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Herdenimmunität mit Impfstoff Drosten erklärt, wie es weitergehen könnte

Vor kleinem, heimischen Publikum in Meppen fühlte sich Virologe Christian Drosten sichtlich wohl.

Vor kleinem, heimischen Publikum in Meppen fühlte sich Virologe Christian Drosten sichtlich wohl.

(Foto: Youtube/Screenshot)

Wenn die bisherige Strategie nicht angepasst wird, droht die Corona-Lage nach dem November-Lockdown schnell erneut außer Kontrolle zu geraten. Virologe Drosten erklärt, wie dies vermieden werden könnte und warum man nicht einfach lernen kann, mit dem Virus zu leben.

Christian Drosten zeigt sich nicht mehr so gerne in der Öffentlichkeit, meidet unter anderem TV-Talkshows. Leider werde er von anderen Medien ausgenutzt und angegriffen, erklärt er. Während eines Besuchs seiner Eltern im Emsland nutzte er aber in einem Livestream die Gelegenheit, um beim Windthorst-Abend in Meppen einen Vortrag zu halten und Fragen aus dem Publikum zu beantworten. Dabei erklärte der Charité-Virologe den Ernst der Corona-Lage, warum die aktuellen Maßnahmen notwendig sind und wie Deutschland nach dem Teil-Lockdown die Pandemie langfristig unter Kontrolle halten könnte.

Triage droht

Zunächst zeigte Drosten anhand eines naheliegenden Beispiels, wie wichtig es ist, jetzt zu handeln. Die Charité als größte Universitätsklinik in Europa habe ungefähr 400 Intensivbetten, sagte Drosten, kaum ein anderes einzelnes Krankenhaus habe so viele. Davon seien derzeit rund 160 Betten mit Covid-19-Patienten belegt. "Letzte Woche waren das 80 und in der Woche davor ungefähr 40. Nächste Woche, wenn alles so weitergeht, werden wir im Bereich von 300 Patienten sein." Ungefähr alle zehn Tage verdopple sich derzeit die Zahl der Covid-19-Fälle auf Intensivstationen.

Die Charité habe aber nur 400 Intensivbetten und die Patienten, die in den restlichen Betten liegen, würden dort auch noch nächste Woche liegen, sagte Drosten. Nicht nur Covid-19-Patienten, auch andere schwere Erkrankungen müssten weiter behandelt werden. Die Klinik räume noch einige Betten frei, indem Operationen verschoben werden. In der Charité sei man aber schon kurz davor, dass alle Intensivbetten belegt sind, mahnte der Berliner Virologe. In anderen Krankenhäusern sei dies auch nur eine Frage von zwei, drei Wochen.

"Dann müssen wir in eine Triage-Situation gehen." Das hieße beispielsweise, auf einer Intensivstation zu überlegen, ob man den 35-jährigen Familienvater rettet und dafür einen alten Patienten mit geringeren Überlebenschancen "abmacht". Aus diesem Grund habe die Bundesregierung die aktuellen Maßnahmen beschlossen.

Strategiewechsel notwendig

Christian Drosten geht allerdings davon aus, dass das, was in Deutschland vor dem November-Lockdown gegen die Ausbreitung des Coronavirus gemacht wurde, im Dezember und den folgenden kalten Monaten nicht ausreichen wird, um einen erneuten Kontrollverlust zu verhindern. Verbesserungen seien nötig.

So fordert der Berliner, die Strategie der Gesundheitsämter zu ändern. Aktuell seien diese nicht mehr in der Lage, alle Infektionsketten nachzuverfolgen. Statt wie bisher Personen zu suchen, die zu einem Infizierten Kontakt hatten, plädiert er dafür, den Ursprung der Infektion zurückzuverfolgen. Es gehe darum, mögliche Cluster, Fall-Nester, zu finden. Dabei legt Drosten zugrunde, dass rund 20 Prozent der Infizierten bei sogenannten Superspreading-Events für 80 Prozent der Weiterverbreitung verantwortlich sind. Alle anderen stecken niemanden oder nur wenige Personen an.

Nachverfolgung nicht effizient

Bei einem positiven Testergebnis liege die Infektion schon rund zehn Tage zurück, so Drosten. Da man vor allem kurz vor den ersten Symptomen und wenige Tage danach besonders ansteckend sei, genüge es, einen Patienten kurz zu isolieren, da er kaum noch infektiös sei. Bei seinen Kontakten finde man vielleicht den einen oder anderen Infizierten, aber für das Infektionsgeschehen seien diese nicht relevant.

Es gelte den Cluster ausfindig zu machen, erklärte Drosten. Und dann müsse man sofort alle Beteiligten unter Quarantäne stellen, ohne Zeit durch Tests zu verschwenden. Ab einer bestimmten Cluster-Größe sei es einfach sehr wahrscheinlich, dass nicht nur mehrere Infektionsketten, sondern auch neue Superspreader-Ereignisse gestartet werden. So würden junge Menschen eines Clusters kaum krank und gingen daher nicht zum Arzt, seien aber trotzdem hochinfektiös.

Um Fall-Nester ausfindig zu machen, wünscht sich der Virologe, dass Menschen ein Kontakt-Tagebuch führen, in das sie möglicherweise kritische Situationen eintragen. Denn wer könne sich schon noch erinnern, wo er vor zehn Tagen gewesen sei.

Gesetzesgrundlagen fehlen

Drosten ist sich allerdings bewusst, dass ein Paradigmenwechsel im öffentlichen Gesundheitswesen "extrem schwierig" ist, "denn da sind gesetzliche Hürden am Werk". Um eine ganze Gruppe auf Verdacht in die Heim-Quarantäne zu schicken, dafür gebe es aktuell keine gesetzliche Grundlage.

Das sieht auch Ute Teichert, die Verbandschefin der Ärzte im öffentlichen Gesundheitsdienst, so. Deshalb plädierte sie im ZDF am 23. Oktober noch für ein Beibehalten der Strategie der Nachverfolgung. Allerdings erkannte sie zu diesem Zeitpunkt noch keinen Kontrollverlust der Gesundheitsämter. Trotzdem müsse man das "bei all dem politischen Gegenwind stemmen", sagte Drosten.

Schnelltests machen vieles möglich

Große Hoffnung setzt Drosten auf Antigen-Schnelltests. Diese seien neben der Cluster-Verfolgung das zweite große Thema, das er und andere Wissenschaftler, die die Regierungen beraten, derzeit "inkubieren". Die Tests zeigten nur dann positive Ergebnisse, wenn die Viruslast so hoch sei, dass ein Patient auch infektiös ist. Bei einem negativen Ergebnis sei daher auch ein Infizierter nicht mehr ansteckend.

Wenn alle Meinungsträger in der Politik mutig mitmachten und dies in Richtlinien umsetzten, könnte man künftig zwei Arten von Diagnosen stellen, so der Virologe: PCR-Tests klären, ob eine Person infiziert ist, Antigen-Schnelltests, ob sie ansteckend ist. Damit könne man beispielsweise Alten- und Pflegeheime sichern, bei der Cluster-Verfolgung direkt bei Betroffenen zu Hause testen oder Menschen nach einer Infektion schnell wieder zur Arbeit gehen lassen.

Das Virus sei für die Masse der Bevölkerung kein Gesundheitsproblem, gerade bei jungen Leuten, dem Kern unserer Arbeitskraft, sagte Drosten. Trotzdem fielen sie durch Isolation zu Hause längere Zeit aus. "Und da trifft sich Wirtschaft und Gesundheit. Da müssen wir hin." Man überlege sogar, Schnelltests schon bald als Home-Tests zuzulassen, was normalerweise ein Jahr dauern würde. Bisher dürfen die Tests nur von qualifiziertem Personal durchgeführt werden.

Notfalls Ministerialerlasse

Deutschland müsse aus dem Kurzzeit-Lockdown anders herauskommen, als es hineingegangen sei. "Nämlich mit besseren Methoden und einer veränderten Strategie." Außerdem müssten an einigen Stellen Regulationen geöffnet werden. "Und wenn es nur zeitweise ist und wenn es das brutale Instrument eines Ministerialerlasses braucht hier und da. Das muss möglicherweise passieren."

Man wolle keinen wiederholten Lockdown, könne dies aber auch nicht ausschließen. Es sei auch nicht gesagt, dass bis Ende November alles so bleibt wie jetzt, sagte Drosten. Die Politik habe für Mitte des Monats eine Zwischenauswertung festgelegt. Die AHA-Regeln würden wohl alleine nicht ausreichen, zusätzliche Maßnahmen seien voraussichtlich notwendig. Aber es seien wahrscheinlich auch keine besonders einschneidende Regeln wie Besuchsverbote in Seniorenheimen nötig, hofft der Berliner Wissenschaftler.

Es geht nicht ohne Impfstoff

Ein Pfeiler der Strategie sei außerdem die Aussicht auf die baldige Verfügbarkeit eines Impfstoffs. Man müsse sogar darauf setzen, "man hat gar keine andere Wahl", betonte Drosten. Manchmal werde in der Öffentlichkeit suggeriert, kein Mensch könne wissen, ob die Impfstoffe irgendwann mal funktionieren und man müsse lernen, mit dem Virus zu leben. Dies sei kompletter Unsinn, solange man sich dahinter keine konkreten Zahlen vorstelle.

Mit dem Virus leben lernen hieße letztendlich, Infektionen zulassen, so Drosten. Man könne dies aber nur solange tun, bis die Gesundheitsämter die Fallverfolgung nicht mehr schaffen. "Wenn es außer Kontrolle ist, kommen wir wieder in den exponentiellen Anstiegsbereich. Und dann haben wir wenige Wochen, bis die Intensivstationen voll sind und wir wieder in der Triage-Überlegung sind."

Dies bedeute zwangsläufig, dass etwas unternommen werden muss, wenn man an die Kapazitätsgrenzen einer effektiven Fallverfolgung kommt. "Da reichen keine Reden mehr, da reicht nicht mehr, dass man mit dem Virus leben lernen muss."

Herdenimmunität kontrolliert erreichen

Man werde mit dem Virus leben lernen, wenn die Herdenimmunität erreicht sei. Damit meint Drosten aber nicht, die Gesellschaft unkontrolliert durchzuinfizieren. Dies gelänge nur durch Impfungen der besonders gefährdeten Gruppen auf erträgliche Weise, sagte er. Dann könne man schrittweise höhere Infektionszahlen tolerieren.

Zu viele Ansteckungen dürfe man aber auch dann nicht zulassen. Denn dies würde zwangsläufig vermehrt zu schweren Krankheitsverläufen bei Jüngeren führen, die dann die Intensivstationen füllen und auch sterben würden. Unter anderem deswegen seien auch antivirale Medikamente für die Überwindung der Pandemie unverzichtbar.

Was Schulen betrifft, geht Drosten nach wie vor davon aus, dass Kinder grundsätzlich genauso infektiös wie Jugendliche oder Erwachsene sind. Anderslautende Studien seien unter anderem aufgrund von verfälschten Beobachtungen während des ersten Lockdowns oder in den Ferien zustande gekommen. Im Sommer sei das Virus außerdem kaum verbreitet gewesen. Und schließlich würden Infektionen von Kindern seltener erkannt, da sie kaum Symptome zeigten, erklärte der Virologe.

Schulen haben Priorität

Andere "Labor-verwurzelte" Virologen wie er sähen dies ganz genauso. Auch in diesem Fall seien vor allem die Landräte gefordert, die letztendlich über Schulschließungen entscheiden müssten. "Da bleibt's hängen", weil es im föderalen System nach unten durchgereicht werde.

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Man müsse Prioritäten setzen, so Drosten. Alles sei gefährlich, wo viele Menschen aufeinandertreffen, aber Schulen seien eben besonders wichtig. "Darum müssen die aufbleiben und andere Sachen bleiben eben zu." Die politische Entscheidung sei richtig, betonte er.

Man müsse jetzt ergebnisoffen beobachten, wie sich Schulen in dieser zweiten Welle und im temporären Lockdown entwickeln. "Das wissen wir einfach nicht." Man könne nur hoffen, dass das jetzt doch weit verbreitete Maskentragen und die Hygienemaßnahmen in Schulen Infektionen verhindern. Außerdem leiste es einen Beitrag, das Freizeitverhalten nach der Schule zu vermindern.

Quelle: ntv.de

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