Dossier

Stasi-Inszenierung? Wahlhausen unter Beschuss

91 Schüsse fallen auf das an der Grenze zur BRD liegende Dorf Wahlhausen in der Nacht zum 18. August 1989. Aber die DDR-Grenztruppen unternehmen nichts. War der Beschuss aufgrund der massiven Fluchtwelle von der Stasi inszeniert?

In der Nacht vom 17. zum 18. August 1989 schien der Vollmond über dem thüringischen Dorf Wahlhausen an der innerdeutschen Grenze. Der Mond beleuchtete einen ominösen Zwischenfall, der auch 20 Jahre nach dem Mauerfall nicht aufgeklärt ist. Vom benachbarten Hessen schossen Unbekannte etwa 45 Minuten lang auf das DDR-Grenzdorf, das heute zum Eichsfeldkreis gehört. Die Projektile beschädigten Fenster und Fassaden zweier Wohnhäuser und einer Kirche, verletzt wurde niemand. 91 Schüsse fielen. Die Täter wurden nie gefasst. Bis heute halten sich Vermutungen, dass die DDR-Staatssicherheit den Zwischenfall inszeniert habe.

"Das Ding war vorbereitet, das war getürkt", ist Wolfgang Ruske, Leiter des Grenzmuseums "Schifflersgrund" Asbach/Sickenberg an der thüringisch-hessischen Grenze, überzeugt. Der pensionierte Polizeidirektor aus Bad Sooden-Allendorf war damals als Leiter der Schutzpolizei im hessischen Polizeikommissariat Werra-Meißner an den Ermittlungen zu den Schüssen beteiligt. Dabei sei er auf manche Ungereimtheit gestoßen, sagt der heute 69-Jährige. Die in Wahlhausen stationierten DDR-Grenztruppen hätten die Schüsse komplett ignoriert: "Es gab keinen Alarm und nichts." Die Täter hätten auch genau den Dienstplan des Bundesgrenzschutzes gekannt - die Schüsse fielen zwischen den Streifengängen. Sie seien wohl ortskundig gewesen.

Fluchtwelle als Indiz

Die Luftaufnahme von 1989 zeigt das thüringische Dorf Wahlhausen im heutigen Eichsfeldkreis, damals unmittelbar an der scharf bewachten innerdeutschen Grenze zu Hessen gelegen.

Die Luftaufnahme von 1989 zeigt das thüringische Dorf Wahlhausen im heutigen Eichsfeldkreis, damals unmittelbar an der scharf bewachten innerdeutschen Grenze zu Hessen gelegen.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Auch die direkte Telefonschaltung zwischen den Grenzbehörden der DDR und der Bundesrepublik habe die DDR nicht genutzt, erzählt Ruske weiter. "Wenn ich merke, dass die eigenen Leute in Gefahr sind, mache ich das doch." Die Staatsanwaltschaft Kassel ermittelte wegen versuchter Tötung. Die später einem Kleinkalibergewehr ausländischer Produktion zugeordneten Patronenhülsen fand die hessische Polizei zwischen einem abgeernteten Getreidefeld und der Uferböschung zum damaligen Grenzfluss Werra, wie die Staatsanwaltschaft am 5. September 1989 in einem Amtshilfeersuchen an den DDR-Generalstaatsanwalt schrieb. Nach dem Mauerfall wurden die Ermittlungen ohne Ergebnis eingestellt.

Wichtigstes Indiz für eine Stasi-Inszenierung ist für Ruske der Zeitpunkt: Mitte August 1989 steuerte die Fluchtwelle von DDR-Bürgern über Ungarn und die CSSR auf ihren Höhepunkt zu. "Vieles spricht dafür, dass die DDR damit von den Schlagzeilen von Prag und Budapest ablenken wollte." In der Tat reagierten die sonst eher behäbigen DDR-Medien ungewöhnlich schnell.

Schlagzeilen für die DDR-Zeitungen

Ein Filmteam des DDR-Fernsehens kam sofort nach Wahlhausen. Die Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" berichtete ausführlich über die Schüsse, während die Massenfluchten nicht mal erwähnt wurden. Die in Erfurt erscheinende SED-Zeitung "Das Volk" druckte eine Protestresolution der Gemeinde und veröffentlichte Fotos geschockter Bewohner der beschossenen Häuser. Eine Frau wurde mit den Worten zitiert: "Im Westfernsehen hetzen sie immerzu gegen die DDR." Eine Woche lang lieferten die ominösen Schüsse der Zeitung Schlagzeilen wie "Die Schüsse trafen Wahlhausen, im Visier hatte man die DDR". Das PR-Manöver schlug aber fehl: Westliche Medien glaubten nicht an die offizielle DDR-Version.

Wie aus den Akten der Stasiunterlagen-Behörde hervorgeht, legte die Stasi nach den Schüssen einen Operativen Vorgang "Kaliber" an. Demnach konzentrierte sich die Tätersuche auf einen Anrufer, der sich angeblich wiederholt bei DDR-Polizeidienststellen gemeldet hatte, sowie auf eine militante Wehrsportgruppe in Niedersachsen. Dass die Stasi selbst die Hände im Spiel hatte, lasse sich in den Akten nicht finden. "Das muss nichts heißen", findet Ruske. Belastende Unterlagen könnten schließlich auch vernichtet worden sein. Nur wenige Monate nach den Schüssen von Wahlhausen fiel am 9. November 1989 die Mauer.

In Wahlhausen leben heute nur noch wenige, die die Schüsse damals miterlebt haben. Eine 83-Jährige, deren Haus damals von den Projektilen getroffen wurde, glaubt bis heute an einen Dumme-Jungen-Streich. "Politisch habe ich das nie gesehen", sagt die Seniorin.

Quelle: ntv.de, Katrin Zeiß, dpa

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