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Völkermord? Nicht bei uns! Wir sind auch nicht besser als die Türken

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Gebeine der Herero und Nama wurden zu "Forschungszwecken" nach Deutschland gebracht - 2011 wurden einige Schädel an Namibia zurückgegeben.

(Foto: REUTERS)

Der Bundestag will nicht darauf verzichten, den Völkermord an den Armeniern als solchen zu bezeichnen. Wer das für eine moralisch saubere Position hält, liegt gründlich daneben.

Die deutsche Politik diskutiert darüber, ob sie den Mut hat, den Völkermord an den Armeniern "Völkermord" zu nennen. Heuchlerischer geht es kaum.

Die Bundesregierung hat Angst vor diplomatischen Verwicklungen mit der Türkei. Der Begriff "Völkermord" wurde daher auf Veranlassung des Auswärtigen Amtes aus einer Bundestagsresolution der Regierungsfraktionen gestrichen. Vielleicht wird er nun doch darin auftauchen, denn den Abgeordneten geht der Eingriff zu weit.

Viele Abgeordnete, auch von Union und SPD, stören sich daran, dass der Bundestag Rücksicht auf die türkische Regierung nehmen soll. Von Bundeskanzlerin Angela Merkel hört man zu dem Thema wie üblich kein Wort. Außenminister Frank-Walter Steinmeier scheint seine Position gerade einer Revision zu unterziehen. Man könne das, was damals geschehen sei, "in dem Begriff Völkermord zusammenfassen wollen, und ich kann die Gründe dafür und erst Recht die Gefühle dazu gut verstehen", sagte er.

Doch die Gefühle der Bundestagsabgeordneten sind mindestens ebenso verlogen wie die diplomatische Rücksichtnahme der Bundesregierung. Zwei Fakten, die für die Debatte nicht ganz unwesentlich sind. Nummer eins: Laut Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948 handelt es sich um einen Genozid, wenn die Absicht vorliegt, "eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören". Nummer zwei: Außerhalb der Türkei sind die meisten Historiker der Ansicht, dass die Massaker und Vertreibungen, die vor einhundert Jahren an den Armeniern verübt wurden, ein Völkermord waren.

"Was heute als Völkermord bezeichnet würde"

Das klingt, als seien die Abgeordneten, die auf den Begriff "Völkermord" nicht verzichten wollen, auf der moralisch richtigen Seite. Falsch. Denn hier kommt Fakt Nummer drei: Die weitaus meisten Historiker sind sich auch einig, dass die Massaker und Vertreibungen, die vor mehr als einhundert Jahren an den Herero und Nama verübt wurden, ein Völkermord waren.

Dieser erste Völkermord des 20. Jahrhunderts, der zwischen 1904 und 1908 in der deutschen Kolonie Südwestafrika, dem heutigen Namibia, begangen wurde, wird von der Bundesregierung bis heute nicht so bezeichnet - unter anderem mit dem zynischen Argument, dass die Völkermordkonvention noch nicht existierte, als die Herero und Nama in die Wüste getrieben, abgeschlachtet und unterdrückt wurden. Die diplomatischen Verrenkungen, die Deutschland angesichts dieser historischen Schuld vollführt, sind ebenso absurd und skandalös wie das Gebaren der türkischen Regierung.

Als die damalige Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul die Nachfahren der Opfer 2004 um Vergebung bat, sagte sie: "Die damaligen Gräueltaten waren das, was heute als Völkermord bezeichnet würde". Weiter durfte sie nicht gehen, denn die rot-grüne Bundesregierung hatte Angst vor Entschädigungsforderungen. Bis heute ist der Begriff "Völkermord" tabu - unabhängig davon, welche Parteien die Bundesregierung stellen. Als der Bundestag vor drei Jahren 40 Minuten über das Thema diskutierte, war das Plenum weitgehend leer. Damals hätten die Abgeordneten die Chance gehabt, zu zeigen, dass sie wissen, was historische und moralische Verantwortung ist - sie haben versagt. Wer die Türkei an ihre Verantwortung erinnern will, sollte zunächst die Schuld des eigenen Landes bekennen - ohne Hintertür, ohne Verrenkungen. Solange das nicht passiert, sollte der Bundestag zum Völkermord an den Armeniern besser schweigen. Er macht sich sonst nur lächerlich.

Quelle: ntv.de

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