Reise

Der wilde Blaue Auf dem Selvaggio Blu in Sardinien

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Einzigartiger Blick: Belohnung für eine anstrengende, aber einmalige Wanderung!

(Foto: imago/Aurora Photos)

Sie ist eine der härtesten Trekkingtouren Europas - und vielleicht sogar die schönste: Fünf Tage führt der Selvaggio Blu weglos entlang der sardischen Steilküste. Es ist eine spektakuläre Route.

Die Fersen hängen über der Klippe, beide Hände umklammern das Seil, über die Schulter geht der Blick hinab ins türkise Meer. 40 Meter weiter unten tuckern Boote heran, Urlauber winken und jubeln auf ihren im Wasser dümpelnden Tribünen. Jetzt tief einatmen und auf den Rückwärts-Hopser über die Felskante konzentrieren, auf die Handgriffe beim frei schwebenden Hinabgleiten am Seil achten. Es ist die letzte und tiefste Abseilpartie, quasi das würdige Finale dieser Tour. Fünf Tage dauert sie, immer entlang des Golfo di Orosei, durch die Wildnis einer Hunderte Meter hohen Steilküste, einem Weltnaturerbe im Osten Sardiniens. Als Selvaggio Blu wurde sie weltberühmt.

Heute gilt sie als eine der schönsten Trekkingrouten Europas. Und als die vielleicht härteste. Allein die Route zu finden, ist schwierig. "Der Selvaggio Blu ist kein festgelegter Weg", weiß Bergführer Ivan Pegorari. Es gebe viele Varianten, aber alle folgten der gleichen Philosophie: so nah wie möglich am Meer entlangzugehen. "Ich denke, das ist die wildeste Küste am Mittelmeer", so Pegorari. "60 Kilometer nichts als Natur."

Die Liebe eines Bergführer-Lebens

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Blau - in allen Varianten!

(Foto: imago/Aurora Photos)

Wohl niemand kennt den Selvaggio Blu besser als Pegorari. Der Bergführer aus der Lombardei ist ein Endvierziger im sehnigen Körper eines Mittzwanzigers. Seine fehlenden Haare überstrahlt er mit einem breiten Lächeln. Seit 19 Jahren führt er Gäste auf dieser Tour, in seinem Tagebuch sind sie alle verewigt: mehr als 700 Namen. "Der Selvaggio Blu", sagt er, "ist mehr als eine Wanderung". Er ist die Liebe seines Bergführer-Lebens.

Gefunden hat er sie in einer Hütte am Strand. Genauer gesagt, in einem handgeschriebenen Buch. Dort las er von einer Route entlang der Steilküste, halb Wandern, halb Kraxeln, gewürzt mit einer guten Prise Abseilen. Und er fand Kopien von Karten. "Im Mai 1999 mietete ich ein kleines Boot. Ich fuhr die Buchten ab - und dachte: Mamma Mia!" An den Stränden versteckte er Wasserflaschen, dann lief er los, ohne Zelt. "Wir schliefen in Höhlen oder unter den Sternen."

Ein zahmer Start ins Abenteuer

Heutzutage lässt sich der Weg bei vielen Bergreise-Veranstaltern buchen, inklusive Guide und täglichem Versorgungsboot. Auf eigene Faust loszuziehen, wäre extrem leichtsinnig - allein schon, weil es in den Kalkbergen des Supramonte kaum Wasserquellen gibt. Der Startpunkt allerdings wirkt mäßig wild: ein Parkplatz unterhalb des Dorfs Baunei, zugestellt mit Autos und Vans. Die meisten kommen hierher, um an der Pedra Longa zu klettern, einer Felspyramide über dem Meer.

Gurte und Helme bleiben vorerst im Rucksack. Über einen Sandpfad geht es durch die Macchia. Steineichen krallen sich in Karstfelsen, an Mastixsträuchern hängen rote Beeren. Metallic-blaue Eidechsen huschen in Polster von wildem Rosmarin.

Wer sich verirrt, ist erledigt

Je höher man steigt, desto dichter wird der Wald. Bald geht es weglos querfeldein, auf einer Lichtung stehen aus Wacholderstämmen gezimmerte Unterstände von Hirten. Die Route führt über Geröll, unter Ästen hindurch, Zweige kratzen, Dornen verfangen sich in Hemd und Hose.

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Und schon wieder dieses Blau!

(Foto: imago images/UIG)

"Im letzten Sommer verschwanden zwei Wanderer", sagt Ivan Pegorari. "Sie wurden bis heute nicht gefunden. Wenn du dich hier verirrst, bist du erledigt." Der lange Abstieg endet an einem schmalen Fjord. Alle reißen sich die verschwitzten Shirts vom Leib und sinken mit Wonneseufzern ins klare, stille Wasser. Porto Pedrosu heißt dieser Fjord, früher wurde hier Kohle verladen. Bis vor wenigen Jahrzehnten fällten Köhler an dieser Küste Steineichen und verkohlten sie in grob gemauerten Meilern. "Alle Wege, die nach unten führen, wurden von Köhlern angelegt", erklärt Pegorari, "alle, die auf gleicher Höhe verlaufen, von Hirten."

Pasta, Wein und Gesang - und eine Matratze

Als das Versorgungsboot einläuft, packen alle an, schleppen Vorräte, Zelte, Taschen mit Schlafsäcken und frischer Wäsche an Land. Und Pegoraris dicke Matratze. "Ich bin diesen Sommer vier Wochen am Stück hier", sagt er lächelnd und zuckt mit den Schultern.

Früher schliefen die Wanderer am Strand, obwohl das im Nationalpark auch damals schon verboten war. Aber es waren eben nur sehr wenige. Doch 2011 wurde der Selvaggio Blu schlagartig berühmt, als TV-Sender und das Magazin des italienischen Alpenvereins CAI berichteten. "An manchen Tagen zelteten hier 150 Leute", erzählt Pegorari. "Es war ein Chaos." Zusammen mit anderen Guides schlug er den Behörden Regeln vor. Vor sechs Jahren legte die Nationalparkbehörde Zeltplätze an, auf jedem dürfen maximal 40 Wanderer pro Tag übernachten. Wobei der Begriff Zeltplatz vielleicht ein bisschen hoch gegriffen ist. Tatsächlich wurden auf im Wald verstreuten Parzellen das Unterholz gerodet und Steine geräumt. Je weiter man sich vom Meer entfernt, desto stärker riecht es nach Ziege.

Die Stimmung ist trotzdem bestens, spätestens als die Guides Pasta auf die Teller schaufeln. Dazu gibt es Wein aus der Plastikflasche. Und als Dessert packt Pegorari seine Gitarre aus. Während die Norditaliener der anderen Wandergruppe klatschen und lauthals singen, lächeln die Deutschen scheu und schenken sich Mirto nach, den sardischen Mirtenlikör.

Ziegen, die auf Wanderer starren

Am Morgen haben die Unverkaterten freilich gewonnen. Durch dicht stehendes Gebüsch geht es hoch, es ist windstill, stickig, heiß. Ein paar Schweine preschen vom Pfad in den Wald, zottelige Ziegen stehen in der Ferne. An manchen Felsen sind noch blasse blaue Striche zu erkennen, die originalen Markierungen. Heute weisen Steine den Weg, in Astgabeln gelegt oder auf Zweige gespießt.

Endlich Pause an einer Klippe, die Hunderte Meter senkrecht ins Meer stürzt. Die Brise und der Schatten sind ein Hochgenuss, der Blick entlang der Steilküste und hinab auf die Schattierungen von Türkis bis Dunkelblau ist fantastisch. Tief unten liegt die Cala Goloritze, die millionenfach fotografierte Traumbucht: gestufte, grün gesprenkelte Felswände, eine Flotte weißer Boote im Türkis, direkt über dem Strand die kolossale Felsnadel Aguglia, an deren Kalkwänden sich die Kletterer messen. Der Kies ist weiß und fein, das Meer klar, die Kulisse gigantisch.

Das Bierwunder in der Bucht

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Schuhe weg und Kaltgetränk her!

(Foto: imago/Aurora Photos)

Am späten Nachmittag verlassen die Tages-Ausflügler die Bucht. Natürlich wäre es grandios, jetzt einfach die Isomatte auszurollen und hierzubleiben. Aber wenn ein Patrouillenboot der Polizei vorbeischaut, so Pegorari, bezahle jeder mehr als 200 Euro Strafe. Ein Motorboot chauffiert die Wanderer deshalb zur nächsten Bucht. Und die Cala Mariolu ist ein sehr passabler Ersatz: Ein Doppelstrand unter einer Felswand, geteilt von einem Kap. Die Bucht gehört den Wanderern jetzt allein.

In einem Kiosk verkaufen ein Sarde und sein halbwüchsiger Sohn noch Bier. Ob es kalt ist? Der schmerbäuchige Sohn holt ein paar Dosen aus dem Kühlschrank, deutet wortlos auf das Eis am Rand und nickt. Natürlich hat kein Bier je besser geschmeckt. Aber zu viele Dosen wären jetzt gefährlich. Denn nach dem Pastaschmaus geht es auf zum Zeltplatz oben auf den Klippen - über schmale Felsbänder und wacklige Holzleitern. Mit Stirnlampe.

Hängepartie hinterm Felssturz

Wie abenteuerlich eine Tour wird, entscheidet die Natur: An einer Geröllhalde geht es nicht weiter, ein Felssturz hat den Pfad weggerissen. "Der Weg ändert sich jedes Jahr", sagt Pegorari. "Im Winter regnet es hier viel." Anders als offizielle Wanderwege wird der Selvaggio Blu nicht instand gehalten.

Ohne Bergführer würde es spätestens jetzt knifflig werden. Und die Schlüsselstelle des Tages kommt erst noch: das erste Abseilen. Schritt für Schritt geht es rückwärts Richtung Abgrund. Eine Hand hält das Seil, das an einem knorrigen Wacholderstamm hängt. Die andere schiebt die Prusikschlinge übers Seil. Sie würde sich bei einem Sturz zuziehen. Selbst wenn man also das Seil losließe, kann nichts passieren.

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Schritt für Schritt wird ein Vergnügen drau!

(Foto: imago/Aurora Photos)

Bald finden die Füße keinen Halt mehr, der Wanderer schwebt nun, dreht sich ohne Kontrolle, die Karabiner werden heiß. Ruhig bleiben, heißt es da. Elegant sieht das wohl kaum aus, aber am nächsten Tag gibt es reichlich Gelegenheiten, Technik und Stil zu verbessern. Sieben Abseiler warten, der höchste am Schluss. Das Einhaken und Sichern geht zügiger von der Hand, kein hektisches Verheddern mehr. Und das flaue Gefühl, die bange Nervosität weichen schierer Vorfreude.

Von Höhle zu Höhle

Damit es nicht" langweilig" wird, führen die Guides die mutigen Touristen in eine Höhle. Tausende durchlöchern die Kalkberge des Supramonte. An einem einfachen Strick steigt man rückwärts in den finsteren Schlund hinab, die Lichtkegel der Stirnlampen flackern über Stalaktiten. Durch hüfthohe Spalten geht es robbend weiter, Höhle für Höhle - bis das Licht wiederzusehen ist. Und das Meer. Als Lohn wartet die vielleicht schönste aller Buchten: Cala Biriola. Übermütig springen die jungen Italiener per Salto von einem Felsbogen ins Meer. Und als Ivan Pegorari ein letztes Mal seine Gitarre anschlägt, singen sogar die Deutschen mit. "Ich habe hier die Milchstraße so klar gesehen wie nur in den Bergen Nepals oder Perus", erzählt der Selvaggio-Veteran und nippt am Mirto. "Wenn dann noch ein roter Mond über dem Meer aufgeht - puh."

Selvaggio Blu
  • Anreise: Aus mehreren deutschen Städten gibt es Direktflüge nach Cagliari. Busse der Linie 103 fahren mehrmals täglich zur Haltestelle Tortoli Fra Locci, von dort geht es weiter mit der Linie 301 ins Bergdorf Baunei. Alternativ reist man im Zug nach Genua oder Livorno und nimmt die Fähre nach Olbia. Von dort fahren Busse der Linie 514 nach Nuoro und Busse der Linie 303 weiter nach Baunei.
  • Reisezeit: Die besten Monate sind Mai und Juni, wenn die Macchia blüht, sowie September und Oktober, wenn das Meer noch badewarm ist. Im Hochsommer ist es zu heiß zum Wandern, im Winter regnet es viel.
  • Guides und Veranstalter: Mehrere Bergreise-Veranstalter bieten den Selvaggio Blu inklusive Bergführer und täglicher Versorgung durch Boote an, zum Beispiel das Oase Alpincenter (). Italienischsprachige Touren mit Ivan Pegorari kann man buchen.
  • Literatur: Der Rother Wanderführer Sardinien beschreibt mehrere Tagestouren, die Teil des Selvaggio Blu sind (16,90 Euro, ).
  • Informationen: www.sardegnaturismo.it/de

Quelle: ntv.de, soe/ dpa

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