Panorama

Kindsmord zu DDR-Zeiten? Das Schweigen der Erna F.

Erna F. soll ihren schlafenden Sohn nachts in die Küche getragen und dann in die Nähe des Gasherds gelegt haben.

Erna F. soll ihren schlafenden Sohn nachts in die Küche getragen und dann in die Nähe des Gasherds gelegt haben.

(Foto: picture alliance / dpa)

Erna F. soll 1974 ihren achtjährigen Sohn Mario vergiftet haben. Seit April steht die 74-Jährige in Neuruppin vor Gericht. Hatte die Stasi die Hand im Spiel und kann man der Wahrheit nach 42 Jahren noch auf die Spur kommen?

"Ich war das nicht gewesen", beteuert Erna F. an jenem Januartag 2013 immer wieder, als sie von der Kriminalpolizei Hannover mehrere Stunden lang verhört wird. "Ich habe das nicht getan!"

Drei Jahre später, im Sommer 2016, steht die mittlerweile 74-Jährige vor dem Landgericht Neuruppin. Ihr wird vorgeworfen, ihren Sohn Mario ermordet zu haben. Vor fast 42 Jahren. In der Nacht vom 4. auf den 5. November 1974 soll sie "das tief bewusstlose Kind" in der Nähe des Gasherds abgelegt haben. Der Junge habe eine tödliche Dosis Kohlenmonoxid eingeatmet, danach soll sie den Achtjährigen zum Sterben zurück in sein Bett gebracht haben.

Erna F. bestreitet die Tat und anders als beim Verhör der Kripo schweigt sie vor Gericht. Stattdessen wird das Video ihrer Vernehmung aus dem Jahr 2013 abgespielt. Darin beteuert Erna F., in jener tragischen Novembernacht fest geschlafen zu haben. Um fünf Uhr habe der Wecker geklingelt. 32 Jahre war sie damals alt, zweifach geschieden, Chefsekretärin im Bau- und Montagekombinat in Schwedt/Oder. "Nach dem Aufstehen fand ich Mario tot in seinem Bettchen. Ich habe ihn geschüttelt und in den Arm genommen. Aber ich habe ihn nicht mehr wach bekommen. Der war einfach tot." Dann sei sie zur Nachbarin gelaufen, um den Notarzt zu verständigen.

Arzt hält Unfall für abwegig

Die Aussagen des Arztes zeichnen allerdings ein anderes Bild. Ihm kam damals vieles so merkwürdig vor, dass er sich noch heute gut an diesen Fall erinnert. Er fand an Marios Leiche zwar Symptome einer Gasvergiftung, seltsamerweise war aber in der ganzen Wohnung keine Gasgeruch festzustellen. Dann diese emotionale Kühle der Mutter, die sofort von einem Unfall gesprochen habe: Mario sei in der Küche gewesen, "hat Rosinenkuchen genascht und am Herd gespielt". Hatte er dort Gas eingeatmet?

Wenn versehentlich Gas ausgeströmt wäre, dann wären Marios Schwestern Carmen und Martina und die Mutter ebenfalls gestorben, so der Zeuge. Der Arzt erzählte, er habe sich später beim zuständigen Staatsanwalt nach dem Fall erkundigt. Der habe ihm gesagt: "Die Sache konnte nicht aufgeklärt werden. Es bringt doch nichts, wenn man den anderen Kindern die Mutter wegnimmt."

Der Prozess, bei dem an diesem Donnerstag das Urteil erwartet wird, gewährt Einblicke in die Justiz der DDR, die 1974 offenbar kein ernsthaftes Interesse zeigte, den Tod des Kindes aufzuklären. Er beschwört geradezu Bilder herauf, wie es wohl gewesen sein könnte unter dem Regime der DDR, mit einem selbstherrlichen Staatsanwalt, verschwundenen Unterlagen, unvollständigen Stasi-Akten – und vielleicht auch heimlichen Liebesbeziehungen zwischen Werktätigen und der Obrigkeit.

Anonymer Hinweis

Im Sommer 2009 ging bei der Staatsanwaltschaft Hannover eine anonyme Anzeige ein. "Frau Erna F. hat ihren eigenen Sohn Mario mit Gas ermordet." Das Kind sei seiner "geldgierigen Mutter, die auch noch anschaffen ging, im Weg" gewesen, schrieb der Hinweisgeber. "Warum wurde die Frau für ihre grausame Tat nie zur Verantwortung gezogen?"

Der leitende Ermittler stieß in der Berliner Charité auf das alte Obduktionsprotokoll. Dort war vermerkt, dass Mario 73 Prozent Kohlenmonoxid im Blut gehabt hatte. Ein Wert, mit dem sich Medizinern zufolge niemand mehr allein in sein Bett schleppen kann. Ob dem Jungen zuvor Schlafmittel verabreicht wurden, geht aus der Akte nicht hervor. Das war gar nicht erst untersucht worden. Warum nicht, ist nicht mehr zu klären. Der damals zuständige Staatsanwalt ist tot, die Akte unauffindbar. Erst 2013 vernahm die Mordkommission Erna F.

Hatte die Stasi die Hand im Spiel?

Mord verjährt nicht

Nach DDR-Recht wäre die Tat bereits 1999 verjährt gewesen. Doch seit der Wiedervereinigung gilt: Auch DDR-Morde verjähren nicht. Erna F. müsste im Falle ihrer Verurteilung jedoch nach dem milderen DDR-Recht bestraft werden: für Mord zwischen zehn Jahren Haft und lebenslänglich.

Seit April muss sich Erna F. vor dem Landgericht Neuruppin verantworten. Auf der Anklagebank zeigte sie bislang kaum eine Regung. "Meine Mandantin bestreitet, die Tat begangen zu haben", teilte ihr Verteidiger zu Beginn mit.

Seither ist die 1. Strafkammer des Landgerichts auf Spurensuche. "Wir tasten uns durchs Dunkel der Vergangenheit", beschreibt der Vorsitzende Richter Udo Lechtermann die Situation treffend. Auch Staatsanwältin Anette Bargenda steht vor einem Indizienpuzzle. Viele Zeugen in der brandenburgischen Kleinstadt sind verstorben, die Lebenden haben Erinnerungslücken oder geben Gerüchte wider. Gemutmaßt wird auch, dass die Stasi ihre Hände im Spiel hatte, um ein Verbrechen zu vertuschen.

Hinter dem anonymen Tippgeber vermuten die Ermittler Erna F.s Tochter Carmen W. Die 54-jährige Sachbearbeiterin bestreitet das. Sie ist Hauptzeugin. Mit ihrer Mutter hat sie schon lange gebrochen. Sie nennt sie vor Gericht "Frau F.". Die Mutter sei nie liebevoll gewesen, sie habe ihr die Kindheit gestohlen. Wegen Nichtigkeiten setzte es Schläge, erklärte Carmen W. voller Verachtung. Sie habe sich als Zwölfjährige um die Geschwister kümmern müssen, neben Mario auch um die vierjährige Martina, damit die Mutter ihr leichtes Leben führen konnte.

Die wenigen Unterlagen, die es noch gibt, belegen, dass Erna F. kein unbeschriebenes Blatt war. Sie pflegte wechselnde Männerbekanntschaften, auch aus der Kombinatsspitze. Wenn Herrenbesuch kam, mussten die Kinder ins Bett. "Zu 99 Prozent" geht Carmen W. davon aus, dass die Mutter den Bruder getötet hat – für die Schwester Martina F. eine böswillige Unterstellung: "Ich nehme das nicht für voll."

Sieben Tage nach seinem Tod war Mario in Schwedt beerdigt worden. Die Grabstelle auf dem Neuen Friedhof gibt es nicht mehr, über das schmale Rechteck und auch über die Todesumstände des Kindes ist Gras gewachsen. Mario wäre heute 50 Jahre alt.

Quelle: ntv.de, dsi

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