Kunst für Demenz-Kranke Wenn nur der Augenblick zählt
27.05.2011, 15:44 UhrWenn man sich auf sein Gedächtnis nicht mehr verlassen kann, zählt nur noch die Gegenwart. Ausstellungsbesuche können Demenz-Kranken helfen, Erinnerungen abzurufen. Auch wenn es nur für einen kurzen Moment ist.

Daniel Neugebauer (r) führt Menschen mit Demenz-Erkrankung durch die Kunsdthalle Bielefeld.
(Foto: picture alliance / dpa)
"Darf ich mir das mal von nahem ansehen?", fragt der ältere Herr mit dem Hut auf dem Kopf. Und bevor noch jemand antworten kann, steigt er über die Absperrung und fährt mit der Hand über das Gemälde. Wer Menschen mit Demenz-Erkrankungen durch eine Kunstausstellung führt, muss auf Überraschungen gefasst sein. Doch der positive Einfluss des Kunstgenusses auf die Patienten ist unbestritten. Und so bieten immer mehr Museen Führungen für Menschen mit Demenzerkrankungen an.
"Jede Führung verläuft anders. Nichts ist vorhersehbar", sagt Daniel Neugebauer von der Kunsthalle Bielefeld. Seit einem Jahr führt er Demenz-Patienten durch das Haus für Kunst der Gegenwart und der Klassischen Moderne. Die Veranstaltung beginnt mit einem gemeinsamen Kaffeetrinken, bevor er die Gruppe vor ausgesuchte Werke führt. "Mehr als zwei bis drei Kunstwerke sollten es nicht sein. Sie sollten klare Strukturen haben und nicht zu kleinteilig oder vielgestaltig sein", erklärt er die Auswahlkriterien. "Wer das Chaos im Kopf hat, will nicht auch noch auf der Leinwand damit konfrontiert werden."
Auf die besonderen Anforderungen solcher Führungen hat sich der junge Museumspädagoge in speziellen Schulungen vorbereitet. Koordiniert werden sie vom regionalen Demenz-Servicezentrum Nordrhein-Westfalen in Bielefeld. Hier bemüht sich Anja Kölkebeck darum, das Angebot systematisch auszubauen. "Seit Beginn der Aktion vor einem Jahr haben vier Museen der Region das Angebot ins Programm aufgenommen. Und wir wollen weitere Häuser hinzugewinnen."
Steigende Zahl Demenz-Kranker
Die Chancen dafür stehen gut. Schließlich wächst die Zahl der Demenz-Patienten stetig. Statistisch gesehen muss fast jede zweite Frau und jeder dritte Mann damit rechnen, künftig an Demenz zu erkranken. Das Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen geht derzeit von 1,2 Millionen Demenzkranken in Deutschland aus und prognostiziert für die nächsten 50 Jahre eine Verdoppelung der Zahl.
Neugebauer ist auf die Bedürfnisse der neuen Zielgruppe vorbereitet: In möglichst kurzen Sätzen gibt er Auskunft über das Kunstwerk und seinen Künstler, redet mit den Teilnehmern darüber, was genau das Gemälde oder die Skulptur darstellt. Vor allem aber zieht er sie in ein gemeinsames Gespräch, für das das Ausstellungsstück letztlich kaum mehr als der Anlass ist.
Eine Blume, ein Paar Holzschuhe oder eine Vase können Auslöser sein für ganze Geschichten: Etwa, wenn ein betagter Herr von einem Maler erzählt, den er in seiner Kindheit kannte, weil der nämlich "gleich bei uns um die Ecke gewohnt hat", und sich herausstellt, dass es sich um einen durchaus anerkannten Künstler handelt, der erst kürzlich in einer Ausstellung der Kunsthalle Bielefeld vertreten war. Es sind winzige persönliche Kleinodien, die den Moment nicht nur für den Erzähler ein bisschen schöner werden lassen.
Geistige Anwesenheit
Andere Teilnehmer hingegen wirken so apathisch, dass Daniel Neugebauer kaum zu beurteilen wagt, ob sie die Kunstwerke überhaupt wahrnehmen. "Wenn ich dann mit Fragen direkt auf sie zugehe, antworten sie aber oftmals sehr angeregt, und ich merke, dass sie sehr wohl alles genau mitbekommen." Gedanken zu den Kunstwerken, Erinnerungen aus der eigenen Kindheit, Begebenheiten des Alltags - auf alles muss Neugebauer schnell und angemessen reagieren.
Flexibilität ist gefragt beim Umgang mit den Demenz-Patienten. Und immer wieder die Bereitschaft zu großer Nähe: So etwa, als eine Teilnehmerin bei der Erzählung über ihre künstlerisch begabte Tochter, die an Krebs erkrankt ist, in Tränen ausbricht und getröstet werden muss. Manche Teilnehmer suchen auch körperliche Nähe. "Sie kommen einem ganz nah und fassen einen sogar an", erzählt Neugebauer. Nicht nur äußerliche Absperrungen und Grenzen verlieren ihre Bedeutung im Umgang mit dementen Menschen.
Zwischenfälle wie der, als der Besucher mit einem Gemälde von Jean-Michel Basquiat auf Tuchfühlung geht, seien auch für ihn immer wieder "ein kleiner Schreck", bekennt Neugebauer. Aber im Umgang mit Demenz-Patienten ist Gelassenheit Trumpf. Und so gesellt sich Neugebauer wie selbstverständlich zu seinem Gast, diskutiert mit ihm über das Bild und ist nebenbei unauffällig auf den Schutz des wertvollen Gemäldes bedacht. Den Menschen in einem solchen Augenblick auf ein Fehlverhalten aufmerksam zu machen, würde nur unnötige Schuldgefühle auslösen und ihm den Ausflug in die Welt der Kunst verleiden.
Wiederbelebung verschütteter Fähigkeiten
Noch ist das neue Angebot nicht bei allen betreuenden Institutionen bekannt, noch muss sich die Idee erst verbreiten. Doch Kölkebeck rührt kräftig die Werbetrommel. Denn diejenigen, die es ausprobieren, sind begeistert, berichtet sie etwa von einer Frau, die ihre Betreuerin damit überraschte, dass sie noch schreiben kann.
"Alle dachten, die Patientin habe diese Fähigkeit verloren. Als sie dann nach der Führung selber zu Pinsel und Farbe greifen sollte, malte sie ein Bild mit Bergen und Wasser und schrieb darauf: "Urlauber unterwegs"." In solchen Momenten wird spürbar, wie unterschwellig die Auseinandersetzung mit Kunst die Teilnehmer beeinflusst.
Dabei rechnet Kölkebeck letztlich nicht etwa mit dauerhaften therapeutischen Erfolgen. Es sei ungewiss, ob die Besucherin, die plötzlich wieder schreiben konnte, sich am nächsten Tag überhaupt noch an ihr gemaltes Bild oder an die Führung erinnern könne. Doch darauf komme es auch nicht an. "Wichtig ist uns, den Menschen einen schönen Moment zu verschaffen, ein Stück Lebensqualität, das den Augenblick verschönert." Wenn man sich auf sein Gedächtnis nicht mehr verlassen kann, zählt letztlich nur noch die Gegenwart.
Diese Erfahrung machte auch Friederike Winkler aus Duisburg. Als ihre Mutter an Demenz erkrankte, besuchte sie regelmäßig Ausstellungen mit ihr. Dabei erlebte sie, dass ihre Mutter diese Momente jedes Mal sehr genoss. Für die Mitarbeiterin des Wilhelm-Lehmbruck-Museums war das der Anstoß dafür, Anfang 2007 eigene Führungen für Menschen mit Demenz zu initiieren. Und das Lehmbruck-Museum wurde das nach eigenen Angaben bundesweit erste Museum, das die Spezialführungen dauerhaft in sein reguläres Programm aufnahm.
Quelle: ntv.de, Beate Depping, dpa