
Es gibt viele Jobs in den USA - aber wer will sie?
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Im Land der Niedriglohnarbeit schmeißen so viele Menschen ihren Job hin wie nie zuvor. Andere bleiben und streiken für bessere Arbeitsbedingungen. Eine historische Welle des Unmuts zwingt US-Arbeitgeber dazu, ihre Angestellten besser zu behandeln.
Im Frühjahr 2021, die Impfraten erlaubten gerade eine Normalisierung bei vielen Unternehmen, in Hotellerie- und Gastronomiebetrieb, registrierten die Statistiker des US-Arbeitsministeriums erstmals eine ungewöhnliche Entwicklung. 3,99 Millionen Angestellte hatten im April ihren Job hingeschmissen, so viele wie nie seit Beginn der Erhebungen vor 20 Jahren. Die Zahlen sind historisch hoch geblieben. Im Juli durchbrachen sie die 4-Millionen-Grenze, danach stiegen sie auf einen weiteren Rekord von 4,27 Millionen Kündigungen im August. Das sind die neuesten verfügbaren Zahlen.
Wirtschaftsexperten nennen das Phänomen "The Great Resignation" oder "The Big Quit" - die große Kündigungswelle. Verschiedene Faktoren fallen offenbar zusammen und zeichnen ein in den USA ungewohntes Bild: Rund 10 Millionen offene Stellen gibt es seit Monaten, aber die Unternehmer haben große Probleme, sie dauerhaft zu besetzen. Es gibt ständig größere Bewegung, weil Arbeitnehmer sich trauen, ungeliebte Jobs zu verlassen. Die Gründe sind angestaute Unzufriedenheit während der Pandemie, Wunsch nach größerer Flexibilität, für manche erleichtert von Sozialleistungen der neuen Regierung.
Es handelt sich offensichtlich nicht nur um ein kurzzeitiges Phänomen. Bei einer Befragung der Unternehmensberatung McKinsey gaben rund 40 Prozent der Arbeitnehmer an, dass sie in den kommenden Monaten wahrscheinlich ihre Stelle wechseln werden. Unter Berufstätigen sagten demnach 42 Prozent der Frauen, sie fühlten sich sehr häufig oder immer ausgebrannt, unter Männern waren es 36 Prozent. Die Menschen sehnten sich nach dem "menschlichen Aspekt" im Job, urteilen die Berater.
Keine Lust mehr auf schlechte Jobs

Kunden vor einem Supermarkt im Bundesstaat Georgia: Hier sind die Mindestlöhne besonders niedrig.
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Es gibt in den Vereinigten Staaten einen großen kulturellen Mythos: In den Zeiten der großen Wirtschaftsaufschwünge wie den 1960er-Jahren hätten die Menschen ein Arbeitsleben lang ihre Jobs behalten und seien nach Jahrzehnten glücklich, zufrieden in üppige Rente gegangen. Gibt es dagegen viel Bewegung am Arbeitsmarkt, sei das eher schlecht. Für die Unternehmen mag das stimmen, aber aus Angestelltensicht ist diese Nostalgie unbegründet. Dies zeigen die Zahlen derzeit Monat für Monat. Viele Menschen wechseln ihre Beschäftigung, das Angebot ist groß, die Löhne und Gehälter gehen nach oben.
Historisch gesehen klammerten sich die US-Amerikaner vor allem in schlechten Zeiten an ihre Jobs. Seit den 1980ern wurden Jobwechsel immer weniger. Gut zu sehen ist das auch an den Zahlen in und nach der Finanzkrise, der Großen Rezession. Doch dann kam die Pandemie und alles wurde anders. Aktuell trauen sich Menschen nicht nur, den Arbeitgeber zu wechseln. Viele ziehen sogar um, versuchen es auf eigene Faust, verwirklichen sich. "Der bleibende Effekt dieser Pandemie wird eine Revolution der Erwartungen an die Arbeit sein", urteilt ein Autor des Magazins "The Atlantic".
Die Zahl der Firmengründungen ist nach dem ersten Lockdown 2020 geradezu explodiert. Angestellte wie in der Techbranche stellen zugleich die Anwesenheitspflicht im Büro infrage. Schließlich hat das virtuelle Arbeiten während der Pandemie-Restriktionen gezeigt, dass es auch anders geht. Mehr als jeder zehnte US-Amerikaner ist laut Umfrage während der Pandemie umgezogen. Zuletzt sagte eine überwältigende Mehrheit, aus positiven Gründen ihren Wohnort gewechselt zu haben, etwa um näher bei der Familie zu wohnen oder um einen lang gehegten Traum zu erfüllen.
Die Kündigungswelle hat aber nicht nur die finanziell besser abgesicherte Mittelschicht, sondern auch den Niedriglohnsektor erreicht. In Hotellerie und Gastronomie kündigten fast 7 Prozent der Beschäftigten. Und zwar allein im August. Gesamtwirtschaftlich gesehen könnte man sagen: Das in den USA so gefürchtete "Heuern und feuern" ist kaum noch möglich. Die Angestellten gehen schneller als ihre Bosse sie rauswerfen könnten.
Hunderte Streiks im ganzen Land
Doch für die Unternehmen ist die Lage noch viel unangenehmer. Während Millionen ihren Job kündigen, werden andere aufmüpfig. Angestellte trauen sich mehr, für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. "Die Pandemie hat die Ungleichheiten des Systems offengelegt und Arbeiter weigern sich, in schlechte Jobs zurückzukehren, die ihre Gesundheit gefährden", sagte die Vorsitzende der größten US-Gewerkschaft AFL-CIO.

10.000 Beschäftigte des Landwirtschaftsmaschinen-Herstellers John Deere im Bundesstaat Iowa gingen vergangene Woche in Streik - der erste große Protest im Unternehmen seit drei Jahrzehnten.
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Seit Anfang des Jahres hat die Statistik der Cornell-Universität landesweit 254 begonnene Streiks verzeichnet. Zwar ist nur noch rund jeder zehnte US-Amerikaner in einer Gewerkschaft. Aber 68 Prozent der Befragten halten sie für wichtig - so hoch war der Wert seit 1965 nicht mehr. In der Altersgruppe 18 bis 29 Jahre sind es sogar 78 Prozent.
Die Unternehmen müssen sich also etwas einfallen lassen. Den regulären Stundenlohn erhöhen schon einige; In den vergangenen Monaten zeigt die Bezahlkurve steil nach oben. Im September lagen die Durchschnittslöhne bereits 4,2 Prozent höher als vor einem Jahr, das sind so hohe Steigerungen wie zuletzt kurz vor der Finanzkrise 2008. Die Inflation frisst die zusätzliche Kaufkraft zwar wieder auf. Dem Einzelnen bleibt jedoch der Eindruck, bei potenziellen Arbeitgebern nicht nur Bittsteller zu sein, sondern durch einen Wechsel die Lebenssituation verbessern zu können.
All das hat auch mit den wirtschaftlichen Hilfen der Regierung zu tun. Sie waren zwar nicht hoch, aber Hilfszahlungen an Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen, das erst kürzlich beendete Mietschuldenmoratorium sowie Studienkrediterlasse haben manchen Amerikaner ermutigt, seinen Job hinter sich zu lassen und sich etwas Neues zu suchen. "Wir sind in eine neue Ära der Arbeitsbeziehungen eingetreten", sagte Harley Shaiken, Wirtschaftsprofessor an der Universität von Berkeley: "Beschäftigte haben das Gefühl, sie sind am Drücker und dass es viel aufzuholen gibt." Shaiken sieht einen Kampf dafür, in die Mittelschicht aufzusteigen. Oder nicht aus ihr herauszufallen.
Quelle: ntv.de