Frage & Antwort, Nr. 162 Woran erkennt man moderne Sagen?
01.03.2011, 09:25 Uhr
Offensichtlich konstruiert: Es gibt sie nicht wirklich, die Spinne in der Yucca-Palme. Oder?
Jeder kennt sie, die Geschichte von der Spinne in der Yucca-Palme oder der Katze, die in der Mikrowelle getrocknet werden sollte. Woran aber erkennt man, dass das moderne Sagen sind? Und haben diese Geschichten wirklich niemals einen wahren Hintergrund oder zumindest eine reale Teilkomponente? (fragt Martina Sauer aus Velbert)
Bei der Frage unserer Leserin fällt mir etwas ein: Ein Freund hat neulich von Freunden eines Bekannten erzählt, die bekifft nach einer Party mal mehrere Runden rückwärts im Kreisverkehr gefahren sind. Mit Tempo. Einfach so. Zum Spaß. Als dann ein anderes Auto in den Kreisverkehr fuhr - richtig herum, versteht sich - kam es zum Unfall. Die Polizei machte einen Alkoholtest. Der ergab bei dem Mann, der zuletzt in den Kreisverkehr gefahren war, 1,5 Promille. "Ganz klar", dachte sich die Polizei, "seine Story, dass das andere Auto rückwärts gefahren ist, kann nur erfunden sein". Zumal der Promilletest bei den bekifften Jungs negativ ausfiel. Die kamen also ungestraft davon.
Eine schöne Geschichte hatte mir der Freund da erzählt. Er lebt in England, die Insel hat allerorten Kreisverkehr, und warum sollte nicht mal jemand auf die Idee kommen, dort nachts den Rückwärtsgang einzulegen?
Freunde eines Freundes ...
Doch schon bei der Einleitung, beim Hinweis darauf, dass die Akteure der Geschichte Freunde eines Bekannten meines Freundes waren, hätte ich hellhörig werden müssen. Denn wie uns Rolf Wilhelm Brednich erklärt, "beginnen moderne Sagen stets mit einer Wahrheitsbeteuerung und einer Berufung auf eine zuverlässige, persönlich bekannte Person. Im Englischen nennt man moderne Sagen daher auch 'friend-of-a-friend-tale'."

Prof. Dr. Rolf Wilhelm Brednich hat von seinen Lesern für viele der Erzählungen Wahrheitsbeweise erhalten.
(Foto: privat)
Rolf Wilhelm Brednich ist Experte, was moderne Sagen anbelangt. Der Volkskundler hat zwischen 1990 und 2004 mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht, darunter "Die Spinne in der Yucca-Palme" und "Pinguine in Rückenlage".
Neben dem verräterischen Beginn nennt Brednich auf unsere Nachfrage hin noch andere Kennzeichen der modernen Sagen: Dazu gehören Aktualität und eine spannende Erzählweise. "Und was das wichtigste ist", sagt Brednich, "sie enden in der Regel mit einer Pointe, einem unvorhergesehenen originellen Schluss." Strukturell seien sie daher mit dem Witz verwandt.
Oft ein Körnchen Wahrheit

Das ist die britische Variante. In Deutschland wird die Geschichte den örtlichen Gegebenheiten angepasst.
Was den Realitätsbezug solcher Sagen angeht, so weiß Brednich inzwischen, dass "in vielen der Geschichten das berühmte 'Körnchen Wahrheit' enthalten ist". Zu dieser Erkenntnis gelangte er weniger durch seine jahrzehntelange Forschung als vielmehr durch zunehmende briefliche Kontakte mit seinen Lesern. Der Wissenschaftler war zunächst davon ausgegangen, mit den Geschichten reine Fantasiegebilde zusammenzutragen. "Doch von dieser Vorstellung habe ich immer mehr abrücken müssen", gibt er zu. "Denn meine Leser erbrachten überraschende Wahrheitsbeweise für viele der Erzählungen. Allerdings", so Brednich, "entfernen sich die Texte durch das Wieder- und Wiedererzählen oft so weit von ihren Ursprüngen, dass die Suche nach dem wahren Kern ans Aussichtslose grenzt." In jedem einzelnen Fall solle man aber eine genaue Recherche in Betracht ziehen, empfiehlt der Experte.
Also, wer weiß: Vielleicht gibt es doch ein paar Jungs, die beim Rückwärtsfahren im Kreisverkehr trotz Unfall ungestraft davon kamen. Und wie ist das nun wohl mit dem Körnchen Wahrheit und der Spinne und der Yucca-Palme?!
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Die Spinne in der Yucca-Palme
Die Maus im Jumbo-Jet
Quelle: ntv.de