Abgehängt in Europa Deutsche sparen an der Schiene
04.07.2011, 14:56 Uhr
Die verkehrspolitische Musik spielt in Deutschland auf der Autobahn.
(Foto: picture alliance / dpa)
Deutschland reserviert einer Studie zufolge deutlich weniger Geld für das Schienennetz als seine Nachbarländer. In der deutschen Verkehrspolitik genießen Autofahrer und Brummis weiter Vorfahrt. Ein Lobby-Verband sieht darin einen "besorgniserregenden deutschen Sonderweg".
Deutschland gibt aus Sicht von Bahnbefürwortern im internationalen Vergleich weiterhin zu wenig Geld für den Ausbau seines Schienennetzes aus.

Gut geölte Weichen: Schlaglöcher kennen Eisenbahner nur vom Nachhauseweg.
(Foto: picture-alliance/ dpa)
"Wir brauchen mindestens fünf Milliarden Euro im Jahr vom Bund, damit wir uns wenigstens den italienischen Verhältnissen annähern", forderte der Geschäftsführer des Bündnisses "Allianz pro Schiene", Dirk Flege. Dem Lobby-Bündnis für den Schienenverkehr gehören Umweltverbände wie BUND und Nabu sowie Verbraucherschützer und Gewerkschaften an. Unter den Förderern befinden sich sowohl die Deutsche Bahn als auch Unternehmen aus der Bahn- und Bauindustrie. Schon vor zwei Jahren forderte die Schienen-Allianz eine ähnliche Investitionssumme.
Pro Kopf steckte die Bundesrepublik im vergangenen Jahr lediglich 53 Euro in die Schiene, wie das Beratungsunternehmen SCI Verkehr für die Bahn-Lobby berechnete. Damit belegte Deutschland den letzten Platz in einer Rangliste europäischer Staaten. Der Spitzenreiter Schweiz hingegen habe 2010 hingegen 308 Euro pro Einwohner in die Schienen-Infrastruktur investiert. In der Studie für die Bahn-Allianz hatten Experten die Budgets zum Erhalt und Ausbau der Schienenwege in neun europäischen Nachbarländern ermittelt und anhand der Einwohnerzahl verglichen.
Am besten schnitten dabei die Schweizer ab, die den Angaben zufolge 308 Euro pro Jahr und Einwohner in ein gut funktionierendes Bahnsystem investierten. Auf die Schweizer folgten bei den Schieneninvestitionen Österreich mit 230 Euro pro Kopf und Schweden mit Ausgaben von 164 Euro je Einwohner und Jahr. In Großbritannien flossen 125 Euro pro Kopf ins Schienennetz, Spanien reservierte 114 Euro. Auf den hinteren Rängen lagen Frankreich und Italien vor Deutschland - beide allerdings mit deutlichem Abstand: Frankreich investierte noch 90 Euro pro Kopf in sein Schienennetz, Italien 99 Euro. Deutschland kommt auf knapp die Hälfte. Allianz-pro-Schiene-Chef Flege bezeichnete die Zahlen als "Alarmsignal für einen besorgniserregenden deutschen Sonderweg".
Mit Karacho in den Verkehrsinfarkt?
Aus der Sicht der Bahn-Lobby besonders Besorgnis erregend ist dabei der direkte Vergleich zwischen den Transitländern Österreich, Schweiz und Deutschland. Die beiden Alpenstaaten investieren der Studie zufolge insgesamt mehr Geld in die Schiene als in ihre Straßennetze. In Deutschland betrügen die Pro-Kopf-Investitionen ins Schienennetz hingegen nur gut 80 Prozent der Mittel, die ins Straßennetz flössen. "Die Transitländer Schweiz und Österreich bereiten sich ganz gezielt auf den Boom im Schienen-Güterverkehr vor, während Deutschland die Gelegenheit zu verpassen droht, in Zukunft einen Großteil des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene zu holen", erklärte Flege.
Deutschland droht demnach die Gelegenheit zu verpassen, künftig einen Großteil des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene zu holen. Für Autobahnen, Bundesstraßen und Ortsumgehungen gibt Deutschland je Einwohner und Jahr derzeit etwa 81 Euro aus. In der Schweiz - mit dem für Straßenbauer besonders anspruchsvollen Terrain und Witterungsbedingungen - liegt dieser Wert bei 130 Euro pro Einwohner und damit deutlich unter den Pro-Kopf-Ausgaben für das Schienennetz.
Die Verkehrswege der Zukunft
Global boome der Eisenbahn-Ausbau, heißt es in der Studie weiter. In Deutschland dagegen rangiere die Investitionsbereitschaft auch im weltweiten Vergleich am unteren Ende, erklärte Lars Neumann vom Beratungsunternehmen SCI Verkehr. Noch magerer sehe es aus, wenn die Schieneninvestitionen nicht auf die Bevölkerung, sondern auf die Wirtschaftskraft bezogen betrachtet würden: Die Spitzenreiter aus der Studie könnten mit der Investitionskraft von Schwellenländern wie China und Russland jederzeit mithalten, während Deutschland weit abgehängt sei, erklärte Neumann: "Gemessen an seiner Wirtschaftskraft verliert Deutschland den Anschluss innerhalb seiner Liga."

Eine gute Infrastruktur gehört zu den wichtigsten Standortvorteilen eines Landes.
(Foto: dapd)
Im internationalen Wettbewerb zählt eine gut ausgebaute Infrastruktur immer noch zu den wichtigsten Standortvorteilen für Wirtschaftsentwicklung und Lebensqualität. Umstritten ist dabei der generelle Kurs: Während Auto-Verbände, Industrie und Lkw-Spediteure auf einen weiteren Ausbau des Fernstraßennetzes pochen, plädieren Umweltschützer und Eisenbahner für eine verstärkte Verlagerung der Verkehrsströme vom Asphalt auf die Schiene. Das soll nicht nur abgasgeplagte Anwohner entlasten, sondern auch insgesamt Emissionen sparen sowie Staus und Dauerbaustellen vermeiden.
Nach Angaben aus dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung sind für die kommenden Jahre etwa 3,7 Mrd. Euro jährlich für Investitionen in die deutschen Schienenwege vorgesehen. Davon fließen allein 2,5 Mrd. Euro in die Erhaltung des bestehenden Schienennetzes. Im Rahmen der Konjunkturpakete hatte die Bundesregierung für die Jahre 2009/2010 zusätzlich insgesamt 1,4 Mrd. Euro für die Schiene zur Verfügung gestellt, heißt es aus Berlin. Für den Straßenbau macht Deutschland dagegen ganz andere Summen locker: Für den Ausbau des Bundesfernstraßennetzes sieht der derzeit geltende Bedarfsplan über einen zehnjährigen Zeitraum bis 2015 ein "Gesamtinvestitionsvolumen von rund 80 Mrd. Euro" vor.
Gefährlich überlastete Arterien
Experten sind sich sicher: Gerade weil Deutschland über ein so dichtes und bequemes Straßennetz verfügt, rollt auch ein Großteil der Verkehrsströme über Asphalt, und das mit allen bekannten Vorteilen, Nachteilen und Nebenwirkungen. "Das Netz der Bundesfernstraßen umfasst (...) rund 12.800 Kilometer Bundesautobahnen und rund 40.000 Kilometer Bundesstraßen", heißt es aus dem Verkehrsministerium. Damit biete Deutschland "eines der dichtesten Fernstraßennetze Europas". Andere Länder wie etwa die Schweiz zwingen insbesondere den Transitverkehr auf die Schiene oder verlangen über Vignetten oder Maut zusätzliche Abgaben.
Die Hauptlast des deutschen Lkw- und Pkw-Verkehrs tragen die Autobahnen: Obwohl die Fernstraßen nur einen Anteil von rund 23 Prozent am gesamten deutschen Straßennetz haben, läuft knapp die Hälfte der Fahrleistung über diese Straßen. Autobahnen kommen sogar nur auf einen Anteil von 6 Prozent am Straßennetz, müssen dagegen derzeit einem knappen Drittel der Fahrleistungen standhalten. Den bisherigen Trends zufolge ist in naher Zukunft mit keiner Entlastung zu rechnen. Ganz im Gegenteil, die Verkehrsströme werden eher noch zunehmen.
Schon allein um das Land auf den stetig wachsenden Transit- und Schwerlastverkehr vorzubereiten, fordern Verkehrsexperten einen verstärkten Ausbau der deutschen Schienenwege. Schon jetzt blockieren scheinbar endlose Reihen von Lkws auf vielen Autobahnteilstücken die rechte Spur. Gewicht und die Dauerbelastung treiben die Instandsetzungskosten in die Höhe. Dauerbaustellen und Staus sind die unmittelbare Folge. Immer wieder fordern Autofahrer flächendeckende Überholverbote für Lkw.
Es gibt keine stillgelegten Straßen
Doch trotz aller Schienenbekenntnisse für den Güterverkehr läuft die Gesamtentwicklung in der Bundespolitik erkennbar in eine andere Richtung. Das Schienennetz in Deutschland verliert nach Angaben der Bahn-Lobby immer weiter an Strecke. In den vergangenen zehn Jahren habe sich das deutsche Gleisnetz insgesamt um knapp 8 Prozent auf knapp 34.000 Kilometer verkürzt. Damit weist allein das Netz an Bundesstraßen - die Autobahnen nicht eingerechnet - mehr Streckenkilometer auf als das gesamte deutsche Schienennetz.
Nur in Polen und Lettland wurden in den vergangenen Jahren Gleise noch schneller abgebaut und mehr Nebenstrecken stillgelegt, hatte der Lobbyverband Anfang Juni mitgeteilt. In der gesamten Europäischen Union sei das Netz in den vergangenen zehn Jahren nur um gut 2 Prozent geschrumpft. Der Ausbau der Autobahnen habe in Deutschland dagegen seit 2000 um fast 10 Prozent zugelegt. In Europa insgesamt ist das Autobahnnetz demnach sogar um mehr als 20 Prozent gewachsen. Offenkundig werde der Straßenbau in Deutschland und einigen europäische Ländern politisch stärker gefördert, hieß es dazu bei der "Allianz pro Schiene".
Quelle: ntv.de, mmo/AFP/dpa