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Alexithymie: Leben ohne Emotionen "Gefühlsblindheit macht krank"

Alexithyme Menschen tragen Gefühle in sich, können sie aber nicht wahrnehmen.

Alexithyme Menschen tragen Gefühle in sich, können sie aber nicht wahrnehmen.

(Foto: Peter Hebgen, pixelio)

Alexithymie ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das auch in Deutschland weit verbreitet ist. Experten schätzen, dass zehn Prozent der Bevölkerung gefühlsblind sind. Bei vielen von ihnen stellen sich nach geraumer Zeit gesundheitliche Beeinträchtigungen ein. Welche das sind und wie man damit umgehen kann, erklärt Dr. Claudia Subic-Wrana, Leitende Psychotherapeutin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Mainz.

n-tv.de: Alexithymie ist keine Krankheit im eigentlichen Sinne, sondern …?

Claudia Subic-Wrana: … eher ein Persönlichkeitsmerkmal, das von der Psychologie erforscht wird. Die Psychologie untersucht ja auch andere Persönlichkeitsmerkmale, wie zum Beispiel die Intelligenz. Alexithymie ist also nur eines davon.

Alexithymie ist ein eher unbekanntes Phänomen. Die Forschung dagegen ist, vor allem in den letzten 20 Jahren, sehr daran interessiert. Warum?

Zuerst einmal muss man bei der Alexithymie zwischen verschiedenen Ausprägungsgraden unterscheiden. Zum einen gibt es alexithyme Menschen, die keinerlei Schwierigkeiten damit haben, zum anderen gibt es alexithyme Menschen, die unter verschiedenen - sowohl körperlichen als auch psychischen Krankheiten leiden. Dem folgend kann man zwei Forschungsrichtungen unterscheiden: Die eine widmet sich mit repräsentativen Studien der Verbreitung der Alexithymie in der Bevölkerung. Die andere dagegen widmet sich mehr den Betroffenen, die mit Krankheiten in Verbindung mit Alexithymie zu tun haben. Hier ist die Frage zu klären, inwieweit Alexithymie eine krankheitsvermittelnde Komponente haben könnte.

Von welchen Erkrankungen sprechen Sie?

Vor allem von Krankheitsbildern der Psychosomatik. Die Betroffenen klagen über körperliche Missempfindungen oder Beeinträchtigungen. Ärzte können aber auf der körperlichen Seite keine organischen Gründe dafür finden. Dahinter steckt die Vorstellung, dass Emotionen immer auch auf körperlicher Ebene Ausdruck finden, wie zum Beispiel ein erhöhter Herzschlag bei Angst. Solche körperlichen Reaktionen werden von alexithymen Menschen meistens falsch verstanden beziehungsweise können nicht eingeordnet werden. Das führt zu Verwirrung. Mit diesen Beschwerden, die oft auftreten können, gehen die Betroffenen schließlich zum Arzt.

Das heißt, alexithyme Menschen haben Gefühle, können diese aber weder erkennen noch benennen?

Verschiedene Gesichtsausdrücke eines neun Wochen alten Kindes.

Verschiedene Gesichtsausdrücke eines neun Wochen alten Kindes.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Das ist richtig. Das Erlernen vom Wahrnehmen und schließlich Ausdrücken von Gefühlen ist im menschlichen Werden ein langer Entwicklungsweg, bei dem viel schief gehen kann. Jedem Menschen angeboren ist ein Repertoire mimischer Gesichtsausdrücke für die primären Gefühle wie Trauer, Freude oder Neugier, mit dem jeweils spezifische Muster körpereigener Reaktionen - zum Beispiel Ausschüttung von Adrenalin bei Angst - verbunden sind. Das ist etwas, was man schon bei Säuglingen beobachten kann. Bevor ein Kind jedoch klar denken und formulieren kann, "jetzt habe ich Angst", muss es viele Entwicklungsstufen durchlaufen. Jemand, der also sehr stark alexithyme Züge hat, konnte als Kind wahrscheinlich nicht alle Entwicklungsschritte durchlaufen. Meist gab es viele Probleme in der Interaktion zwischen ihm und seiner Umgebung.

Ist Alexithymie dann eher eine Schutzfunktion des Betroffenen?

Das wird diskutiert. In der klinischen Untersuchung wird meistens nach einem Defizit gefragt, dass durch genetische oder Umweltfaktoren oder frühe traumatische Einflüsse aufgetreten ist. Oder aber ist es ein Schutzfaktor, das bedeutet, hat dieser Mensch so viele negative Erfahrungen machen müssen, dass er sich vor intensiven, vor allem aber negativen Gefühlen unbewusst abschirmt.

Welche Therapiemöglichkeiten gibt es?

Zu uns, in die psychosomatische Medizin kommen Patienten mit sogenannten Somatoformen Störungen und nicht, weil sie sich als Alexithym empfinden. Zu den Somatoformen Störungen gehören Müdigkeit, Erschöpfung, Schmerzen, Herz-Kreislauf- und Magen-Darm-Beschwerden, die keine organische Ursache haben. Ein erster Schritt in der Behandlung ist es, den Patienten ein Krankheitsmodell zu vermitteln, das die körperliche Störung verbindet mit einer unzureichenden Bewusstheit von Emotionen. Wenn die Patienten bereit sind, sich auf dieses Modell einzulassen, wird erst einmal eine stationäre Behandlung empfohlen, um sie aus ihrem bisherigen Alltag herauszuholen. Dann wird das bewusste Gefühlserleben auf individuell angepasste Art und Weise gefördert.

Dann bekommen die Menschen wieder einen Zugang zu ihren Gefühlen?

Das ist durchaus möglich. Die Dauer der Behandlung und der Erfolg hängen aber ab von der Schwere der Alexithymie und der Einstellung und Offenheit des Betroffenen ab, denn er muss sich ja auf ein völlig neues Verständnismodell seiner Probleme einlassen. Wir arbeiten nicht nur mit verbalen Verfahren, sondern auch mit Verfahren, die das Körpererleben oder Selbsterleben anregen, wie zum Beispiel Kunst- oder Tanztherapie. Das sind wichtige Unterstützungen für den Patienten. In den Therapien hat er die Möglichkeit, bestimmte Dinge nachzuholen oder seine Schutzhaltung zu lockern bzw. loszulassen.

Alexithyme Menschen sollen weniger Fantasie haben als andere. Stimmt das?

Ja, zum Bild der Alexithymie gehört ein sogenannter nach außen gerichteter Denkstil. Diese Menschen sind mehr auf das Faktische bezogen. Für Alexithyme ist Fantasie Schall und Rauch beziehungsweise sinnloser Zeitvertreib. Das heißt, sie haben auch eine negative Einstellung dazu, und deshalb wird Fantasie innerlich abgelehnt.

Stimmt es, dass wesentlich mehr Männer als Frauen von Alexithymie betroffen?

Dr. Claudia Subic-Wrana arbeitet an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Mainz.

Dr. Claudia Subic-Wrana arbeitet an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Mainz.

(Foto: Peter Pulkowski)

Die meisten großen bevölkerungsrepräsentativen Studien stammen aus Skandinavien. Bei diesen Untersuchungen wurde mit einem weitverbreiteten Fragebogen, dem TAS-20 Alexithymie abgefragt. Die Mittelwerte aus den Ergebnissen zeigen tatsächlich, dass mehr Männer, aber auch mehr Menschen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status, Menschen mit geringer Bildung und ältere Menschen betroffen sind. Das sind aber nur Mittelwerte. In unserer Psychosomatik beispielsweise haben wir mehr Frauen als Patientinnen als Männer, vor allem mit Schmerzstörungen. Bei anderen Erkrankungen, die mit Alexithymie zusammenhängen können, zum Beispiel Suchterkrankungen, finden wir natürlich sehr viel mehr Männer. Bei einer Vielzahl der Patienten dagegen wird überhaupt nicht überprüft, ob Alexithymie eine Rolle für ihre Beschwerden spielen könnte.

Mit Claudia Subic-Wrana sprach Jana Zeh

Quelle: ntv.de

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