Evelyn Zupke, 1989 Als der Betrug bewiesen wurde
23.05.2009, 15:12 Uhr
(Foto: Associated Press)
Im Revolutionsjahr 1989 war die Kommunalwahl vom 7. Mai ein zentraler Wendepunkt. Evelyn Zupke gehörte damals zum Friedenskreis Weißensee, der den Anstoß gab, erstmals eine Wahl in der DDR in großem Stil als Betrug zu entlarven. Die Aktion war ein spektakulärer Erfolg: In mehr als 1000 Wahllokalen wurden die Auszählungen beobachtet, allein in Berlin in mehr als 230 Wahllokalen. Für die oppositionellen Gruppen war die Kommunalwahl ein Anlass zum öffentlichen Protest, für viele normale Bürger war es ein Anstoß, sich mit dem Protest zu solidarisieren.
n-tv.de: Frau Zupke, dass bei Wahlen in der DDR betrogen wurde, war 1989 jedem DDR-Bürger klar. Warum sorgte der Betrug ausgerechnet bei den Kommunalwahlen für so großes Aufsehen?
Evelyn Zupke: Dass es Kommunalwahlen waren, war ein Zufall. Hätte es 1989 Volkskammerwahlen gegeben, dann hätten wir es genauso gemacht. 1986 war im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain von einer Gruppe um Rainer Eppelmann versucht worden, die Wahlfälschung bei den Volkskammerwahlen nachzuweisen, aber nur in einigen Wahllokalen und nicht flächendeckend. Wir wollten einen definitiven Nachweis der Wahlfälschung organisieren. Zunächst wollten wir das für unseren Stadtbezirk machen, für Weißensee. Aber dann wurde daraus eine regelrechte Bewegung. Das Schöne an dem Thema war, dass es in aller Munde war, dass es alle betraf. Wir haben daher von Anfang an gehofft, dass wir damit Erfolg haben würden.
Einige oppositionelle Gruppen forderten einen Boykott der Wahl, andere wollten die Stimmzettel ungültig machen. Zu welcher Richtung gehörte Ihre Gruppe?
Es gab ganz unterschiedliche Ansätze: die reichten von Aufrufen, überhaupt einmal die Wahlkabinen zu benutzen, bis hin zu dem Versuch, selbst bei der Kommunalwahl zu kandidieren. Wir haben uns total verweigert. Im April gab es diesen Boykott-Aufruf von Marianne Birthler und Werner Fischer, den 48 Oppositionelle unterschrieben hatten. Da gehörten ich und einige andere vom Friedenskreis Weißensee auch dazu.
Vor der Wahl war weitgehend unklar, was man machen musste, um den Wahlzettel ungültig zu machen oder mit "Nein" zu stimmen. Die ARD-Sendung "Kontraste" erklärte am 24. April 1989 ausführlich, dass man jeden einzelnen Namen durchstreichen musste; ein Strich zu wenig, und die Stimme wäre als "Ja" gewertet worden. Wieso war das so wichtig?
Es war wichtig, weil der massivste Wahlbetrug in der Regel nicht bei der Auszählung stattfand. Der große Betrug kam erst später - oder vorher, denn die Wahlergebnisse standen ja schon vor der Wahl fest. Das Problem war, dass das Wahlgesetz offen ließ, was eine gültige oder ungültige Stimme war. Jeden einzelnen Namen durchzustreichen war einfach der sicherste Weg. Wir hatten uns intensiv mit dem Wahlgesetz beschäftigt; wir sind ins Rathaus gegangen, in die Büros der Nationalen Front und was es damals nicht alles gab, haben Verantwortliche aufgesucht und die befragt zur Auslegung des Wahlgesetzes - und haben natürlich keine Antworten bekommen. Es gab bei dieser Wahl nicht einmal eine öffentliche Bekanntmachung der Wahllokale, obwohl es die laut Wahlgesetz hätte geben müssen.
Woher wussten die Wähler dann, wo sie zur Wahl gehen mussten?
Das stand auf der Wahlbenachrichtigung, genau wie heute. Aber wir brauchten ja die komplette Liste der Wahllokale. Wir haben es auch so geschafft, aber das war eins der ersten Hindernisse, auf die wir gestoßen sind. Im Vorfeld der Wahl haben wir dann, Ende März und im April, zwei öffentliche Veranstaltungen durchgeführt. Wir haben uns ganz bewusst dafür entschieden, das nicht konspirativ zu machen, denn es war klar, dass wir das alleine nicht schaffen würden als Friedenskreis. Wir waren ja nur eine Handvoll Leute.
Wie viele Mitglieder hatte der Friedenskreis Weißensee?
Im Kern etwa zehn.
Und hier entstand die Idee, die Auszählung der Wahl zu überprüfen.
Genau. Das haben wir uns Anfang 1989 ausgedacht.
Wie haben Sie die Idee publik gemacht?
Wir haben unseren Plan zunächst auf einem Friedenskreis-Treffen vorgestellt und sind dann mit den öffentlichen Veranstaltungen aus dem engeren Dunstkreis der Kirche herausgegangen. Diese beiden Veranstaltungen fanden im Heinrich-Grüber-Zentrum in Berlin-Hohenschönhausen statt - Mario Schatta, der Begründer des Friedenskreises, war dort Diakon und hatte daher Zutritt zu den Gemeinderäumen. Das Grüber-Zentrum war beide Male auch richtig gut besucht mit 200 bis 250 Leuten.
Gab es in dieser Vorbereitungsphase schon Reaktionen der Staatsmacht?
Natürlich stand die Stasi vor dem Grüber-Zentrum, aber eingegriffen haben die nicht. Die wirklichen Repressionen fingen erst nach der Wahl an. Vorerst kam der Druck vor allem aus der Kirchenleitung. Ich habe damals in der Stephanus-Stiftung in der Albertinenstraße gearbeitet und hatte dort auch eine Wohnung. Weil die Stasi da keinen direkten Zugriff hatte, war das praktisch unsere Wahlzentrale. Pfarrer Braune, der Direktor der Stephanus-Stiftung und damit mein oberster Vorgesetzter, hat mir klipp und klar verboten, das in meiner Wohnung zu machen, sogar mit dem Hinweis, ich solle doch daran denken, dass ich hier meine Arbeit und meine Wohnung hätte. Es war das Übliche, nur halt im Rahmen der Kirche.

Flugblatt für die Demonstration am 7. September 1989 an der Weltzeituhr. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft.
In wie vielen Wahllokalen waren Ihre Leute bei der Auszählung dabei?
In Weißensee waren wir in fast allen Wahllokalen, in 66 - das 67. hatten wir nicht gefunden. Kurz vor der Wahl hatten wir den ganzen Stadtbezirk abgeradelt oder mit dem Trabi abgefahren. Man wusste ja ungefähr, wo man suchen musste: in Schulen, Kindergärten und ähnlichen Einrichtungen.
Wie wurden Sie im Wahllokal empfangen?
Ich selbst bin nicht in ein Wahllokal gegangen, ich habe die Ergebnisse gesammelt. Im Laufe des Tages waren bestimmt 100, 150 Leute nach und nach in meine Wohnung gekommen - die Wohnung war im Parterre, draußen hatten wir eine lange Reihe von Tischen aufgebaut. Wir hatten die ganze Nacht vorher Karteikarten gemacht, auf denen schon alles vorbereitet war - gültige Stimmen, ungültige Stimmen, Stimmen insgesamt, Nein-Stimmen, Ja-Stimmen -, so dass die Leute im Wahllokal die Ergebnisse nur noch einzutragen brauchten. Dazu hatten wir Zettel angefertigt, auf denen die wichtigsten Punkte des Wahlgesetzes draufstanden, für den Fall, dass jemand von der Auszählung ausgeschlossen werden sollte. Außerdem allgemeine Hinweise: nicht provozieren lassen, nicht provozieren. Und schließlich meine Telefonnummer.
Hat die Stasi Ihre Wohnung beobachtet?
Die standen auf der gegenüberliegenden Straßenseite, ein ganzer Pulk von Stasi-Leuten, vielleicht 30 oder mehr. Die standen einfach da und haben nicht eingegriffen. Die Leute kamen unbehelligt auf das Gelände der Stiftung, unbehelligt wieder raus und mit den Wahlergebnissen wieder zurück. Da so viele gekommen waren, konnten wir in jedes Wahllokal zwei oder drei Beobachter schicken. Wir haben dabei darauf geachtet, dass die sich untereinander möglichst nicht kannten. Wenn wir einen vorher noch nie gesehen hatten, haben wir lieber einen von uns mitgeschickt - man musste ja immer davon ausgehen, dass einige von der Stasi geschickt worden waren.
Und wie lief das in den Wahllokalen ab?
Die Auszählung begann um 18.00 Uhr, unsere Leute trafen zwischen halb und dreiviertel sechs in den Wahllokalen ein. In Weißensee wurde niemand abgewiesen, das ging relativ reibungslos. Das war in anderen Wahlbezirken anders. Nach den Auszählungen trudelten die Leute wieder in der Stephanus-Stiftung ein. Kleine Kuriosität am Rande: Da unser IM gut rechnen konnte, war er das Endglied der Kette; er war gewissermaßen der letzte Zusammenzähler. Aber der wollte ein guter Junge sein und hat das alles ganz ordentlich gemacht. Bevor wir fertig waren, sind wir allerdings von Pfarrer Braune aus meiner Wohnung geworfen worden. Er hat ein totales Theater veranstaltet. Heute fragt man sich, wie der das machen konnte, aber das war damals so.

Der Friedenskreis Weißensee mit Evelyn Zupke (2.v.l.).
(Foto: Siegbert Schefke)
Was war dieser Braune denn für ein Typ?
Es gab doch später diese neun Stolpe-Vertrauten, die Manfred Stolpe 1992 präsentierte, als er sich gegen die Stasi-Vorwürfe verteidigte - neun Kirchenangehörige, von denen er sagte, sie hätten im Umgang mit der Stasi die gleiche Strategie verfolgt wie er. Zu der Gruppe gehörte Pfarrer Braune.
Wo sind Sie hingegangen, nachdem Braune Sie auf die Straße gesetzt hatte?
Zunächst zu Mario Schatta in die Wohnung, um zu Ende zu rechnen. Als wir damit fertig waren, sind wir in die Invalidenstraße in die KvU gefahren, die Kirche von Unten, wo Thomas Krüger (damals Vikar, heute Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Anm. d. Red.) die Berliner Ergebnisse vorlas. In der KvU war an diesem Tag eine Wahlparty. Da waren Leute aus Prenzlauer Berg, aus Friedrichshain, die ebenfalls Ergebnisse gesammelt hatten, insgesamt vielleicht 300 Leute.
Was haben Sie gedacht, als Egon Krenz eine Wahlbeteiligung von knapp 99 Prozent und eine Zustimmung von 98,85 Prozent verkündete?
In der KvU hing ein Fernseher an der Wand und wir standen alle da und warteten ganz gespannt - natürlich nicht wirklich gespannt, aber es war doch etwas Besonderes; normalerweise hätten wir uns so etwas nicht angeguckt. Als Krenz auftrat, ging ein großes Gelächter los, aber auch eine gewisse Empörung. Wir waren natürlich nicht überrascht, aber die Dreistigkeit war in diesem Moment noch stärker zu spüren als sonst. Krenz hat zwar das Gesamtergebnis verkündet und wir hatten ja nur das von Weißensee. Aber trotzdem war allen klar, wie krass der Betrug war. Es war ein besonderer Moment. Aber es war eben auch zum Lachen.
(Anm. d. Red.: Die Oppositionellen registrierten im Mai 1987 einen Anteil von Gegenstimmen zwischen 3 und 30 Prozent und eine Wahlbeteiligung zwischen 60 und 80 Prozent. Dazu muss man noch die "Sonderwahllokale" rechnen, in denen bereits vor dem Wahlsonntag gewählt werden konnte. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk schätzt, dass die Zahl der Wahlverweigerer und die der Gegenstimmen DDR-weit bei jeweils rund 10 Prozent lag - das wären "immerhin weit mehr als zwei Millionen Menschen, die sich offen gezeigt hätten".)
Sie haben dann auch die Ergebnisse aus anderen Städten gesammelt.
Damit haben wir schon am nächsten Tag angefangen. Einige Leute riefen an, um ihre Ergebnisse durchzugeben - mein Telefon war so ein bisschen ein Kontakttelefon -, andere Ergebnisse wurden uns per Post geschickt, ein paar wurden persönlich vorbeigebracht. Am 6. Juni haben wir den "Wahlfall" veröffentlicht, der den Wahlbetrug dokumentierte.
Nach der Wahl haben Sie Strafanzeigen wegen Wahlfälschung gestellt. Was ist daraufhin passiert?
Alle, die Anzeigen gestellt hatten, sind meines Wissens von den jeweiligen Bezirksstaatsanwälten vorgeladen worden. Mir sagte der Staatsanwalt, es könne "nur eine Wahrheit geben, und die steht im ND", also im "Neuen Deutschland". Das ging kurz und schmerzlos. Wir haben auch Eingaben gemacht und allen Mitgliedern der Stadtbezirksversammlung von Weißensee einen Brief geschrieben und sie darin aufgefordert, ihr Mandat zurückzugeben, weil sie aufgrund der Wahlfälschung nicht legitimiert seien. Eine Antwort haben wir nicht bekommen. Nachdem die Strafanzeigen und die Eingaben abgelehnt worden waren und der Brief unbeantwortet blieb, meinten wir, dass es jetzt Zeit wäre, zu öffentlichen Protestaktionen aufzurufen. Bis dahin hatten wir uns ja strikt gesetzeskonform verhalten. Wir haben dann an jedem 7. um 17.00 Uhr eine öffentliche Aktion gemacht. Das war der Moment, von dem an die Staatssicherheit stärker und härter reagiert hat.
Wie fing das an?
Vor jedem 7. im Monat wurden wir in die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße in Berlin-Lichtenberg gebracht. Dorthin wurde man nicht vorgeladen, sondern ohne Ankündigung abgeholt, meist von der Arbeit. Wir sollten dann immer eine Belehrung unterschreiben, dass wir uns am nächsten 7. nicht ins Stadtzentrum begeben dürfen.
Haben Sie unterschrieben?
Ich habe nie was unterschrieben. Manche haben unterschrieben, sind dann aber trotzdem zum Alexanderplatz gefahren. Ob man unterschrieb oder nicht, hatte für uns keine praktische Bedeutung. Dann wurde man zu so genannten Gesprächen abgeholt. Mir ist das ein paar Mal passiert. Da haben sie versucht, mich unter Druck zu setzen mit Hinweisen wie: "Denken Sie doch auch mal an Ihren Sohn ..."
Wie alt war Ihr Sohn damals?
Drei Jahre. Alle, die bei uns Kinder hatten, hatten sich gegenseitig Vollmachten erteilt, damit die Kinder nicht ins Heim gesteckt würden, wenn man ins Gefängnis kommen sollte. Ich hatte etwa sechs solcher Vollmachten verteilt; man wusste ja nicht, wer verhaftet werden würde, deshalb hat man versucht, dass ein bisschen zu streuen. Zum Glück ist es dazu nicht gekommen.
Wie stark haben Sie sich damals bedroht gefühlt?
Das ist im Nachhinein schwer zu sagen. Eine latente Bedrohung war immer vorhanden, aber natürlich war das auch Teil der Normalität - das war einem nicht immer bewusst. Zumindest haben wir uns davon nicht leiten lassen. Im Nachhinein finde ich es manchmal erschreckend: Das hätte ja alles auch ganz anders ausgehen können. Eigentlich haben wir ganz schön Glück gehabt.
In Berlin fand der erste Protest gegen die Wahlfälschung dann am 7. Juni statt.
Da war ich nicht dabei; ich wurde von Stasi-Leuten abgefangen, als ich die Stephanus-Stiftung verlassen wollte. Ich hatte quasi Hausarrest. An dem Tag gab es Proteste vor dem Konsistorium der evangelischen Kirche in der Neuen Grünstraße und an der Sophienkirche dort in der Nähe. Mario Schatta war vor dem 7. Juni noch von Stolpe ins Konsistorium geladen worden; Stolpe legte ihm nahe, von dieser Aktion Abstand zu nehmen. Nach dem 7. Juni haben wir uns gesagt, dass wir die Proteste nicht mehr nur unter dem Dach der Kirche machen wollen, sondern vollständig öffentlich, nämlich auf dem Alexanderplatz.
Wer hat das koordiniert?
Das waren wir, der Friedenskreis Weißensee. Das ging über Aufrufe, die wir als "betroffene Wähler" und "mündige Bürger" verfasst haben - mit "Weißenseer Friedenskreis" haben wir da nicht unterschrieben. Es gibt ein Stasi-Dokument, wo die rätseln, wer wohl die "mündigen Bürger" sind - nur für kurze Zeit, aber immerhin (lacht). Wir haben kleine Handzettel gedruckt und verteilt; durch Mario Schatta hatten wir Zugang zu einer Druckmaschine im Grüber-Zentrum.
Wie lief die Aktion am 7. Juli ab?
Da wollten wir einen Sitzstreik unter der Weltzeituhr am Alex machen. Wir waren vielleicht 30 Leute, denn viele von uns waren schon in der U-Bahn weggefangen worden. Auf dem Alexanderplatz waren ein paar Tausend Stasi-Leute und Polizisten im Einsatz. Ich selbst wurde ziemlich schnell abgeführt.
Wann sind Sie wieder freigelassen worden?
Ich war gar nicht in Rummelsburg, in der Haftanstalt der Volkspolizei. Die beiden, die mich festgenommen haben, sind mit mir zur U-Bahn gegangen. Das war wirklich unglaublich: Ich habe es geschafft, aus der U-Bahn zu springen, als die Türen zugingen. Ich bin dann nach Lichtenberg in die Kirche der Gemeinde am Fennpfuhl gefahren, wo wir für diesen Tag ein Kontakttelefon eingerichtet hatten.
Die Proteste am 7. Juni, am 7. Juli, am 7. September und am 7. Oktober tauchen in den Büchern über 1989 immer wieder auf, aber über den 7. August habe ich nichts gefunden. Was haben Sie da gemacht?
Am 7. August hatten wir nur eine Veranstaltung in der Pankower Kirche - weil Sommerloch war, dachten wir, da würde sowieso keiner zum Alexanderplatz kommen. Es waren ja alle im Urlaub.
Einen Monat später waren Sie wieder auf dem Alexanderplatz.
Vor dem 7. September hatten wir dazu aufgerufen, zum Springbrunnen auf dem Alex zu kommen. Wir malten uns Buchstaben auf T-Shirts und wollten uns so aufstellen, dass am Ende "7. MAI, WAHLBETRUG" zu lesen war. Wir hatten verabredet, dass der erste, der verhaftet wird, sofort anfängt, laut zu brüllen. Als ich aus dem Centrum-Kaufhaus kam, hörte ich Mario schon schreien. Es wimmelte nur so von Stasi. Polizei war auch da - ich bin dann noch zu Polizisten gegangen und habe denen gesagt: Helfen Sie doch dem Mann, der wird entführt! Die haben gesagt, gehen Sie weiter, gehen Sie weiter. Später haben wir herausbekommen, dass man den Angestellten in den Geschäften und Cafés ringsum erzählt hatte, dass an diesem Tag auf dem Alexanderplatz ein Film gedreht würde.
Mario Schatta war nicht der einzige, der verhaftet wurde.
Wir anderen sind auf Blickkontakt hin zum Brunnen gestürmt und haben uns da auf den Rand gestellt, 10, 15 Leute nebeneinander. Als wir die Jacken aufmachen wollten, kam schon diese Masse von Stasi auf uns zu. Wir hatten abgesprochen, dass wir in den Brunnen springen würden, damit die uns da rausholen müssen. Das haben sie dann auch gemacht, und da wurde es ziemlich brutal. Einem aus dem Friedenskreis, Stefan Müller, haben sie den Arm gebrochen, mich haben sie auch übel zugerichtet. - und das alles in der Öffentlichkeit. Eine so hemmungslose Gewalt hatten wir bis dahin nicht erlebt. Wir wurden abgeführt und mit Bussen nach Rummelsburg abtransportiert. Insgesamt sind fast 60 Leute festgenommen worden. Pfarrer Braune sagte mir später übrigens, dass ich mir selbst zuzuschreiben hätte, wie die Stasi mich zugerichtet habe.
Wir anderen sind auf Blickkontakt hin zum Brunnen gestürmt und haben uns da auf den Rand gestellt, 10, 15 Leute nebeneinander. Als wir die Jacken aufmachen wollten, kam schon diese Masse von Stasi auf uns zu. Wir hatten abgesprochen, dass wir in den Brunnen springen würden, damit die uns da rausholen müssen. Das haben sie dann auch gemacht, und da wurde es ziemlich brutal. Einem aus dem Friedenskreis, Stefan Müller, haben sie den Arm gebrochen, mich haben sie auch übel zugerichtet. - und das alles in der Öffentlichkeit. Eine so hemmungslose Gewalt hatten wir bis dahin nicht erlebt. Wir wurden abgeführt und mit Bussen nach Rummelsburg abtransportiert. Insgesamt sind fast 60 Leute festgenommen worden. Pfarrer Braune sagte mir später übrigens, dass ich mir selbst zuzuschreiben hätte, wie die Stasi mich zugerichtet habe.
Trotz der Staatsgewalt waren es am 7. Oktober einige Tausend, die zwischen Alexanderplatz und dem Palast der Republik protestierten.
An diesem Tag war ich nicht am Alex, sondern saß in der Gethsemanekirche am Kontakttelefon. Da hatten wir am 2. Oktober eine Dauermahnwache eingerichtet für die Inhaftierten von Leipzig; die saßen schon seit September in Haft. Am 7. Oktober rief mich also Till Böttcher von der Umweltbibliothek beim Kontakttelefon an und sagte mir, da seien 1000 oder 2000 Leute am Alexanderplatz unterwegs. Wir konnten das gar nicht fassen.
Die Leute wurden dann Richtung Prenzlauer Berg abgedrängt, Richtung Gethsemanekirche.
Die kamen die Schönhauser Allee hoch - da war ich dann auch dabei, denn nach dem Anruf von Till musste ich natürlich auch raus. Mittlerweile waren das ein paar Tausend Leute. Das war eine ganz seltsame Atmosphäre: Einerseits waren wir unglaublich viele, aber andererseits herrschte auch eine angespannte Stimmung, denn es war ja bekannt, dass Egon Krenz ein Anhänger der "chinesischen Lösung" war.
Stasi und Polizei haben dann auch brutal zugeschlagen.
Ich hatte Glück, ich bin heil zurück in die Gethsemanekirche gekommen.
Fünf Monate später waren Sie Mitglied der Wahlkommission für die erste freie Volkskammerwahl in der DDR. War das so etwas wie die Krönung Ihres Engagements von 1989?
Als Krönung habe ich das nicht empfunden. Aber es war eine Genugtuung, weil es auch ein Zeichen dafür war, was wir erreicht hatten. Denn diese Entwicklung hatten wir ja auch mit angestoßen. Dass das möglich war, dass es freie Wahlen gab - das war trotzdem irgendwie absurd, geradezu unwirklich.
Ist Ihnen seitens des vereinigten Deutschland später in irgendeiner Form gedankt worden?
Durchaus, ja. Ich habe den - wie nennt sich der? - den Verdienstorden des Landes Berlin bekommen. Ach ja, und die Berliner Abgeordnetenhausfraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat mich als Ersatzmitglied der Bundesversammlung für die Wahl des Bundespräsidenten am 23. Mai benannt.
Mit Evelyn Zupke sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de