Eskalation der Gewalt in Großbritannien "Ungleichheit weit fortgeschritten"
11.08.2011, 10:51 Uhr
In London konnte die Polizei die Lage mit einem Großaufgebot beruhigen.
(Foto: REUTERS)
Die Wogen in Großbritannien scheinen sich zu glätten. Dennoch hinterlässt das Ausmaß der Krawalle einen verstörenden Eindruck. Heather Ellis ist Historikerin am Großbritannien-Zentrum der Berliner Humboldt-Universität und verbringt viel Zeit in London. Als Ursache für die Eskalation macht sie im Gespräch mit n-tv.de die seit Jahren wachsenden sozialen Unterschiede auf der Insel aus.
n-tv.de: Wer genau sind die Randalierer in Großbritannien? Handelt es sich tatsächlich zum Großteil um frustrierte Jugendliche, die keine Perspektive sehen?
Heather Ellis: Es ist schwer zu sagen, ob die Krawalle wirklich politisch motiviert sind. Aber viele fühlen sich wohl von der Regierung und von der Gesellschaft vernachlässigt. Viele von denen, die jetzt auf die Straße gehen, wohnen in Sozialwohnungen und kommen aus Stadtteilen, die weit entfernt liegen von den wohlhabenden Gegenden, in denen die Krawalle stattgefunden haben. Was ich persönlich sehr seltsam finde, ist aber, dass viele der Randalierer sehr jung, teilweise erst zehn oder zwölf Jahre alt sind …
… und sich dennoch bereits perspektivlos fühlen?
Gerade Tottenham (wo die Krawalle ausgelöst wurden, als ein Mann aus bisher nicht näher bekannten Umständen von der Polizei erschossen wurde, d. Red.) ist ein sehr, sehr armer Stadtteil. Die Eltern dieser Jugendlichen sind meistens arbeitslos und beziehen Sozialhilfe. Vor kurzem sagte ein Regierungsmitglied, dass Familien in Großbritannien heute im Durchschnitt zehn Prozent weniger Geld zur Verfügung haben als noch vor zehn Jahren. Gleichzeitig werden in letzter Zeit beispielsweise Lebensmittel immer teurer. Natürlich hängt das alles auch mit den jetzigen Unruhen zusammen. Aber es erklärt nicht wirklich, warum auch an Privathäusern randaliert wird und zum Teil wirklich sinnlose Dinge gemacht werden, die nichts mit der sozialen Lage zu tun haben.
Hat sich in der Bevölkerung, möglicherweise über Jahre, Unzufriedenheit angestaut, die sich nun mit einem Mal entlädt?
Was in Tottenham passiert ist, war mit Sicherheit nur der Auslöser. Man muss auch den Hintergrund betrachten. Nach allem, was man mitbekommen hat, war das Opfer von Tottenham aber nicht einfach der unbescholtene Familienvater. Er wird mit Kriminalität in Verbindung gebracht, auch wenn bisher nichts Näheres bekannt ist. Die Dinge liegen aber auf jeden Fall komplizierter, als es etwa auch in den britischen Medien berichtet wurde.
Die Zahl der Festnahmen, der Verletzten und Todesopfer steigt. Woher kommt die ungewöhnlich hohe Gewaltbereitschaft der Randalierer?
Ich denke, dass dort derzeit zum einen vieles hochkocht, was sich über lange Zeit angestaut hat. Zum anderen sehen die Jugendlichen offenbar auch kein anderes Mittel. In einem Interview sagte ein junger Mann, wären wir nicht so gewalttätig, dann würden die Medien auch nicht in diesem Maße über uns berichten. Durch die Anwendung von Gewalt wollen sie einen möglichst starken Eindruck hinterlassen, weil sie der Meinung sind, dass sich die Gesellschaft einfach nicht mehr für die jungen Leute interessiert. Was dabei allerdings fehlt, ist, dass sie kein klares Ziel formulieren.
Wie weit fortgeschritten sind denn die sozialen Ungleichheiten in Großbritannien?
Ich würde sagen sehr weit. Es gibt sehr große Unterschiede zwischen Arm und Reich, und das schon seit vielen, wahrscheinlich seit mehr als zehn Jahren. Die Finanzkrise hat das noch einmal dahingehend verschlimmert, dass die Unterschiede tatsächlich auch auf der Straße zu sehen sind.
Halten Sie in Deutschland ähnliche Ausschreitungen für denkbar?
Ich denke, dass es in Großbritannien derzeit eine besondere Dynamik gibt und kann mir Vergleichbares in Deutschland nur schwer vorstellen. Die Gesellschaft hier kümmert sich besser um die jungen Leute. Hier fühlen sich selbst viele Sozialhilfeempfänger nicht perspektivlos. Ein weiterer Faktor ist das Ausbildungssystem in Deutschland. Die meisten jungen Leute hier haben einen Ausbildungsplatz. Oder zumindest einen Schulabschluss. Natürlich nicht jeder, aber in London ist es tatsächlich so, dass zwischen 15 und 20 Prozent der jungen Menschen keinen Abschluss haben und somit auch keinen Ausbildungsplatz bekommen. Weil das sogenannte "Apprentice System" (das Ausbildungssystem, d. Red.) einfach nicht mehr funktionsfähig ist. Und das ist eigentlich schon so, seit Margaret Thatcher an der Macht war. Das erklärt natürlich schon ein bisschen die Situation, dass man keine Perspektive und keinen Ausweg mehr sieht und letzten Endes mit Gewalt Aufmerksamkeit erregen will.
Mit Heather Ellis sprach Johannes Süßmann
Quelle: ntv.de