Papier: Besser Ukraine verklagen Berlin tut Wirtschaftsdrohung ab
05.05.2012, 12:49 UhrDie Bundesregierung reagiert gelassen auf die Drohungen aus der Ukraine, einen möglichen Sport-Boykott mit einem Wirtschafts-Boykott zu beantworten. Das solle man nicht überbewerten. Derweil kritisiert der ehemalige Verfassungsrichter Papier den Umgang der deutschen Politiker mit dem Fall Timoschenko als "Effekthascherei".

Ein Foto vom November 2011, aufgenommen an einem Stand von Timoschenko-Anhängern in Kiew.
(Foto: dapd)
Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich hat gelassen auf die Drohung aus der Ukraine reagiert, dass ein politischer Boykott der Fußball-EM wirtschaftliche Folgen für Deutschland haben könnte. "Das ist innenpolitisches Wortgeklingel, das sollte man nicht überbewerten", sagte Friedrich der "Bild am Sonntag". Ob er selbst in seiner Funktion als Sportminister Spiele der Fußball-EM in dem Land besuchen werde, ließ der CSU-Politiker weiter offen: "Über die Teilnahme von Regierungsmitgliedern an den EM-Spielen in der Ukraine werden wir in den kommenden Wochen im Lichte der Entwicklung dort entscheiden." Kanzlerin Angela Merkel hatte kürzlich deutlich gemacht, dass sie einen EM-Besuch in der Ukraine von dem Schicksal der inhaftierten Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko abhängig macht.
Die Ukraine ist gemeinsam mit Polen Gastgeber der Fußball-Europameisterschaft im Juni und Juli. Die Gruppenspiele der deutschen Mannschaft finden in Charkow – nur wenige Kilometer von Timoschenkos Gefängnis entfernt – und in Lemberg statt. Die EU-Kommission hatte am Donnerstag angekündigt, die Spiele in der Ukraine geschlossen zu boykottieren. Dazu gehört auch das Finale, das am 1. Juli in Kiew ausgetragen werden soll.
Forderungen sind als "Effekthascherei"
Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, verurteilte den Umgang der deutschen Politik mit dem Fall Timoschenko scharf. "Deutschland könnte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg die Ukraine verklagen", sagte Papier der "Welt am Sonntag". Dieser Weg werde aber "wahrscheinlich deshalb nicht beschritten, weil er nicht als medienwirksam genug angesehen wird".
Deutsche Politiker stellten stattdessen "abwegige Forderungen nach einem Boykott der Fußball-Europameisterschaft" in der Ukraine, sagte Papier weiter. Bezogen auf die Teilnahme der Sportler oder die Verlegung des Austragungsorts seien die Boykottaufrufe "völlig unrealistisch". Was die Teilnahme von Politikern betreffe, seien es vor allem die obersten Verfassungsorgane, die dazu berufen seien, Deutschland bei solchen Veranstaltungen zu repräsentieren. "Beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit beispielsweise bin ich mir da nicht so sicher", sagte Papier mit Blick auf Norbert Röttgen (CDU), der einen Boykott gefordert hatte. Papier bezeichnete dies als "Effekthascherei".
Wenige Wochen vor Anpfiff des Turniers belastet der Fall Timoschenko neben den politischen auch die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine. Ein hochrangiger Regierungspolitiker aus Kiew hatte am Freitag erklärt, sollten Vereinbarungen wie das derzeit auf Eis liegende EU-Assoziierungsabkommen an der Affäre Timoschenko scheitern, würden auch die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern leiden. Ohne das Abkommen werde der deutsche Zugang zum ukrainischen Markt begrenzt bleiben.
Die wegen Amtsmissbrauch zu sieben Jahren Haft verurteilte Timoschenko leidet an einem nicht behandelten Bandscheiben-Vorfall und hat aus Protest gegen Misshandlungen in der Haft vor gut zwei Wochen einen Hungerstreik begonnen. Am Freitag untersuchten deutsche Ärzte die Oppositionspolitikerin erneut in der Ukraine. Zudem berieten deutsche Diplomaten vor Ort mit Timoschenko darüber, wie der Konflikt um ihre Person auch jenseits medizinischer Fragen gelöst werden könne. Auch mit der ukrainischen Regierung war das Auswärtige Amt nach eigenen Angaben im Gespräch.
Quelle: ntv.de, dpa/AFP