Die Gräuel nach den Gräueln "Der Krieg hörte 1945 nicht auf"
08.05.2015, 15:26 Uhr
Britische Soldaten eines schottischen Regiments im Februar 1945 in einer niederländischen Ortschaft nahe der deutschen Grenze.
(Foto: AP)
Am 8. Mai 1945 kapitulierte Nazideutschland, aber der Krieg ging weiter: das Morden, die Vergewaltigungen, die Vertreibungen und auch die ethnischen Säuberungen, die Deutschland in Gang gesetzt hatte.
n-tv.de: Offiziell ging der Zweite Weltkrieg in Europa am 8. Mai mit der Kapitulation des Deutschen Reiches zu Ende. Wer Ihr Buch liest, stellt allerdings schnell fest, dass die Gewalt keineswegs aufhörte. Wann war der Krieg wirklich vorbei?

Keith Lowe ist Autor und Historiker. Sein Buch "Der Wilde Kontinent" erschien Ende 2014.
(Foto: Ave Maria Mõistlik / CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)
Keith Lowe: Das Ende des Kriegs war ein Prozess, das passierte nicht an einem Tag. Die Schlacht um Stalingrad ging im Februar 1943 zu Ende. Das war der Moment, an dem das Ende des Kriegs begann. Auch in Westeuropa fing es 1943 an: In diesem Jahr wurde Süditalien befreit, 1944 Frankreich. Nach der Kapitulation der Deutschen am 8. Mai 1945 ging der Krieg monatelang, teilweise jahrelang weiter. In gewisser Weise könnte man sagen, dass der Krieg bis heute andauert.
Inwiefern dauert der Krieg bis heute an?
Die psychologischen Auswirkungen sind bis heute spürbar. Aber ich gebe zu, diese Sicht ist ein bisschen übertrieben. Ich würde sagen, der Krieg ging in den späten 1940er- oder frühen 1950er-Jahren zu Ende. Zu diesem Zeitpunkt war der größte Teil der Gewalt - die Racheaktionen, die Kämpfe in Osteuropa - unter Kontrolle.
Ihr Buch enthält viele Berichte von Menschen, denen furchtbare Dinge widerfuhren. Gibt es etwas, das Sie beim Schreiben besonders schockiert hat?
Der Krieg war voller Gräuel und auch nach dem Krieg passierten noch viele Gräuel. Es ist schrecklich, all diese Geschichten aufzuschreiben. Aber überraschend ist das nicht: Die Gräueltaten waren eine Reaktion auf Gräueltaten, die zuvor passiert waren. Zwei Dinge haben mich dennoch schockiert. Das eine war die schiere Menge der furchtbaren Augenzeugenberichte. Das ist wirklich schwer zu verarbeiten. Das andere war, wie nach dem Krieg mit Frauen und mit Kindern umgegangen wurde. In vielen Ländern galten die Kinder von Frauen, die sich mit Deutschen eingelassen hatten, als so böse, dass sie von der Gesellschaft verstoßen, teilweise sogar ermordet wurden. Hier geht es um Kinder, deren einziger Fehler war, die falschen Eltern zu haben.
Sie beschreiben, wie solche Kinder in Norwegen ausgegrenzt wurden. Bis in die 1960er-Jahre erhielten sie nicht einmal die norwegische Staatsangehörigkeit, einige verbrachten ihr Leben in psychiatrischen Einrichtungen, weil sie für geistig zurückgeblieben erklärt wurden. Sie behandeln das in dem Kapitel mit der Überschrift "Rache". Hätte es nicht auch in das Kapital "Ethnische Säuberung" gepasst?
Die Grenzen zwischen den Kapiteln sind fließend - Rache und ethnische Säuberungen hängen eng miteinander zusammen. Eigentlich ist Rache das Fundament der gesamten Gewalt, die es nach dem Krieg gab. Die Geschichte der norwegischen Kinder habe ich dem Kapitel "Rache" zugewiesen, weil es dabei nicht um ethnische Reinheit ging. Es gibt Hinweise, dass die norwegische Regierung die 9000 Kriegskinder einer australischen Einwanderungsdelegation anbot. Aber das stärkere Motiv war wohl, zumindest unbewusst, Rache.
Für mich ist das eindrucksvollste Kapitel Ihres Buches das über die ethnischen Säuberungen zwischen Polen und Ukrainern. Beide Völker hatten unter der deutschen Invasion und Besatzung gelitten und sobald die Deutschen fort waren, fingen sie an, sich gegenseitig umzubringen und zu vertreiben. Man sollte annehmen, sie hätten dazugelernt.
Aber sie hatten doch dazugelernt! Das war genau das Problem. Die ukrainischen Nationalisten hatten als Hilfstruppen der Nazis im Holocaust gelernt, wie ethnische Säuberungen funktionieren. Diese Techniken wandten sie an, als sie die Polen vertrieben, die auf "ihrem" Land lebten. Sie hatten etwas gelernt, nur war es eben das Falsche.
Als überlebende Juden nach dem Krieg in ihre Heimatorte zurückkehrten, wurden sie häufig wie Eindringlinge behandelt. In Polen wurden sogar hunderte Juden umgebracht. Wie kam es dazu? Über Jahrhunderte hatten polnische Juden friedlich mit anderen Polen zusammengelebt.
Ja, aber den Antisemitismus hatte es auch über Jahrhunderte in Polen gegeben. Der Krieg gab den Menschen die Gelegenheit, ihn auf massive und ziemlich abstoßende Weise auszuleben. Zu ihrem eigenen Antisemitismus kam die antisemitische Propaganda der Nazis und darauf kam noch etwas anderes: Viele Leute hatten sich das Eigentum von deportierten Juden genommen. Als Juden heimkehrten, wollten die Leute diese Sachen nicht herausgeben. Da war es leichter, einen Grund dafür zu finden, sich ihnen gegenüber gewalttätig zu verhalten.
Das war übrigens nicht nur in Polen so, sondern auch in Westeuropa. Es gibt eine Geschichte von einer holländischen Jüdin, die nach Amsterdam zurückkam und feststellen musste, dass ihre Wohnung und ihr gesamtes Eigentum von einer Holländerin in Besitz genommen worden war. Sie ging zu ihr und sagte: Du trägst meinen Mantel. Die andere Frau gab das aber nicht zu. Am Ende brach die Jüdin in Tränen aus, ging zu der Frau, die ihren Mantel gestohlen hatte, riss den Pelzkragen ab und warf ihn in die Amstel. Dramen wie dieses spielten sich überall in Europa ab.
Wie kam diese dünne zivilisatorische Schicht zurück, die Europa im Krieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit abgelegt hatte?
Kurz gesagt: Die Leute hatten die Nase voll von der Gewalt - und zwar sowohl die normalen Menschen als auch die Mächtigen. Die Leute waren dankbar, dass die Besatzungsmächte die Gewalt zurückdrängten, selbst dann, wenn es wie in Osteuropa mit dem Verlust von Freiheit einherging. Die litauischen Partisanen verloren ihren Kampf gegen die Sowjets nicht, weil die Rote Armee sie besiegte. Sie verloren, weil sie von ihren eigenen Leuten verraten wurden, die genug von den Kämpfen hatten.
Europa muss nach dem Krieg unfassbar traumatisiert gewesen sein. Wie hat sich das auf die europäischen Gesellschaften ausgewirkt?
Mit Blick auf Individuen ist das schwer zu sagen. Aber bezogen auf Europa als Ganzes würde ich sagen, haben wir bis heute nicht wirklich verstanden, wie uns der Krieg beeinflusst hat. Überall in Europa fand eine gigantische Verdrängung statt. In Frankreich wissen alle, dass nicht jeder Franzose im Widerstand war. Aber unbewusst gibt es noch immer das Bedürfnis, das Gegenteil zu glauben. In Polen weiß man, dass es auch Polen gab, die Verbrechen verübten. Aber lieber hängt man der Vorstellung an, dass alle Polen Opfer waren. Die Briten sehen sich gern als Helden. Weniger gern erinnern wir Briten uns daran, dass wir Frauen und Kinder in Deutschland bombardiert und Menschen über die österreichische Grenze nach Slowenien in den sicheren Tod abgeschoben haben.
Die traditionelle Sichtweise ist, dass Europa im Zweiten Weltkrieg seine Lektion gelernt hat. Ihr Buch legt nahe, dass dies nicht im Krieg passierte, sondern erst danach. Wie schafften es Männer wie Frankreichs Präsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer, die Grundlagen für ein friedliches Europa zu legen?
De Gaulle ist ein gutes Beispiel, wie man ein Land befriedet. Denn es gab zwar weiterhin Gewalt. Aber er schaffte es, die Illusion zu schaffen, dass alle Franzosen zusammenstehen. Ich halte nicht viel von Verdrängung, aber nach dem Krieg erfüllte sie einen Zweck. Verdrängung sorgte dafür, dass die Menschen durchatmen konnten. Manche Lügen sind notwendig, um Frieden zu schaffen. Trotzdem sind es Lügen, und irgendwann muss man akzeptieren, dass es Lügen waren.
Mit Keith Lowe sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de