Prestige-Projekt der Bahn Stuttgart 21 wackelt
12.12.2012, 10:15 Uhr
(Foto: dpa)
Dunkle Wolken hängen über Stuttgart 21: Berichte über eine erneute Kostenexplosion erhitzen die Gemüter. Ein Bahnhof für sechs Milliarden Euro? Wer soll das bezahlen? Bund und Land winken ab. Die Gegner sehen das Prestige-Projekt der Bahn vor dem Aus. Konzernchef Grube will davon nichts wissen.

So soll der Bahnhof aussehen, wenn er tatsächlich fertig ist: Die Gleise sollen unterirdisch verlaufen - aus einem Kopfbahnhof wird ein Durchgangsbahnhof.
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Das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 gerät ein Jahr nach dem Volksentscheid erneut ins Wanken. Der Grund: Das Mammut-Projekt dürfte deutlich teurer werden als mit Bund und Land vereinbart. Im Juli 2004 hatte die Deutsche Bahn in einer Wirtschaftlichkeitsberechnung die Kosten von Stuttgart 21 noch mit 2,8 Milliarden Euro angegeben, im November 2009 legte Bahnchef Rüdiger Grube eine neue Rechnung vor. Mehr als 4,53 Milliarden Euro dürfe das Projekt nicht kosten, wenn es keine Verluste bescheren soll. Nun machen seit Tagen Spekulationen um eine erneute mögliche Kostenexplosion die Runde. Die Rede ist von 1,5 Milliarden Euro Mehrkosten. Diesmal kommen die neuen Horrorzahlen aber nicht von den S 21-Gegnern, sondern aus dem Herzen des Bahn-Konzerns selbst.
Wer die neue Rechnung bezahlen soll, ist völlig unklar. Bund, Land, Stadt und die Region verweigern standhaft, sich an diesen Kostensteigerungen zu beteiligen. Am Montag hatte das Verkehrsministerium in Berlin mitgeteilt, es bleibe beim vereinbarten Festbetrag von 563,8 Millionen Euro. Die Bahn müsse daher das volle Kostenrisiko tragen. Das Land Baden-Württemberg wird ebenfalls nicht mehr zahlen. "Die Bahn trägt als Bauherrin die unternehmerische Verantwortung und das Risiko", bekräftigte der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann "Und die Bahn weiß das nicht seit heute", fügte er unter Verweis auf einen Kabinettsbeschluss vom September 2011 hinzu. Kretschmann gab auch zu verstehen, der Bau befinde sich an einem Punkt, an dem noch nichts unumkehrbar sei.
Ein planerisches und finanzielles Desaster
November 1995: Bahn, Bund, Land und Stadt unterzeichnen eine Rahmenvereinbarung. Das Projekt soll 5 Mrd. Mark kosten.
November 1997: Das Düsseldorfer Architektenbüro von Christoph Ingenhoven erhält den Zuschlag für den Bahnhofs-Umbau.
Oktober 2001: Das Planfeststellungsverfahren beginnt.
Dezember 2007: Der Gemeinderat der Landeshauptstadt lehnt einen Bürgerentscheid über das Milliardenprojekt mit großer Mehrheit ab.
November 2008: Der Bundesrechnungshof prophezeit Kosten von mehr als 5 Mrd. Euro.
April 2009: Bund, Land und Bahn unterzeichnen die Finanzierungsvereinbarung.
Februar 2010: Der erste Spatenstich erfolgt.
September 2010: Der Konflikt um S21 eskaliert. Bei der Räumung des Schlossgartens werden weit mehr als 100 Demonstranten und etliche Polizisten verletzt. Kurz nach Mitternacht werden die ersten Bäume gefällt.
Oktober 2010: An einer Demo gegen S21 und den Polizeieinsatz am "schwarzen Donnerstag" nehmen laut Polizei 65.000, laut Veranstaltern bis zu 100.000 Menschen teil.
Oktober / November 2010: In acht Runden Schlichtung streiten sich Befürworter und Gegner von S21 über die Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs.
November 2010: Schlichter Heiner Geißler gibt grünes Licht für S21, mahnt aber Nachbesserungen an. Die Bahn wird u.a. zu einem "Stresstest" verpflichtet.
Juli 2011: Ein Gutachten des Schweizer Verkehrsberatungsbüros sma bestätigt, dass der geplante Tiefbahnhof den Stresstest bestanden hat.
Juli 2011: Heiner Geißler überraschend einen kombinierten Tief- und Kopfbahnhof vor. Die Bahn lehnt die Kombi-Lösung ab.
September 2011: Das grün-rote Kabinett beschließt, dass das Land keinen Cent mehr als die vorgesehenen 824 Millionen Euro zahlt, wenn der Kostendeckel von 4,5 Milliarden Euro gesprengt werden sollte.
November 2011: S21-Gegner erleiden eine Niederlage bei der Volksabstimmung: Knapp 60 Prozent stimmen gegen einen Ausstieg des Landes aus der Finanzierung.
Februar 2012: Die Polizei räumt das Protest-Camp der S21-Gegner im Schlossgarten.
Dezember 2012: Das Projekt soll nach Medienberichten 1,5 Milliarden Euro teurer werden als geplant. Die Kosten würden sich demzufolge auf sechs Milliarden Euro belaufen.
Die Kritiker des Bahnprojektes sehen sich durch die neuen Informationen bestätigt. Aus dem Lager der Stuttgart-21-Gegner ist zu hören, die Bahn wolle jetzt "mit der Brechstange" Klarheit über die Mehrkosten schaffen. Die sind mit 1,5 Milliarden Euro womöglich noch viel zu defensiv beziffert: Derzeitiger Höhepunkt der Spekulationen sind laut "Tagesspiegel", der aus einem weiteren Gutachten der Münchener Beratungsfirma Vieregg-Rössler zitiert, Projektgesamtkosten von bis zu zehn Milliarden Euro. Gründe dafür seien Verzögerungen beim Bau, Fehlplanungen und steigende Stahlpreise.
Dass die Bahn das Projekt weder planerisch noch finanziell im Griff hat, davon ist auch Boris Palmer, einer der Wortführer der Bahnhofsgegner, überzeugt. Leider fehlten aber alle Anzeichen dafür, dass die Bahn selbst offiziell diese Erkenntnis teile, auch wenn es intern schon lange kein Geheimnis sei. "Ein mysteriöser Umstand ist, dass man bei der Bahn unterhalb der politischen Ebene immer viele Leute getroffen hat, die einräumen, dass das Projekt keinen Sinn hat, dass es sogar gegen die Interessen der Bahn gerichtet ist - Leute, die sagen, dass Stuttgart 21 viel teurer wird als geplant, die um die Schwierigkeiten wissen, die aber auch sagen, dies dürfe offiziell nicht bekannt werden", sagt Palmer n-tv.de.
Bahn setzt auf Partner
Die Bahn geht derweil davon aus, dass die anderen Projektpartner zusätzliche Gelder bereitstellen werden. Sie stützt sich dabei auf eine Vertragsklausel von 2009, wonach die Bahn und das Land im Fall von Mehrkosten Gespräche aufnehmen müssen. Die sogenannte Sprechklausel bedeutet nach Auffassung des Landes aber keine Pflicht zu neuen Zahlungen. Kretschmann empörte sich zudem über die Informationspolitik der Bahn. In der vergangenen Sitzung der Projektpartner vor zwei Monaten sei von derartigen Kostensteigerungen nicht die Rede gewesen. Nun sei er "in hohem Maße erstaunt" über die Größenordnung. "Das werden wir so weiter nicht hinnehmen", sagte der Grünen-Politiker, der auch dank der massiven Proteste gegen Stuttgart 21 im vergangenen Jahr die Wahl gewonnen hatte. Die Bahn müsse mehr Transparenz schaffen.
Bislang wollte die Bahn keine Stellung zur Höhe möglicher Mehrkosten nehmen. Erst an diesem Mittwoch soll der Aufsichtsrat über die neue Schätzung informiert werden. Durchgesickert ist, dass den Aufsichtsräten eine neue Projektstruktur vorgestellt wird, mit der die Aufgabe Stuttgart 21 in eine eigene Firma ausgelagert wird. Welche Konsequenz die Bahn dann zieht, ist offen. Zu erwarten ist aber, dass Bahnchef Grube seinem Aufsichtsrat einen Sündenbock präsentieren wird. Denn es geht am Mittwoch auch darum, ob der Vertrag des Vorstandsvorsitzenden vorzeitig um fünf Jahre verlängert wird. Naheliegender Kandidat für die Rolle desjenigen, der für die Misere den Kopf hinhalten muss, ist Technik-Vorstand Volker Kefer.
Drei Milliarden für Nichts
Unbestätigten Gerüchten zufolge soll auch ein möglicher Ausstieg aus dem umstrittenen Projekt Stuttgart 21 Thema sein. Der könnte, so warnte am Wochenende der SPD-Fraktionschef im Landtag, Claus Schmiedel, drei Milliarden Euro kosten. Die müsste die Bahn "für nichts geben", sagte der Sozialdemokrat. Die Gegner des Bahnprojekts Stuttgart 21 halten dagegen ein schnelles Ende des Baus für deutlich günstiger. Die Ausstiegskosten würden bei 300 bis 400 Millionen Euro liegen, sagte der Sprecher des Aktionsbündnisses, Eisenhart von Loeper. "Stuttgart 21 rechnet sich nicht."
Selbst der bisher immer als Legitimierung des Projekts angeführte Volksentscheid über Stuttgart 21 wird mittlerweile von den Gegnern infrage gestellt. Die Ende 2011 durchgeführte Abstimmung sei eine "Farce" gewesen, weil den Bürgern letztlich falsche Fakten und Kosten präsentiert worden seien. Damals habe die Bahn behauptet, ein Ausstieg koste 1,5 Milliarden Euro, so Palmer. "Die Summe war maßlos überzogen, wie wir schon in der Schlichtung nachgewiesen haben. Jetzt sieht es so aus, als marschiere die nächste Rechnungserhöhung zufällig gerade so in Richtung dieser 1,5 Milliarden", sagte der Grünen-Politiker n-tv.de.

Die S21-Baugrube aus der Luft: Am Ende könnten hier mehr als sechs Milliarden Euro verbuddelt werden.
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Daran, dass bei der Bahn ernsthaft an einem Ausstiegsplan gearbeitet wird, glaubt Palmer aber nicht. Dafür kenne er keine Signale aus der Bahn. Das sei aber so schlimm nicht. "Heiner Geißler und das Schweizer Gutachterbüro haben ein en Ausweg aus der Misere gewiesen mit einem sehr viel besseren und kostengünstigeren Konzept als Stuttgart 21. Wenn die Bahn je zu der Überzeugung kommt, dass sie nicht weitermachen kann, dann wäre es nicht das größte Problem, danach eine gute Alternative zu finden."
"Wir werden diesen Bahnhof bauen"
Ein Einsehen der Bahn ist jedoch nicht in Sicht. Bahnchef Grube räumte zwar ein, dass die Bahn zum Teil selbst die höheren Kosten verursachte, nannte aber keine Zahlen. Stattdessen machte er die Projektpartner mit ihren zusätzlichen Wünschen und die Proteste der Bevölkerung verantwortlich, die zu kostspieligen Verzögerungen geführt hätten. Ein Ausstieg komme für die Bahn nicht in Frage.
"Wir stehen zu Stuttgart 21, wir werden diesen Bahnhof bauen", ließ Grube vor der Aufsichtsratssitzung wissen. Ein Ausstieg sei schon rechtlich nicht möglich. Auch würde die Aufgabe des Projekts Bahnkreisen zufolge mit zwei Milliarden Euro zu Buche schlagen für Planungskosten, Erstattungen und die notwendige Sanierung des Bahnhofs. Grube erklärte weiter, die steigenden Kosten für das Großprojekt verhagelten die Bilanz der Bahn in den kommenden Jahren nicht, da sie sich über viele Jahre verteilten. Grube räumte jedoch ein: "Ich glaube, mit S21 werden wir keinen Blumentopf gewinnen."
Quelle: ntv.de, mit rts