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Börsen OsteuropasTürkei kann Dreh- und Angelpunkt werden

13.04.2011, 15:12 Uhr
imageInterview mit Thorsten Weinelt, Leiter des weltweiten Research und Chefstratege der UniCredit
tuerkei
(Foto: picture-alliance/ dpa)

Die Börsen Osteuropas boomen. Thorsten Weinelt, Leiter des weltweiten Research und Chefstratege der UniCredit, erklärt im Interview, worin die besonderen Chancen und die Herausforderungen der Region bestehen.

Osteuropa gilt als

Werkbank Westeuropas. Diese Abhängigkeit wirkte sich während der Krise negativ

auf die osteuropäischen Staaten aus. Wie schätzen Sie die Lage derzeit ein?

Die Abhängigkeit der Volkswirtschaften weltweit hat

durch die Krise der Jahre 2008/2009 zugenommen. Weil Zentraleuropa eine

günstige Produktionsbasis insbesondere für die entwickelten europäischen Länder

ist, litt die Region unmittelbar unter dem Rückgang der Industrieproduktion und

der Exporte. Das führte zu Belastungen auf den Arbeitsmärkten und zu sinkendem

Konsum.

Auf der anderen Seite verfügten die Regierungen der Länder mit

solideren Bilanzen und Reserven aus der Zeit vor der Krise über einen gewissen

Spielraum, um den Abschwung zu dämpfen. Inzwischen haben sich die

osteuropäischen Volkswirtschaften erholt. Sie profitierten vor allem vom

Aufschwung in Deutschland und Asien seit dem 2. Quartal 2009. In Ländern wie

der Tschechischen Republik, Ungarn und der Slowakei stieg die

Industrieproduktion. Einzig der private Konsum ist noch relativ schwach.

Gilt das für den

gesamten osteuropäischen Raum?

Südosteuropa verzeichnete eine etwas gedämpftere

Erholung. Das liegt vor allem an der hohen Abhängigkeit von Ländern wie

Griechenland. Die Türkei hat ihre Exportbasis in beeindruckender Weise

diversifiziert, wobei die Abhängigkeit von der Europäischen Währungsunion (EWU)

durch einen regeren Handel mit dem Nahen Osten und Afrika reduziert wurde. Auf

kurze Sicht könnte das wegen der politischen Unruhen im Nahen Osten ein

Schwachpunkt sein. Andererseits kann sich die Türkei mit Blick auf die

Produktion und den Tourismus aber zu einem stabilen Dreh- und Angelpunkt der

Region entwickeln.

Wie sieht die

Schuldenlage aus?

Die öffentlichen Schulden entwickeln sich positiver

als in den Industrienationen. Für die Region als Ganzes erwarte ich Ende dieses

Jahres eine Schuldenquote von weniger als 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts

(BIP). Das ist nicht einmal die Hälfte der für die EWU prognostizierten

Schulden – für das laufende Jahr soll der Anteil 87 Prozent des BIP betragen. Innerhalb

Osteuropas bestehen jedoch Unterschiede: In Ungarn liegt der Schuldenstand bei

knapp 80 Prozent des BIP, während er für Estland unter 10 Prozent liegt.

Wie erklärt sich dieses

positive Bild?

Bei Ausbruch der Krise standen die Zahlungsbilanzen und

die Staatshaushalte einiger Länder wie Lettland, Ungarn, Rumänien, Ukraine und

Serbien unter Druck. Allerdings hat der allgemeine Finanzierungsdruck nun nachgelassen.

Mit Blick auf die Entwicklung der Staatshaushalte wurden umfangreiche Konsolidierungsmaßnahmen

durchgesetzt. In Rumänien sind kaum noch weitere Reformen erforderlich, um das

Defizitziel von 3 Prozent im Jahr 2012 zu erreichen. Daher hat Ungarn auch seit

einigen Quartalen keine Mittel des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der

Europäischen Union (EU) mehr abrufen müssen. Es ist der Regierung gelungen, einen

beträchtlichen Geldpuffer aufzubauen. Erfreulicherweise hat Rumänien einer zweijährigen

vorsorglichen Vereinbarung mit dem IWF und der EU zugestimmt. Diese greift,

sobald die aktuelle Standby-Fazilität, also das Abkommen mit dem IWF für einen Bereitschaftskredit

zur Überbrückung eines kurzfristigen Zahlungsbilanzbedarfs, im April ausläuft.

Bei der letzten Überprüfung hat Rumänien entschieden, keine Tranche des IWF abzurufen.

Allerdings ist die Regierung bei der Haushaltsfinanzierung immer noch von der

EU abhängig.

In diesem Jahr stehen

noch wichtige Wahlen in Polen und Russland bevor. Was erwarten Sie?

Der Ausgang der Parlamentswahlen in Polen im Herbst

könnte spannend werden: Den Meinungsumfragen zufolge dürften sowohl die

wirtschaftsliberale derzeitige Regierungspartei PO als auch die

nationalkonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) rund 30 Prozent der

Stimmen erreichen, weshalb der Wahlausgang relativ offen ist. Dieses Kopf-an-Kopf-Rennen

bedeutet allerdings, dass die Regierung in diesem Jahr vermutlich keine

ernstzunehmende Haushaltskonsolidierung betreiben wird.

Auch in Russland steht ein politisch interessantes Jahr

bevor: Im Dezember 2011 finden Parlamentswahlen statt, im März 2012 wird über

den Präsidenten abgestimmt. Die Partei „Einiges Russland“ dürfte bei den Wahlen

zum Parlament eine komfortable Mehrheit erzielen, allerdings ist unserer

Ansicht nach auch eine Protestwahl – von der die Kommunisten profitieren würden

– nicht auszuschließen. Die wichtigsten Wahlkampfthemen umfassen Korruption,

Verwaltungsreformen sowie einen allgemein höheren Lebensstandard. Aufgrund der

gestiegenen Ölpreise dürften zudem die Rufe nach Ausgabensteigerungen zunehmen,

insbesondere für soziale Programme. Finanzminister Alexej Kudrin wird diesen

Wünschen voraussichtlich nur zum Teil nachkommen, da er im Vorfeld von Wahlen

grundsätzlich gegen Ausgabensteigerungen ist und sich stärker auf die

Eindämmung des Haushaltsdefizits konzentriert.

Wie stehen Sie zu den

Privatisierungsplänen in Russland?

Russland rechnet mit jährlichen Erlösen aus Privatisierungen

in Höhe von rund 7 Milliarden US-Dollar. Insgesamt sollen bis 2015 rund 50

Milliarden US-Dollar zusammenkommen. Diese Erlöse sollen zur Finanzierung des

Haushaltsdefizits beitragen. Zudem dürften die Privatisierungsangebote auch Interesse

im Ausland wecken, wie bereits kürzlich beim Verkauf von 10 Prozent der Bank

VTB zu beobachten war.

Russland plant den

Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO). Was würde das bedeuten?

Die symbolisch wichtigen Beitrittsbemühungen Russlands

zur WTO dauern schon länger an. Bisher ist die Mitgliedschaft am Widerstand Georgiens

und Finnlands gescheitert. Zuletzt gab es allerdings Hinweise darauf, dass sich die Verhandlungen dem Abschluss nähern.

Der Beitritt zur WTO könnte für russische Unternehmen den Zugang zu weiteren Märkten

öffnen, insbesondere zur Schwerindustrie in westlichen Ländern.

Einige Aktienmärkte in

Osteuropa konnten zuletzt deutlich zulegen. Was erwarten Sie für

die kommenden Monate?

Das wird vor allem von der wirtschaftlichen Lage

abhängen. Mit Blick auf die wichtigsten Rohstoffproduzenten der Region,

Russland und Kasachstan, bin ich nach wie vor optimistisch. Die hohen

Rohstoffpreise treiben die Erholung im Inland voran und unterstützen sowohl die

Währungen als auch die Aktienmärkte. Für Osteuropa ist ein kontinuierliches Wachstum

im Euroraum – vor allem der Exportlokomotive Deutschland – entscheidend.

Unterdessen könnte eine Lösung der Spannungen im Nahen Osten und Nordafrika für

Länder wie die Türkei Möglichkeiten bieten, sich für den regionalen Handel zu

öffnen.

Welche Märkte haben

dieses Jahr gute Aussichten?

Unserer Ansicht nach wird das Jahr 2011 in zwei

unterschiedliche Hälften aufgeteilt sein: In den ersten sechs Monaten werden vermutlich

Rohstoffproduzenten wie Russland und Kasachstan von der Erholung

des-Weltwirtschaftswachstums und den hohen Ölpreisen durch die Ereignisse in

der Region Nahost und Nordafrika (MENA) profitieren. In der zweiten

Jahreshälfte sollten sich die Energiepreise nach unserem Dafürhalten stabilisieren,

was für Länder wie die Türkei und Polen ein besseres Umfeld darstellen würde.

Zuletzt haben die

Aktienmärkte in China und Indien Abschläge hinnehmen müssen. Profitiert Osteuropa

hiervon?

Absolut. Trotz der Abflüsse in diesem Jahr aus Fonds

für Lateinamerika und die aufstrebenden asiatischen Länder verzeichneten osteuropäische

und insbesondere russische Fonds Kapitalzuflüsse. Ursache hierfür war die

Neuausrichtung der Mittel innerhalb der Anlageklasse.