Börsen OsteuropasTürkei kann Dreh- und Angelpunkt werden

Die Börsen Osteuropas boomen. Thorsten Weinelt, Leiter des weltweiten Research und Chefstratege der UniCredit, erklärt im Interview, worin die besonderen Chancen und die Herausforderungen der Region bestehen.
Osteuropa gilt als
Werkbank Westeuropas. Diese Abhängigkeit wirkte sich während der Krise negativ
auf die osteuropäischen Staaten aus. Wie schätzen Sie die Lage derzeit ein?
Die Abhängigkeit der Volkswirtschaften weltweit hat
durch die Krise der Jahre 2008/2009 zugenommen. Weil Zentraleuropa eine
günstige Produktionsbasis insbesondere für die entwickelten europäischen Länder
ist, litt die Region unmittelbar unter dem Rückgang der Industrieproduktion und
der Exporte. Das führte zu Belastungen auf den Arbeitsmärkten und zu sinkendem
Konsum.
Auf der anderen Seite verfügten die Regierungen der Länder mit
solideren Bilanzen und Reserven aus der Zeit vor der Krise über einen gewissen
Spielraum, um den Abschwung zu dämpfen. Inzwischen haben sich die
osteuropäischen Volkswirtschaften erholt. Sie profitierten vor allem vom
Aufschwung in Deutschland und Asien seit dem 2. Quartal 2009. In Ländern wie
der Tschechischen Republik, Ungarn und der Slowakei stieg die
Industrieproduktion. Einzig der private Konsum ist noch relativ schwach.
Gilt das für den
gesamten osteuropäischen Raum?
Südosteuropa verzeichnete eine etwas gedämpftere
Erholung. Das liegt vor allem an der hohen Abhängigkeit von Ländern wie
Griechenland. Die Türkei hat ihre Exportbasis in beeindruckender Weise
diversifiziert, wobei die Abhängigkeit von der Europäischen Währungsunion (EWU)
durch einen regeren Handel mit dem Nahen Osten und Afrika reduziert wurde. Auf
kurze Sicht könnte das wegen der politischen Unruhen im Nahen Osten ein
Schwachpunkt sein. Andererseits kann sich die Türkei mit Blick auf die
Produktion und den Tourismus aber zu einem stabilen Dreh- und Angelpunkt der
Region entwickeln.
Wie sieht die
Schuldenlage aus?
Die öffentlichen Schulden entwickeln sich positiver
als in den Industrienationen. Für die Region als Ganzes erwarte ich Ende dieses
Jahres eine Schuldenquote von weniger als 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
(BIP). Das ist nicht einmal die Hälfte der für die EWU prognostizierten
Schulden – für das laufende Jahr soll der Anteil 87 Prozent des BIP betragen. Innerhalb
Osteuropas bestehen jedoch Unterschiede: In Ungarn liegt der Schuldenstand bei
knapp 80 Prozent des BIP, während er für Estland unter 10 Prozent liegt.
Wie erklärt sich dieses
positive Bild?
Bei Ausbruch der Krise standen die Zahlungsbilanzen und
die Staatshaushalte einiger Länder wie Lettland, Ungarn, Rumänien, Ukraine und
Serbien unter Druck. Allerdings hat der allgemeine Finanzierungsdruck nun nachgelassen.
Mit Blick auf die Entwicklung der Staatshaushalte wurden umfangreiche Konsolidierungsmaßnahmen
durchgesetzt. In Rumänien sind kaum noch weitere Reformen erforderlich, um das
Defizitziel von 3 Prozent im Jahr 2012 zu erreichen. Daher hat Ungarn auch seit
einigen Quartalen keine Mittel des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der
Europäischen Union (EU) mehr abrufen müssen. Es ist der Regierung gelungen, einen
beträchtlichen Geldpuffer aufzubauen. Erfreulicherweise hat Rumänien einer zweijährigen
vorsorglichen Vereinbarung mit dem IWF und der EU zugestimmt. Diese greift,
sobald die aktuelle Standby-Fazilität, also das Abkommen mit dem IWF für einen Bereitschaftskredit
zur Überbrückung eines kurzfristigen Zahlungsbilanzbedarfs, im April ausläuft.
Bei der letzten Überprüfung hat Rumänien entschieden, keine Tranche des IWF abzurufen.
Allerdings ist die Regierung bei der Haushaltsfinanzierung immer noch von der
EU abhängig.
In diesem Jahr stehen
noch wichtige Wahlen in Polen und Russland bevor. Was erwarten Sie?
Der Ausgang der Parlamentswahlen in Polen im Herbst
könnte spannend werden: Den Meinungsumfragen zufolge dürften sowohl die
wirtschaftsliberale derzeitige Regierungspartei PO als auch die
nationalkonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) rund 30 Prozent der
Stimmen erreichen, weshalb der Wahlausgang relativ offen ist. Dieses Kopf-an-Kopf-Rennen
bedeutet allerdings, dass die Regierung in diesem Jahr vermutlich keine
ernstzunehmende Haushaltskonsolidierung betreiben wird.
Auch in Russland steht ein politisch interessantes Jahr
bevor: Im Dezember 2011 finden Parlamentswahlen statt, im März 2012 wird über
den Präsidenten abgestimmt. Die Partei „Einiges Russland“ dürfte bei den Wahlen
zum Parlament eine komfortable Mehrheit erzielen, allerdings ist unserer
Ansicht nach auch eine Protestwahl – von der die Kommunisten profitieren würden
– nicht auszuschließen. Die wichtigsten Wahlkampfthemen umfassen Korruption,
Verwaltungsreformen sowie einen allgemein höheren Lebensstandard. Aufgrund der
gestiegenen Ölpreise dürften zudem die Rufe nach Ausgabensteigerungen zunehmen,
insbesondere für soziale Programme. Finanzminister Alexej Kudrin wird diesen
Wünschen voraussichtlich nur zum Teil nachkommen, da er im Vorfeld von Wahlen
grundsätzlich gegen Ausgabensteigerungen ist und sich stärker auf die
Eindämmung des Haushaltsdefizits konzentriert.
Wie stehen Sie zu den
Privatisierungsplänen in Russland?
Russland rechnet mit jährlichen Erlösen aus Privatisierungen
in Höhe von rund 7 Milliarden US-Dollar. Insgesamt sollen bis 2015 rund 50
Milliarden US-Dollar zusammenkommen. Diese Erlöse sollen zur Finanzierung des
Haushaltsdefizits beitragen. Zudem dürften die Privatisierungsangebote auch Interesse
im Ausland wecken, wie bereits kürzlich beim Verkauf von 10 Prozent der Bank
VTB zu beobachten war.
Russland plant den
Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO). Was würde das bedeuten?
Die symbolisch wichtigen Beitrittsbemühungen Russlands
zur WTO dauern schon länger an. Bisher ist die Mitgliedschaft am Widerstand Georgiens
und Finnlands gescheitert. Zuletzt gab es allerdings Hinweise darauf, dass sich die Verhandlungen dem Abschluss nähern.
Der Beitritt zur WTO könnte für russische Unternehmen den Zugang zu weiteren Märkten
öffnen, insbesondere zur Schwerindustrie in westlichen Ländern.
Einige Aktienmärkte in
Osteuropa konnten zuletzt deutlich zulegen. Was erwarten Sie für
die kommenden Monate?
Das wird vor allem von der wirtschaftlichen Lage
abhängen. Mit Blick auf die wichtigsten Rohstoffproduzenten der Region,
Russland und Kasachstan, bin ich nach wie vor optimistisch. Die hohen
Rohstoffpreise treiben die Erholung im Inland voran und unterstützen sowohl die
Währungen als auch die Aktienmärkte. Für Osteuropa ist ein kontinuierliches Wachstum
im Euroraum – vor allem der Exportlokomotive Deutschland – entscheidend.
Unterdessen könnte eine Lösung der Spannungen im Nahen Osten und Nordafrika für
Länder wie die Türkei Möglichkeiten bieten, sich für den regionalen Handel zu
öffnen.
Welche Märkte haben
dieses Jahr gute Aussichten?
Unserer Ansicht nach wird das Jahr 2011 in zwei
unterschiedliche Hälften aufgeteilt sein: In den ersten sechs Monaten werden vermutlich
Rohstoffproduzenten wie Russland und Kasachstan von der Erholung
des-Weltwirtschaftswachstums und den hohen Ölpreisen durch die Ereignisse in
der Region Nahost und Nordafrika (MENA) profitieren. In der zweiten
Jahreshälfte sollten sich die Energiepreise nach unserem Dafürhalten stabilisieren,
was für Länder wie die Türkei und Polen ein besseres Umfeld darstellen würde.
Zuletzt haben die
Aktienmärkte in China und Indien Abschläge hinnehmen müssen. Profitiert Osteuropa
hiervon?
Absolut. Trotz der Abflüsse in diesem Jahr aus Fonds
für Lateinamerika und die aufstrebenden asiatischen Länder verzeichneten osteuropäische
und insbesondere russische Fonds Kapitalzuflüsse. Ursache hierfür war die
Neuausrichtung der Mittel innerhalb der Anlageklasse.