Schweden macht viel richtig Warum Drosten Kontakt-Tagebücher fordert
01.10.2020, 20:18 Uhr
Christian Drosten setzt bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie auf die schnelle Erkennung von Clustern.
(Foto: imago images/Reiner Zensen)
Christian Drosten möchte, dass viele Menschen Kontakt-Tagebücher führen. Sie könnten ein wichtiges Mittel sein, um Superspreader schnell aufzuspüren und Corona-Ausbrüche im Keim zu ersticken. Wie effizient die gezielte Vermeidung von Clustern sein kann, sieht man unter anderem an Schweden.
Um die Corona-Pandemie effizient zu bekämpfen, setzt Charité-Virologe Christian Drosten unter anderem auf Kontakt-Tagebücher. Das heißt, Menschen sollen aufschreiben, wenn sie sich mit vielen anderen Personen getroffen haben, beispielsweise auf größeren Feiern, im Kino oder im Restaurant. Grundsätzlich geht es dabei immer darum, zu erkennen, ob sich ein sogenanntes Superspreading-Event ereignet haben könnte. Wissenschaftler weltweit sind sich inzwischen einig, dass sich das Coronavirus vor allem durch Cluster, also regionale Ausbrüche verbreitet, deren Ursprung oft nur eine einzelne Person ist.
Das heißt, die Reproduktionszahl R ist bei Sars-CoV-2 nur bedingt aussagekräftig. Es ist zwar gut, wenn sie niedriger als 1 ist, um eine exponentielle Verbreitung zu unterbinden, wie sie kürzlich Kanzlerin Merkel vorrechnete. Aber auch ein niedriger R-Wert bedeutet nicht, dass die Pandemie ausläuft. Denn einzelne Infizierte genügen unter Umständen, um sie durch große Ausbrüche wieder anzuheizen. Kommen viele Cluster zusammen, gerät die Pandemie dann unter Umständen auch schnell außer Kontrolle, obwohl der R-Wert kurz zuvor noch unter 1 lag.
Überdispersion ist der Schlüssel
Die Rechnung, dass bei einer Reproduktionszahl 1 im Schnitt ein Infizierter eine weitere Person ansteckt, geht also nicht auf. Ebenso wenig hilft es, die sogenannte Basisreproduktionszahl R0 isoliert zu betrachten. Sie gibt an, wie viele Menschen ein Kranker durchschnittlich anstecken würde, wenn der Erreger weder durch Immunitäten noch einschränkende Maßnahmen oder andere Gegebenheiten ausgebremst würde. Laut RKI liegt R0 zwischen 3,3 und 3,8.
Deswegen nutzen Wissenschaftler den Dispersionsfaktor k, der beschreibt, wie oft Häufungen von Infizierungen auftreten. Je niedriger die Zahl ist, desto weniger Personen verbreiten den Erreger. Bei einer ungleichmäßigen Verteilung mit k<1 spricht man auch von einer Überdispersion.
Drosten verweist in diesem Zusammenhang auf einen Artikel in "The Atlantic", der den aktuellen Erkenntnis-Stand zu der sogenannten Überdispersion zusammenfasst und interessante Schlüsse daraus zieht. Im Prinzip hat sich bestätigt, was Drosten bereits Ende Mai anhand einer Hongkonger Vorab-Studie vermutete: Bei Sars-CoV-2 sind rund 20 Prozent der Infizierten für 80 Prozent der Weiterverbreitung verantwortlich. Alle anderen stecken niemanden oder nur wenige Personen an. Eine am 17. September veröffentlichte Hongkonger Studie ergab, dass 19 Prozent der Infizierten das Virus weitergeben, während fast 70 Prozent harmlos für ihre Mitmenschen blieben.
Manche hatten Pech, andere Glück
Adam Kucharski von der London School of Hygiene & Tropical Medicine (LSHTM) vermutete daher schon früh in einer Vorab-Studie, dass diese Überdispersion eine Erklärung dafür sein könnte, warum Sars-CoV-2 sich nach dem Ausbruch in China nicht schneller verbreitet hat und erste Fälle in anderen Ländern zunächst keine Folgen hatten. Denn dann würden die meisten Infektionsketten von alleine verkümmern und das Virus bräuchte statistisch mindestens vier unentdeckte Ansteckungen in einem Land, um eine Chance zu haben, sich auszubreiten, so der Wissenschaftler. Wenn die chinesische Epidemie ein großes Feuer gewesen sei, seien die meisten seiner in die Welt geflogenen Funken einfach erloschen, schreibt Kucharski.
Zeynep Tufekci von "The Atlantic" hält die Überdispersion auch für eine mögliche Antwort darauf, warum manche Länder, Regionen oder Städte extrem hart von der Pandemie getroffen wurden, während es in Gebieten mit vergleichbaren Voraussetzungen deutlich weniger Fälle und Tote gegeben hat. Als Beispiel nennt sie Italien, wo drei Regionen im Norden rund 25.000 von etwa 36.000 Toten landesweit zählten. Und hier wiederum konzentrierte sich die Katastrophe auf die Lombardei mit knapp 17.000 Opfern. Ähnlich rätselhaft ist, warum Schweden nach den vielen Toten in Altersheimen zu Beginn der Pandemie jetzt eines der wenigen EU-Länder ist, für das Deutschland keine Reisewarnung erteilt hat.
Überdispersion ist die Schwachstelle des Virus
So könnte es zu einem guten Teil einfach Pech oder Glück gewesen sein, ob eingereiste Infizierte als Superspreader unbemerkt zu großen Ausbrüchen geführt haben, die dann wiederum weitere Superspreader erzeugten, die insgesamt zu einem so hohen Infektionsgeschehen führten, dass die Pandemie in kürzester Zeit außer Kontrolle geriet. Und Deutschland, das sich gerne für seine schnelle Reaktion auf die politische Schulter klopft, könnte einfach nur Glück gehabt haben, dass die ersten Infektionen im Land verpufft sind und man so wertvolle Wochen der Vorbereitung gewonnen hat.
Ob es so war oder welche Rolle die Überdispersion am Anfang der Covid-19-Pandemie spielte, weiß man noch nicht. Worin sich die Wissenschaft weitgehend sicher ist, ist dass das Wissen über die Cluster-Ausbreitung durch Superspreader ein mächtiges Werkzeug bei der weiteren Eindämmung sein kann - vor allem jetzt in Herbst und Winter, wo man davon ausgeht, dass sich das Virus vor allem über Aerosole in Innenräumen verbreitet. Wenn man Cluster schnell ausfindig macht und alle Beteiligten sofort unter Quarantäne stellt, behält man die Pandemie im Griff oder kann sie sogar weitgehend zum Erliegen bringen.
Schweden ergriff die richtigen Maßnahmen
Zum einen kommt es auf die passenden Maßnahmen an. Dass man dafür nicht viele, aber dafür die richtigen Einschränkungen benötigt, sieht man in Schweden. Beim Schutz der Bewohner von Alten- und Pflegeheimen hat das Land zwar anfangs versagt, ansonsten aber genau das Richtige getan, um große Ausbrüche erst gar nicht entstehen zu lassen. Dazu gehört die bis heute geltende strikte Begrenzung von Veranstaltungen oder Versammlungen auf 50 Personen.
Und Tufekci weist darauf hin, dass in Schweden zwar die Schulen nie geschlossen wurden und keine Maskenpflicht gilt. Allerdings nur für Kinder unter 16 Jahren, die bisher nicht als Superspreader aufgefallen sind. Die älteren Schüler werden online unterrichtet. Außerdem sind die Schulen in Schweden besser ausgestattet und die Klassengrößen kleiner.
Japan als Vorbild
Drosten nennt als Beispiel für eine erfolgreiche Cluster-Bekämpfung auch Japan, das das Virus ohne Lockdown in Schach hielt. Und hier schließt sich der Kreis zu den Kontakt- beziehungsweise Cluster-Tagebüchern. Denn wie Drosten und andere Wissenschaftler betonen, kommt es bei der Bekämpfung solcher Ausbrüche darauf an, den Ausgangspunkt zu finden. Es muss also eine Rückwärtsverfolgung stattfinden, wenn eine Covid-19-Infektion festgestellt wurde. In Japan hat man dafür Listen mit möglichen Cluster-Situationen, die Infizierten bei der Befragung helfen, sich daran zu erinnern.
Dort stünden zum Beispiel Karaoke-Bars auf der Liste, sagte er in seinem NDR-Podcast. Bei uns würde man eventuell auch fragen: "Haben Sie vielleicht Karneval gefeiert?", wenn es in der Zeit des Jahres gerade gewesen wäre. Oder: "Waren Sie sonst bei einer großen Feier, bei einer Familienfeier? Haben Sie Verwandte besucht? Haben Sie vielleicht regelmäßig und auch ungefähr vor einer Woche, als Sie sich infiziert haben könnten, als entsprechend der Zeitverläufe der Infektion dieses Ereignis stattgefunden haben muss, einen Volkshochschulkurs besucht oder Ähnliches?" Ein Kontakt-Tagebuch ist hier die ideale Gedächtnisstütze.
Rückwärts immer, vorwärts wenn möglich
Amtsärzte kannten diese Zusammenhänge bereits und versuchten, danach zu handeln, schrieb Drosten in einem Gastbeitrag für die "Zeit". Sie stünden aber im Falle eines Ausbruchs unter einem enormen Druck - etwa, zunächst zu testen, bevor sie für größere Cluster eine Quarantäne verhängen. Deswegen wird in Deutschland oft noch mühsam jede Kontaktperson eines Infizierten gesucht. Epidemiologe Hitoshi Oshitani, der maßgeblich für die japanische Strategie verantwortlich ist, sagte "The Atlantic", so sehe man den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Wenn man Kontakte vorwärts verfolgt, findet man viele Personen, von denen die meisten sich nicht angesteckt haben. Falls ein Infizierter sich nicht selbst als möglicher Superspreader herausstellt, genügt es, ihn zu isolieren. Falls Kapazitäten frei sind, kann man auch Kontaktpersonen suchen. Aber bei steigenden Fallzahlen sind die Gesundheitsämter schnell überfordert, schon jetzt muss beispielsweise in Berlin die Bundeswehr aushelfen.
Drosten schlägt deshalb vor, in Zukunft "nur (oder zumindest vor allem) dann mit behördlichen Maßnahmen auf einen positiven Test zu reagieren, wenn er von einem möglichen Cluster-Mitglied stammt". Auf diese Weise könne verhindert werden, dass die zuständigen Gesundheitsämter überfordert würden, erklärt Drosten. Außerdem plädiert er für den Einsatz der Corona-Warn-App. Diese in Kombination mit einem Cluster-Tagebuch sei "der Bringer. Wenn viele mitmachen", twitterte er.
Schnelltests helfen
Schließlich müssen zügig Schnelltests eingeführt werden, an denen derzeit auch Drosten intensiv arbeitet, wie er dem "Tagesspiegel" verriet. Mit ihnen könnte man unter anderem auch die Vorwärtsverfolgung wesentlich effizienter gestalten. Sie sind zwar nicht so genau wie die üblichen PCR-Tests. Aber mit ihnen kann man die von einem Infizierten genannten Kontaktpersonen sehr schnell testen.
Sind alle negativ, könne man davon ausgehen, dass niemand infiziert wurde, schreibt Zeynep Tufekci. Es könne dann zwar immer noch einige Ansteckungen geben, aber man wisse, dass kein Superspreading-Event vorliege. Habe man einige positive Ergebnisse, könne man die genaueren, aber teuren und langsameren PCR-Tests durchführen. Denn dann sei die Wahrscheinlichkeit eines größeren Ausbruchs gegeben.
Quelle: ntv.de