Woher kommt die Intelligenz? "Gene werden stark überschätzt"
27.09.2010, 10:35 Uhr
Modell eines menschlichen DNA-Stranges. Ein ADHS-Gen sucht man hier vergeblich.
(Foto: picture alliance / dpa)
Thilo Sarrazin fragt seine Kritiker gern, ob sie sein Buch gelesen haben. Hier ist ein Buch, das Sarrazin lesen sollte, wenn er seine Lesereise beendet hat: "Gene sind kein Schicksal" von Jörg Blech. Es hält einige Überraschungen bereit - nicht nur für Herrn Sarrazin. Denn Blech legt dar, dass der angebliche Gegensatz zwischen Genen und Umwelt gar nicht existiert: Gene und Umwelt bedingen einander und wirken im Zusammenspiel.
n-tv.de: Ich muss gestehen, dass ich zunächst die Danksagung am Schluss Ihres Buches gelesen habe, dann das Buch selbst. Die letzten Sätze darin haben mich stutzig gemacht: "Mein erster Dank geht an Menschen, denen ich besondere Spuren in meinem Erbgut verdanke: an meine Mutter, meine Frau und unsere Kinder."
Jörg Blech: Das sind Menschen, die mich beeinflusst haben, mein engstes Umfeld. Soziale Faktoren wirken auf unsere Erbanlagen ein.
Wie funktioniert das?
Im Erbgut gibt es Schalter, die dafür sorgen, ob ein Gen an- oder ausgeschaltet wird. Diese Schalter sind eine Art Scharnier oder Bindeglied zwischen der Außenwelt und der Welt der Gene. Sie erklären, wie es sein kann, dass Umweltfaktoren auf die Erbanlagen einwirken - positiver und negativer Stress, Gefühle, der Alterungsprozess, Nahrung, Gifte, Schadstoffe. All diese Einflüsse können diese Schalter auf Aus oder Ein stellen und wirken so auf die Erbanlagen. Das läuft über so genannte epigenetische Mechanismen. Der bekannteste ist die Methylierung.
Was passiert dabei?
Bei der Methylierung wird ein kleines Molekül, eine Methylgruppe, an eine bestimmte Stelle im Erbgut angehängt oder von ihr gelöst. Wird die Methylgruppe angehängt, sorgt sie dafür, dass ein bestimmtes Gen nicht abgeschrieben werden kann, seine Information kann also nicht übertragen werden in ein Protein. Die Art und Weise, wie wir leben, hat Einfluss darauf, wie unsere Gene arbeiten.

Die Bienenkönigin ist größer und hat eine andere Funktion als die Arbeiterinnen. Und doch hat sie die gleichen genetischen Voraussetzungen.
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Ihr Bienen-Beispiel fand ich sehr anschaulich.
Die Larven eines Bienenvolkes sind genetisch einander ähnlich, wie Geschwister. Zunächst ist es unmöglich zu sagen, welches Schicksal die Biene erwartet. Es hängt allein von der Nahrung ab: Bekommt die Larve den normalen Honig-Pollen-Brei oder Gelée royale? Nur die Larve, die mit Gelée royale gefüttert wird, wird zur Königin. Der Brei, mit dem die anderen Larven gefüttert werden, sorgt für eine Methylierung bestimmter Gene - er schaltet gewissermaßen die Königinnen-Gene ab.
Für Ärzte spielt es eine große Rolle, ob es Krebserkrankungen in der Familie gab. Sie dagegen sagen, es gebe keine biologisch vorgezeichnete Verwundbarkeit für Krebs.
Grundsätzlich habe ich den Eindruck, dass die Rolle der Gene stark überschätzt wird. Ungefähr 4 Prozent der Menschen kommen mit genetischen Defekten auf die Welt. In meinem Buch geht es um die anderen 96 Prozent. Ich stelle gar nicht in Abrede, dass es beim Krebs genetische Vorbelastungen gibt, etwa die Mutationen, die Brustkrebs begünstigen. Von 100 Frauen, die an Brustkrebs erkranken, tragen ungefähr 10 eine solche Mutation, die anderen 90 jedoch nicht. Auch beim Krebs spielt die Umwelt eben eine große Rolle - es ist nicht alles schicksalhaft biologisch vorbestimmt. Prostatakrebs beispielsweise ist in Asien relativ selten. Studien zeigen, dass die Erkrankungsrate unter Asiaten steigt, wenn diese in die USA einwandern und den amerikanischen Lebensstil übernehmen. Seltsamerweise neigen wir dazu, auszublenden, wie groß der Einfluss der Umwelt auf unsere Gesundheit ist.
Sie beschreiben, wie entsetzt der wissenschaftliche Vater der Aufmerksamkeitsstörung ADHS, Leon Eisenberg, später über die Folgen seiner Forschungen war.

Fatale Konsequenz: Wer glaubt, dass ADHS eine biologische Ursache hat, greift zur Medizin.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Gerade in der Psychiatrie gibt es den Trend, seelischen Problemen eine biologische Wurzel zuzuschreiben. Das ist natürlich sehr entlastend: Ich war mal in einem Krankenhaus bei einem Info-Abend für Eltern von Kindern, bei denen ADHS diagnostiziert worden war. Vorn stand ein Arzt und behauptete: "Wir wissen jetzt, dass es eine genetische Verwundbarkeit gibt - das ist die gute Nachricht." Im Publikum saßen 200 Eltern. Als der Arzt das sagte, ging ein Seufzer der Erleichterung durch den Saal.
Sie sind der Sache dann nachgegangen.
Der Arzt von damals hatte nicht recht. Es gibt keine genetische Wurzel für ADHS. Es gibt keine Studie, die sagt, dieses oder jenes Gen wäre dafür verantwortlich, dass ein Kind sich in der Schule nicht konzentrieren kann. In den Gehirnen von Kindern ist ADHS nicht nachweisbar. Ich habe Eisenberg in seiner Wohnung in Cambridge in den USA besucht. Er war wirklich entsetzt, was für eine Eigendynamik dieses Krankheitsbild angenommen hat; er hatte ja daran mitgewirkt, diese Krankheit zu definieren. Er hat mich auf die Studien über die Epigenetik hingewiesen. Für ihn war das der große Paradigmenwechsel: "Wir wissen jetzt, wie die Umwelt unsere Gene steuert!"
Was macht es bei ADHS für einen Unterschied, ob Gene oder Umwelt verantwortlich sind?
Die Konsequenzen können fatal sein: Die Behauptung einer biologischen Ursache wird zur Rechtfertigung, kleinen Kindern routinemäßig Psycho-Pillen zu verabreichen. Die Lösung wäre aber, die Umwelt zu verändern - indem man beispielsweise die Klassen kleiner macht oder dafür sorgt, dass die Kinder sich außerhalb der Schule austoben können.
Sie schreiben, dass einige Forscher sich auf der Suche nach dem Schwulen-Gen Anfang der 90er ziemlich blamiert haben - wie kamen diese Forscher überhaupt darauf, dass sie das Schwulen-Gen entdeckt haben könnten?
Sie suchten nach Gemeinsamkeiten im Erbgut von homosexuellen Männern. Dabei wurde kein Gen entdeckt, sondern ein größerer Abschnitt im Erbgut, der bei Homosexuellen angeblich gehäuft vorkäme. Mehr nicht. Die Forscher haben ihre Schein-Entdeckung natürlich nicht für sich behalten, die Medien haben das resolut zugespitzt, und so kam das Schlagwort vom Schwulen-Gen in die Welt. Dass ein solches Gen tatsächlich nie gefunden wurde, löste dann keinen so großen Wirbel aus. So läuft es immer wieder: mit dem Gen für Alzheimer, für Herzinfarkt, für schlechtes Autofahren - die angebliche Entdeckung macht große Schlagzeilen, das Dementi später schafft es kaum in die Medien.
Thilo Sarrazin schreibt in seinen genetischen Ausführungen, der aktuelle Forschungsstand sei der, "dass jene, die die Erblichkeit von Intelligenz besonders betonen, deren Anteil mit 60 bis 80 Prozent ansetzen, während jene, die besonders auf Umwelteinflüsse abstellen, auf einen Erbanteil von 40 bis 60 Prozent kommen". Wie viel Prozent bieten Sie?
Auf Basis der wissenschaftlichen Literatur würde ich sagen, so 50 Prozent. Aber wir sind hier bei einem Missverständnis. Sarrazin behauptet, Intelligenz sei zu 50 bis 80 Prozent genetisch bedingt. Das ist aber falsch. Nur der Unterschied in der Intelligenz zwischen zwei Personen, die in einer ähnlichen Umwelt aufwachsen, kann auf die Gene zurückgeführt werden.
Zum Beispiel?
Wenn wir annehmen, dass die Schüler einer Eliteschule sehr ähnliche Voraussetzungen haben - sie kommen aus der Mittel- und Oberschicht, aus einem bildungsnahen Elternhaus, erfahren in der Schule die gleiche Förderung, sind beim Lernen theoretisch ähnlich motiviert -, dann kann man davon ausgehen, dass unterschiedliche Noten innerhalb einer Klasse dieser Schule ein Stück weit - ich würde sagen, zu etwa 50 Prozent - genetisch bedingt sind. Wenn Sie diese Kinder aber mit den Schülern einer Brennpunktschule vergleichen, dann sehen Sie Unterschiede, die nahezu ausschließlich umweltbedingt sind.
Sie meinen, die Kinder der Brennpunktschule würden in einem anderen Umfeld bessere Leistungen zeigen?
Ja, denn Intelligenz ist extrem veränderbar. Gerade Kinder aus sozial schlechten Bedingungen haben oft gar nicht die Möglichkeit, ihr genetisches Potenzial auszuschöpfen. Adoptionsstudien zeigen, dass Kinder beim IQ um 12 Punkte zulegen, wenn sie in ein vorteilhafteres Umfeld kommen.
Gibt es dabei ethnische Unterschiede?
Nein. Es gibt womöglich 100 oder auch 1000 Gene, die irgendwie mit Intelligenz zu tun haben - wie viele es sind, weiß man gar nicht. Dieser Pool von Genen ist zwischen den ethnischen Gruppen völlig gleich, was auch daran liegt, dass die Menschheit noch gar nicht so alt ist: Vor ein paar tausend Jahren gab es eine Gründerpopulation von rund 10.000 Individuen, die alle die gleichen Gene hatten, 22.000 bis 26.000 Gene, und alle Volksgruppen haben die bis heute.
Hat man denn je untersucht, ob Menschen unterschiedlicher Hautfarbe unterschiedliche kognitive Fähigkeiten haben?
Zu dem Thema gibt es eine interessante Studie aus Deutschland, die der Psychologe Klaus Eyferth Anfang der 60er Jahre durchgeführt hat. Er untersuchte die so genannten Besatzungskinder - Kinder von amerikanischen Soldaten und deutschen Frauen. Die Bedingungen der Kinder waren sehr ähnlich: Sie alle waren sozial stigmatisiert und gingen auf die gleichen Schulen. Der einzige Unterschied war die Hautfarbe: Einige hatte dunkelhäutige, andere hellhäutige Väter. Eyferth machte Intelligenztests mit diesen Kindern - und fand keinen Unterschied.
Was sagen Sie zu Sarrazins Behauptung, Juden hätten einen um 15 Punkte höheren IQ als andere Europäer? Zur Begründung schreibt er: "Der Rabbi hatte hohe Fortpflanzungschancen, weil er die reiche jüdische Kaufmannstochter heiraten konnte."
Das ist krudes Zeug. Vor allem hat es nichts mit Genetik zu tun. Wir haben ja schon darüber gesprochen, wie formbar die Intelligenz ist. Wenn eine Familie, egal welcher Konfession, zum Bildungsbürgertum gehört und über Generationen großen Wert darauf legt, dass die Kinder besonders gefördert werden, dann wird man bei diesen natürlich auch einen besonders hohen IQ messen. Das gilt für irische Katholiken in Neuengland genauso. Der IQ korreliert mit der Bildung, die ein Mensch genossen hat. Das ist nicht genetisch vorbestimmt, sondern ein Produkt der Umwelt.

Jörg Blech ist studierter Biologe und arbeitet als Journalist für den "Spiegel".
(Foto: Andreas Labes / S. Fischer Verlag)
Eine Figur fehlt in Ihrem Buch: Mozart. Sind geniale Sonderbegabungen vielleicht doch nur über die Gene zu erklären?
Bislang ist kein Mozart-Gen gefunden worden. Mein Eindruck ist eher, dass Übung den Meister macht. In Studien ist gezeigt worden, dass Leute, die im Orchester die erste Geige spielen, in jungen Jahren 10.000 Stunden geübt haben. Je mehr man übt, desto besser das Ergebnis.
Sie haben einen wichtigen Tipp für Eltern und Lehrer: Man soll Kinder loben, aber nicht für ihre Schlauheit, sondern für ihre Arbeitsmoral.
Beim Lernen ist nicht das absolute Ergebnis wichtig, sondern die Verbesserung. Da Verbesserung eine Folge des Übens ist, sollte man ein Kind für seinen Fleiß loben. Wenn ein Kind in Mathe 3 bis 4 steht, dann lernt und eine 3+ schreibt, ist das eine großartige Leistung - es hat sich verbessert und sollte dafür gelobt werden.
Mit Jörg Blech sprach Hubertus Volmer
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Quelle: ntv.de