Politik

Gute und schlechte PillenOft mehr Schein als Innovation

05.04.2012, 10:50 Uhr
imagevon Ina Brzoska
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In Deutschland muss man für Arzneimittel besonders tief in die Tasche greifen. (Foto: picture alliance / dpa)

Hersteller überfluten den Markt mit Arzneien. 40 Prozent davon sollen Scheininnovationen sein, Medikamente also, die als innovativ gepriesen werden, aber nicht besser sind als bisherige und Versicherte jedes Jahr Milliarden kosten. Unabhängige Experten benennen für n-tv.de Beispiele und geben Verbrauchern eine Orientierungshilfe.

Einmal im Jahr lichtet sich der Medikamentendschungel, wenn unabhängige Gutachter den Arzneiverordnungs-Report veröffentlichen. Auch die Ergebnisse aus 2011 zeigen: Deutschland ist für Pharmahersteller das Schlaraffenland. Hier werden Höchstpreise für Medikamente gezahlt, auf einem gigantischen Markt mit 82 Millionen potenziellen Patienten.

Doch nicht alle Produkte, die neu und hochpreisig sind, sind laut Report auch besser. Unter den 50 umsatzstärksten Arzneimitteln fanden Tester 15 Analogpräparate, Medikamente also, die im Vergleich zu bisherigen Arzneien keinen Zusatznutzen haben, an denen allein Unternehmen verdienen, weil Versicherte zahlen. Nasensprays, antivirale Grippemittel, Cholesterin-Senker, Anti-Baby-Pillen bis hin zu Medikamenten gegen ADHS. Nicht selten erfreuen sich Scheininnovationen reger Nachfrage, denn Marketingbudgets übersteigen die Forschungsetats meist um das Doppelte.

Es gibt wenige unabhängige Wissenschaftler, die Kritik wagen und schlechte Pillen sowie Hersteller auch benennen. Der Pharmakologe Gerd Glaeske zählt dazu. Er lehrt an der Bremer Universität, forscht auf dem Feld der Nutzenbewertung neuer Medikamente; bis 2009 zählte er zu den sieben Weisen des Sachverständigenrats Gesundheit. "Bei patentgeschützten Medikamenten handelt es sich bei mindestens 40 Prozent um Scheininnovationen", schätzt Glaeske. Fast jedes zweite neue Medikament ist demnach aus Sicht der Patienten völlig überflüssig.

Glaeske gibt selbst den Arzneimittel-Report heraus, in dem Daten der Barmer GEK analysiert werden und der jedes Jahr im Juni der Öffentlichkeit vorgestellt wird. 23 Wirkstoffe wurden 2010 neu zugelassen, aber nur 5 davon erhielten das Prädikat "neuartiges Wirkprinzip mit therapeutischer Relevanz". 9 hatten gewisse Vorteile für Patientinnen und Patienten, ohne wirklich besser zu sein, bei weiteren 9 Wirkstoffen fehlte jeder Hinweis auf einen Fortschritt oder eine Verbesserung. Manche Firmen ersetzen beispielsweise Zäpfchen durch Pulver oder Spritzen durch Saft. Andere verändern die chemische Struktur der Arznei nur minimal, so dass diese schneller oder länger wirkt - aber nicht besser. Glaeske übt Kritik am Psychopharmakon Seroquel oder Lyrica, einem Mittel, das bei Epilepsie oder Angststörungen eingesetzt wird. Auch der Cholesterin-Senker Inegy nutze den Patienten nicht.

AMNOG verändert den Markt

Mit AMNOG, dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz, könnte sich die Situation grundsätzlich ändern. Vor allem bei neuen, patentgeschützten Medikamenten wird künftig nur mehr bezahlt, wenn das unabhängige Kölner Institut IQWiG einen Zusatznutzen gegenüber bereits verfügbaren Alternativen feststellt. Nicht überzeugt waren die Prüfer zum Beispiel beim Brustkrebsmittel Eribulin des Herstellers Eisai. Auch das Antidiabetikum Trajenta, das die Hersteller Boehringer Ingelheim und Lilly entwickelten, schnitt im Vergleich zu anderen hochpreisigen Mitteln gegen Zuckerkrankheit nicht besser ab.

In der Konsequenz brachten Hersteller im vergangenen Jahr neue Medikamente gar nicht auf den Markt. Denn ohne nachgewiesenen Zusatznutzen gibt es einen wesentlich niedrigeren Festbetrag für das Medikament - es könnte künftig weniger lohnenswert sein, den Markt mit Pillen zu überfluten, als in der Vergangenheit.

Für Glaeske ist das ein erster Erfolg des AMNOG: "Scheininnovationen verstopfen den Markt, sie versauen die Transparenz", sagt er. Solche Produkte machten nur Sinn, wenn sie kostengünstiger angeboten werden können als bereits bestehende Vergleichstherapien.

So teuer wie nirgendwo sonst

Durch das AMNOG, so erwarten Experten, könnten Preise für Medikamente sinken. Längst überfällig, befanden die Verfasser des Arzneimittel-Reports, die Preise mit Großbritannien und Schweden vergleichen. Das Krebsmedikament Glivec beispielsweise kostet hierzulande 2700 Euro, in Großbritannien aber nur 1800 Euro. Kein Einzelfall: Die 50 umsatzstärksten Patentarzneimittel in Deutschland sind im Schnitt 65 Prozent teurer als in Großbritannien. Demnach zahlen Deutsche viel zu viel für ihre Pillen.

Bei Generika - Medikamenten, die günstiger sind, weil sie keinem Patentschutz mehr unterliegen - sieht es noch schlechter aus. Laut Arzneiverordnungs-Report sind diese in Deutschland im Schnitt sogar um 90 Prozent teurer als in Großbritannien.

Den Grund dafür sehen unabhängige Experten in einem stärkeren Eingreifen durch den Staat. "Sowohl in England als auch in Schweden gibt es starke Gesundheitsbehörden, die den Markt viel strenger regulieren", sagt Wolfgang Becker-Brüser. Der Pharmakologe ist seit 1996 Herausgeber des "arznei-telegramm", einer unabhängigen Fachzeitschrift für Apotheker, die auf Anzeigen verzichtet und sich über Abonnements finanziert. Die meisten Scheininnovationen, sagt Becker-Brüser, gebe es in großen Indikationsgebieten. Dort, wo Patienten dauerhaft auf die Einnahme von Arzneien angewiesen sind. Menschen mit Bluthochdruck, Diabetes, Asthma, Cholesterin gehören zur Zielgruppe, aber auch bei Psychopharmaka würden oft Medikamente angeboten, die mehr Schein als Innovation darstellten. Die Erklärung ist denkbar einfach: Viele Patienten, die über viele Jahre eine Arznei einnehmen, bringen viel Umsatz.

Ärzte oft überfordert

Rund 30 Milliarden Euro gaben Krankenkassen im vergangenen Jahr für Medikamente aus. Zu den Preistreibern auf dem Markt zählen neue Patentarzneien. Auch deshalb werkeln Hersteller immer eifrig an neuen Produkten. "Oft werden neue Arzneien hergestellt, um auf dem Massenmarkt mitzumischen", sagt Becker-Brüser. So wie es hunderte Joghurtsorten gebe, können Ärzte und Apotheker aus einem Überangebot an Pillen auswählen. Eine Einschätzung des Nutzens falle zunehmend schwer. Selbst Ärzte, so der Pharmakologe, seien bei der Bewertung neuer Produkte oft überfordert, nicht wenige ließen sich durch dicke Marketingbudgets der Unternehmen korrumpieren.

Patienten empfiehlt Becker-Brüser die Verbraucherzeitschrift "Gute Pillen, schlechte Pillen". "Das ist die einzige deutschsprachige unabhängige Zeitschrift für Verbraucher speziell zu Nutzen und Schaden von Arzneimitteln, Nahrungsergänzungsmitteln und Medizinprodukten." Glaeske rät Verbrauchern, in den Handbüchern der Stiftung Warentest zu recherchieren. Über 9000 Medikamente für über 185 Anwendungsgebiete enthält die Online-Datenbank, sie wird ständig aktualisiert. Hier können Verbraucher den Namen des Mittels eingeben und die Testergebnisse gegen eine kleine Gebühr nachlesen.

Quelle: ntv.de

Barmer GEK