Yoga ist keine Religion Kinder in Balance halten
30.08.2007, 12:07 UhrKind zu sein ist heute nicht so einfach. Zwischen einem von Pisa geschockten Schulsystem, arbeitslosen, zu viel arbeitenden oder ehrgeizigen Eltern und einem Überangebot an Freizeitmöglichkeiten, fehlt vielen Kindern ein eigener Raum, um zu sich selbst zu finden. Sie werden nervös, zappelig, unsicher oder sogar verhaltensauffällig und aggressiv. Yoga ist eine Möglichkeit, Kindern diesen Raum zu geben. Doch die Vorbehalte gegenüber den altindischen Atem-, Entspannungs- und Meditationstechniken sind noch weit verbreitet.
n-tv.de: Was kann Yoga wirklich für Kinder tun? Diese Frage stelle ich an Sohan Anne Böing, Yogalehrerin und Kinder-Yoga-Lehrerin seit 1999 in Berlin.
Sohan Anne Böing: Yoga kann Kinder in Balance bringen und halten. Damit meine ich kein statisches Bild oder einen bestimmten Zustand, der angestrebt und aufrecht erhalten wird, sondern einen lebendigen, bewussten, sich stetig ändernden Prozess. Das ermöglicht den Kindern, am Leben teilzunehmen und dabei im Kontakt mit sich zu sein und zu bleiben. Bei den vielen Herausforderungen und Eindrücken des Alltags ist das keine einfache Aufgabe. Die Körperwahrnehmung und das Bewusstsein über die eigene Körperintelligenz sind dabei wichtig.
Warum Yoga für Kinder? Geht das überhaupt?
Ja! Aus meiner Erfahrung heraus stellen sich die Eltern diese Frage. Die Kinder hingegen praktizieren einfach Yoga, ohne eine genaue Vorstellung oder ein konkretes Ziel zu haben. Vorbehaltlos machen sie so eine direkte Erfahrung. Die Frage "Warum?" stellt sich für viele Kinder gar nicht oder wird durch die direkte Erfahrung sofort beantwortet. Yoga wird für Kinder ein selbstverständliches Werkzeug! Die im Yoga geschulte Eigenwahrnehmung ermöglicht, sich dem natürlichen Zugang bewusst zu werden und zu vertrauen. So können die Kinder lernen, die eigenen Methoden des sich Ausbalancierens gezielt anzuwenden.
Kinder-Yoga wird zum Glück auch für immer mehr "Groß-Gewachsene", wie mal ein Kind gesagt hat, selbstverständlicher. So schicken inzwischen immer mehr Ärzte Kinder zu mir, um Umgangs- und Entwicklungsprobleme zu lösen und Konzentration und/oder Koordination zu verbessern. Eine Entwicklung, die mich freut und meinem Anliegen nach interdisziplinärer Zusammenarbeit entgegenkommt. Ein Miteinander verschiedener Fachbereiche ermöglicht viel Neues, bereichert und erleichtert die Arbeit.
In welchem Alter dürfen Kinder Yoga praktizieren? Gibt es gesundheitliche oder sonstige Einschränkungen? Muss ein Elternteil dabei sein?
Mit ungefähr drei Jahren können Kinder mit Yoga beginnen. Zunächst sind die Eltern dabei und machen mit. So lernen die Kinder am Vorbild. Dann kommt der Moment, wo die Kinder lieber allein Yoga machen wollen. Die Praxis hat mir gezeigt, dass ich diesem Impuls des Kindes vertrauen kann, und es immer der richtige Zeitpunkt für Eltern und Kinder ist. Bei den größeren Kindern sind keine Eltern dabei. Die Kinder und ich laden die Eltern aber zur letzten Stunde vor den Sommer- und Winterferien zu einer gemeinsamen Abschlussstunde ein.
Einschränkungen gibt es nicht! Ich habe allerdings Kinder, bei denen die Gruppenarbeit nicht ausreicht. Nach Absprache arbeite ich mit diesen Kindern und/oder ihren Eltern eins zu eins, weil es sonst den Gruppenprozess sprengen würde. Oder ich empfehle zusätzlich noch eine alternative Behandlungsmethode, das kommt auf den Einzelfall an.
Gibt es Kinder, für die Kinder-Yoga ungeeignet ist?
Bisher habe ich noch kein Kind kennen gelernt, für das Kinder-Yoga ungeeignet ist.
Wie läuft so eine Kinder-Yoga-Stunde ab?
Unterschiedlich: Je nachdem, was die Kinder beschäftigt und was sie für Anliegen mitbringen. Die flexible Struktur setzt sich zusammen aus dem Einstimmen auf die Yoga-Stunde mit einem festen Ritual. Die so genannten Asanas, also Körperübungen, folgen. Dieser Teil der Stunde gestaltet sich jedes Mal anders. Die Asanas werden zunächst spielerisch ausprobiert. Dabei integriere ich Bewegungs-Impulse, die von den Kindern kommen, weil das intuitiv heilende Bewegungen sind, die im Alltag häufig ausgebremst werden oder unbewusst bleiben. Rollen, hüpfen, zirpen, schleichen oder auch Höhlen bauen gehören auf jeden Fall dazu.
Kinder, die z.B. "unter Strom stehen", wählen in der Stunde eine Bewegung oder ein Geräusch, um den Druck zu lösen. Es kann die Lokomotive sein oder die Schlange, die giftig zischt und sich warnend Luft macht. Kinder wählen intuitiv das, was sie wieder mit sich selbst sein lässt. Ich greife den gewählten Impuls auf und webe ihn mit in den Verlauf der Stunde ein. Laut zwischen den Zähnen durch zu zischen wie ein Drucktopf löst beispielsweise inneren Druck auf. Es gibt Momente, wo der Druck durch Mangel an Kreativität noch erhöht wird. Das beobachte ich häufig bei Wut. Schlägt, beißt oder kratzt ein Kind, kommt aus dem Umfeld meistens nur ein: "Nein, das tut man nicht!" Damit wird der Druck im Kind erhöht und es ist nur eine Frage der Zeit, dass die Wut sich wieder Raum verschafft.
Manchmal wird ein soziales Kind so wütend, weil es zuvor weit über seine Grenze hinaus gegeben hat. Mit der Wut verschafft das Kind sich wieder Raum. An diesem Punkt ist die Wut schon ein Notmittel, um wieder in den Kontakt mit sich zu kommen. Statt die Wut zurückzuweisen, sollte dem Kind eine Form geboten werden, wo es seine Wut ausleben kann, aber ohne jemanden zu verletzen.
Kleiner Kinder führe ich mit einer Geschichte durch die Asanas (Körperübungen). Bei den größeren Kindern erzähle ich keine Geschichten mehr. Sie haben zumeist ganz konkrete Anliegen! Eine Gruppe wollte vor kurzem unbedingt den gebundenen Lotus lernen. Es hat einige Stunden gebraucht und die Kinder haben zuhause angefangen voll freudigem Eifer vorbereitende Dehnübungen zu machen. Und dann diese unglaublich schönen Stunden, wo einer nach dem anderen in die Haltung kam und die gemeinsame Freude!
Nach den Asanas folgt eine spielerische oder geleitete Entspannung. Zum Beispiel spüren die Kinder in dieser Zeit ihren eigenen Herzschlag. In diesem Rhythmus sprechen sie in Gedanken ihren eigenen Namen. Es ist still im Raum, denn alle lauschen dem eigenen Rhythmus, dem eigenen Takt, der einlädt, das eigene Leben zu leben.
Plötzlich fährt ein Junge aus der Entspannung senkrecht hoch und ruft erstaunt aus: "Ich kann es spüren! Im ganzen Körper höre ich es!" Danach fällt er wieder in die Entspannung und schläft ein. Als er erwacht, steht ein Junge vor mir, der seine Schuhe trägt und im Kontakt mit sich selbst ist.
Nach der Entspannung meditieren wir gemeinsam still oder singend. Kinder haben einen selbstverständlichen Umgang damit und viele Eltern berichten mir, dass die Kinder diesen Teil in bestimmten Momenten mit in den Alltag einbringen. Dann kommt das rituelle Ausstimmen, zusammen Tee und Wasser trinken, wobei Gespräche, Wünsche oder Fragen besprochen werden. Zusammen aufräumen und verabschieden bilden den Abschluss der Kinder-Yoga-Stunde.
Worauf sollten Eltern achten, wenn sie für ihr Kind einen Kinder-Yoga-Kurs suchen?
Mmhh, die Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Es gibt Kinder, die unbedingt zum Kinder-Yoga wollen und nicht kommen dürfen, weil es nicht den Vorstellungen der Eltern entspricht. Auf der anderen Seite gibt es Kinder, die vor manchen Prozessen oder Herausforderungen "wegflattern". Hier wäre die Unterstützung der Eltern hilfreich. Aus diesem Grund würde ich den Eltern empfehlen, darauf zu achten, dass ein offenes und ehrliches Gespräch mit dem Yoga-Lehrer möglich ist.
Können Kinder auch im Kindergarten oder in der Schule, vielleicht sogar während einer kleinen Pause Yoga praktizieren oder muss ein besonderer Rahmen dafür geschaffen werden?
Alles ist möglich! Es gibt immer mehr Schulen, die Yoga in ihren Schul-Alltag integrieren. Eine Entwicklung, die der Hauptgrund für mich war, eine Kinder-Yoga-Lehrer-Ausbildung ins Leben zu rufen und anzubieten, um die Anfragen an mich persönlich weiterleiten zu können. Denn gerade in Schulen, wo die Kinder sich nicht nur einmal in der Woche treffen, ist die positive Wirkung durch Yoga auf das Gruppenbewusstsein groß.
Gibt es für Kinder irgendwelche Gefahren beim Yoga? Könnten sie beispielsweise gegen den Willen der Eltern religiös beeinflusst werden?
Yoga ist eine Wissenschaft der Erfahrung und keine Religion. Da dies von der Haltung des Lehrers abhängt, so wie überall und nicht nur beim Yoga, sollten die Eltern den Lehrer fragen, ob eine religiöse Erziehung mit einfließt. Meine Erfahrung ist, dass Kinder eigene "religiöse" Bilder haben, mit denen sie in der Meditation in den Kontakt kommen können. Mir geht es um die Erhaltung der eigenen Bilder. Es gibt Momente nach Meditationen, wo die Kinder ihre verschiedenen Bilder und Empfindungen mitteilen - das sind für mich berührende Momente, in denen die Schönheit und Einzigartigkeit jedes Menschen zum Vorschein kommt, mitgeteilt wird und nebeneinander sein darf.
(Mit Sohan Anne Böing sprach Jana Köhler.)
Quelle: ntv.de