Aufruhr im Maghreb "Unsere Generation ist verzweifelt"
10.01.2011, 14:14 Uhr
Besonders die junge Generation lässt ihrer Wut freien Lauf. ...
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Mindestens zwei Dutzend Tote und mehrere Hundert Verletzte - das ist die vorläufige Bilanz der Unruhen in Tunesien und Algerien. Die Auslöser der Gewalt sind verschieden, doch in beiden Ländern herrscht Frust und Verzweiflung über Perspektivlosigkeit.
"Ben Ali, verschwinde!", "Nieder mit der Diktatur!" - Um solche Slogans in Tunesien zu brüllen, muss man sehr mutig oder sehr verzweifelt sein. Oder beides. Das Land, das seit fast einem Vierteljahrhundert von dem Machthaber Zine El-Abidine Ben Ali an der Kandare geführt wird, wird seit Mitte Dezember von sozialen Unruhen erschüttert. Auch das benachbarte Algerien erlebt seit Tagen Straßengefechte zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Bislang gibt es mindestens zwei Dutzend Tote und Hunderte Verletzte in beiden Ländern.
Tränengas, brennende Autoreifen, geplünderte Geschäfte - die Bilder aus beiden Ländern ähneln sich. Zwar sind die Auslöser der Gewalt in beiden Ländern verschieden, doch der Frust wegen mangelnder Perspektiven sitzt bei der jungen Generation im Maghreb gleichermaßen tief. Algerien und Tunesien sind rohstoffreiche Länder, doch die eigene Bevölkerung profitiert davon so gut wie gar nicht.
"In den Händen einer korrupten Elite"
"Unsere Generation ist verzweifelt", schreibt die junge Algerierin Nina B. in einem Forum auf lemonde.fr. "Wir leiden unter Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot, dabei besitzt Algerien 155 Milliarden Dollar Öldevisen. Unser Land ist in den Händen einer korrupten Elite." Sie wünsche sich nichts mehr, als dass der Aufstand das ganze Land ergreife.

... Ihr Protest richtet sich gegen Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und gestiegene Lebenshaltungskosten.
(Foto: dpa)
In beiden Ländern müssen Demonstranten die harten Reaktionen der Sicherheitskräfte fürchten. Allein in Algerien gab es mehr als 1100 Festnahmen. Zeitweise waren die Mobilfunkdienste gestört. Die tunesische Regierung hat versucht, eine Nachrichtensperre zu verhängen. Einer Journalistin der französischen Zeitung "Le Monde" wurde die Einreise verweigert.
Doch die Zensur ist schwieriger durchzusetzen als früher. Demonstranten informieren sich per sms und über Facebook. Das "Projekt Tornesia" bietet Tunesiern mit Hilfe einer Software anonymen Zugang zum Internet.
Öffentliche Selbstverbrennungen
Ungewohnt ist das Ausmaß der Proteste, die auf zahlreiche Orte übergegriffen haben. Neu ist auch die Offenheit, mit der Demonstranten sich gegen ihre Regierung auflehnen. Und dann gibt es auch noch spektakuläre Gesten wie öffentliche Selbstverbrennungen. Wie verzweifelt muss ein Mensch sein, der sich mit Benzin überschüttet und anzündet? Es ist eine der qualvollsten Arten, Selbstmord zu begehen.
In Tunesien haben sich seit Mitte Dezember zwei junge Menschen auf diese Weise getötet. Der erste von ihnen war ein arbeitsloser Hochschulabsolvent, der sich als Gemüsehändler durchschlug. Die Behörden konfiszierten mehrfach seine Waren, weil er keine Lizenz hatte. Tagelang lag er komplett in Verbände gehüllt in einem Krankenhaus, bevor er schließlich seinen Verletzungen erlag. Sein Fall wurde zum Auslöser der Massenproteste.
In Algerien hat sich die Lage etwas beruhigt, seit die Regierung Preissenkungen für Grundnahrungsmittel wie Speiseöl und Zucker angekündigt hat. In Tunesien hingegen ist mittlerweile die Armee im Einsatz, um die Unruhen einzudämmen.
Regierung als Kolonialherren
"Die Regierung hat die Stelle der Kolonialherren eingenommen", meint ein Tunesier auf der Website Twitter. "Wenn die Armee auf die eigene Bevölkerung schießt, gibt es eine Katastrophe", warnte ein anderer. Ein besonders sarkastischer Kommentar lautet: "Das kommt davon, wenn man zu lange Selbstzensur erträgt."
Quelle: ntv.de, Ulrike Koltermann, dpa