung fuhr Abdel-Samad hin.
n-tv.de: Wie waren die Reaktionen auf Ihr Buch in Ägypten?
Hamed Abdel-Samad: Es gab zwei Buchvorstellungen. Die erste war bei meinem Verleger, in den Verlagsräumen. Es war eine kleine Veranstaltung, die meisten Anwesenden waren junge Leute, Schriftsteller und Journalisten. Die Diskussion war heftig, aber zu keinem Zeitpunkt aggressiv. Viele teilten mit mir die These des Untergangs. Das Problem für sie ist die Rolle des Islam bei diesem Untergang, da können sie nicht folgen. In Ägypten sind auch kritische Intellektuelle gläubige Muslime. Sie wollen den Islam eher als Teil der Lösung ansehen, nicht als Teil des Problems.
Ihre Zuhörer wollen den Islam in die Moderne retten?
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Hamed Abdel-Samad kam 1972 bei Kairo zur Welt. Seit 1995 lebt er in Deutschland. 2010 wurde er in die Deutsche Islam-Konferenz berufen.
(Foto: Raimond Spekking / Wikimedia unter cc-by-sa-3.0)
Genau. Bei der zweiten Veranstaltung hatte ich eine Einladung von Alaa al-Aswani, das ist Ägyptens berühmtester Schriftsteller, ein Weltbestseller-Autor, in der arabischen Welt ist er die Nummer eins, in Ägypten sowieso. Er lud mich ein zu seinem Salon. Die Diskussion war viel intellektueller, aber auch unter den Intellektuellen musste ich feststellen, dass sie sich nicht befreien können von diesen Ressentiments gegenüber Europa, von der Verführung, den Westen für alles verantwortlich zu machen. Und auch sie haben Probleme damit, die Konstruktionsfehler des Islam anzuerkennen. Man flüchtete ständig in Vergleiche: Auch im europäischen Mittelalter habe es Ungerechtigkeit und Verfolgung gegeben, Europa sei noch aggressiver und intoleranter gewesen und so weiter.
Wie haben Sie reagiert?
Ich habe gesagt, dass ich mich nicht für die negativen, sondern für die positiven Vergleiche interessiere: Wie haben Europa und andere Teile dieser Welt es geschafft, aus dieser Phase herauszukommen? Sicherlich nicht mit Selbstverherrlichung und dem Beharren auf Traditionen, sondern mit kritischem Geist.
Welche Reaktion hat Sie am meisten gefreut?
Bei meinem ägyptischen Verleger waren viele junge Menschen, die das Buch sehr gut verstanden haben. Nachdem der übliche Vorwurf der Verallgemeinerung erhoben worden war - es gebe nicht "die" islamische Welt, im Islam gebe es Unterschiede - meldete sich ein ägyptischer Schriftsteller zu Wort und sagte: Stellen wir uns doch ein paar Fragen und schauen dann, ob die These von Hamed Abdel-Samad stimmt. Er fragte: Geht es uns gut, politisch, gesellschaftlich und kulturell? Alle sagten nein. Haben wir Rückstände bei der Bildung oder nicht? Alle sagten ja. Unterdrücken wir die Frauen? Wieder antworteten alle mit Ja. Und wächst der Fundamentalismus? Wieder Ja. Seine Schlussfolgerung: Dann hat dieser Mann recht. Wann das angefangen habe, wer die Schuld trage, sei heute sekundär - der Ist-Zustand sei entscheidend. Das hat mir gut gefallen.
Ich finde es nachvollziehbar, wenn einzelne sagen, sie wollen ihre Religion so behalten, wie sie heute ist.
Ich habe gesagt, ich bin nicht gekommen, um euch eure Religion wegzunehmen, ich rufe nicht zum Atheismus auf. Ich plädiere nur dafür, dass ich meine kritische Haltung zur Religion zum Ausdruck bringen kann, ohne um mein Leben fürchten zu müssen. Solange das keine Selbstverständlichkeit ist, gibt es keine Hoffnung auf Veränderung.
Sie sagen darüber hinaus, dass es gut wäre für die islamische Welt, wenn mehr Leute so denken würden wie Sie.
Ich sage, der Islam braucht mehr Ketzer.
Das ist für den einzelnen ein schwieriger Schritt.
In Al-Aswanis Salon habe ich gesagt, dass es keine Veränderung ohne Opfer gibt. Die Fronten sind so verhärtet, dass es eine Illusion wäre zu glauben, dass man mit dem Wort allein die Gesellschaften transformieren kann. Ich will den Islam nicht abschaffen, sondern ihn privatisieren. Er soll als gesellschaftliche Kraft eine unter vielen sein, nicht die dominante. Damit wir da hinkommen, muss man als Intellektueller auch etwas riskieren. Dass die Religion in Europa Privatsache ist, haben wir nicht nur Debatten und literarischen Salons zu verdanken, sondern auch Leuten, die ihr Leben riskiert haben. Ich will nicht den Märtyrer spielen, aber ich fühle mich genötigt, meine Positionen zu vertreten. Wer, wenn nicht ich? Ich durfte aus diesen Strukturen raus, ich durfte in Europa studieren, ich durfte Kant und Spinoza lesen. Dazu haben die meisten Menschen in der islamischen Welt keine Chance, deshalb bin ich es ihnen schuldig, mit diesen Gedanken zurückzukommen. Wenn ich nach Ägypten zurückginge und sagte, die islamische Kultur ist überlegen, der Westen ist dekadent, dann wäre das ein eher ein Verrat an meinen eigenen Leuten als ein Verrat an der europäischen Kultur.
Gab es Berichte oder Rezensionen in Zeitungen?
Es gab mindestens zwei Artikel - viele ägyptische Zeitungen haben keinen Internetauftritt, so dass es möglicherweise Artikel gab, von denen ich nichts weiß. Was ich weiß ist, dass ich viele Interviews gegeben habe, die nicht erschienen sind.
Warum nicht?
Ich habe zur Bedingung gemacht, dass die Interviews nicht zensiert werden. Keines der Interviews ist veröffentlicht worden. Da muss es einen Zusammenhang geben. In Ägypten ist die Stimmung derzeit extrem aufgeheizt, man steht kurz davor, die Nachfolge von Präsident Mubarak zu regeln, im November wird das Parlament gewählt. Eine regierungskritische Zeitung ist gerade geschlossen worden, ein kritischer Redakteur wurde entlassen, ein anderer zu 15 Jahren Haft verurteilt. Die Zeitungen sind gerade sehr vorsichtig.
Wie waren die beiden Berichte, die erschienen sind?
Das waren eine Rezension und ein Bericht über die Buchvorstellung im Verlag. Die waren beide ziemlich wohlwollend. Die ganz heißen Thesen haben sie aber ausgeklammert.
Bei unserem letzten Gespräch hatten Sie gesagt, das Gottesbild des Allmächtigen sei "eine Schablone für die Diktatoren in der islamischen Welt geworden". War das bei Ihren Veranstaltungen ein Thema?
Ja, bei beiden. Dazu gab es die heftigsten Diskussionen. Mir wurde entgegengehalten, das habe nichts mit dem Gottesbild zu tun, sondern mit der Geschichte der Diktatur. Da fragte ich: Was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Es kann nicht sein, dass fast die gesamte islamische Geschichte eine Geschichte der Diktatur ist und die Religion nichts damit zu tun haben soll.
Was haben Sie in Ägypten vermisst, und was vermissen Sie hier in Deutschland aus Ägypten?
In Ägypten habe ich eine unaufgeregte, sachliche Debatte über Religion vermisst, ohne persönliche Vorwürfe, ohne den Vorwurf, ich rede so, wie der Westen das gern hört. Dahinter steht die Angst, den Westen in seinen Vorurteilen über den Islam zu bestätigen. Das ist fatal. Wir müssen unsere Probleme lösen, nicht unser Image aufpolieren. Den Luxus einer Imagekampagne können wir uns nicht leisten.
Und als sie zurück nach Deutschland gekommen sind?
Das erste war das Wetter - es war ein Temperaturunterschied von 20 Grad, das merkt man sofort. Dann den Blick auf den Nil, er ist unbezahlbar. Und auch die Lebendigkeit auf der Straße. In Kairo sind um drei Uhr nachts alle Geschäfte offen. Die Ägypter sind nach wie vor lebensfroh, sie wollen besser leben. Ihnen fehlen nur die Instrumente, eine freiere Gesellschaft zu schaffen. Viele merken nicht, dass sie sich selbst im Wege stehen. Das ist das Traurige daran.
Mit Hamed Abdel-Samad sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de