Es geht um einen relativ kleinen Anteil des deutschen Strombedarfs, doch der spaltet die Ampel-Regierung: Wie weiter mit den letzten drei Atomkraftwerken? Die Grünen wollen sich nach ihrem Parteitag nicht weiter auf die FDP zu bewegen. Am Abend ringen Scholz, Habeck und Lindner um eine Lösung.
Im Streit der Ampelkoalition über die fortlaufende Nutzung von Atomkraftwerken zeichnet sich Stunden vor dem Krisentreffen zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und Christian Lindner keine Kompromisslösung ab. "Wir hatten ja eigentlich eine Lösung. Die haben wir miteinander vereinbart in der Koalition", sagte Grünen-Chef Omid Nouripour auf dem Parteitag in Bonn zu ntv. Im sogenannten "Doppel-Wumms"-Beschluss der Bundesregierung stehe, dass im Notfall die beiden süddeutschen Atomkraftwerke für eine begrenzte Zeit weiterlaufen könnten. Das bedeute, dass das AKW Emsland zum Jahresende abgeschaltet werde. "Das ist nicht nur der Beschluss der Grünen. Das ist der Beschluss, den wir miteinander vereinbart haben in der Koalition."
Aus Sicht der Grünen war bereits die Zustimmung zu einer Einsatzreserve für zwei AKW ungeachtet des für Silvester festgeschrieben Atomausstiegs ein Zugeständnis an die FDP und andere Atomkraftbefürworter. Der Koalitionspartner aber würde am liebsten alle drei noch laufenden Kernkraftwerke bis zum Frühjahr 2024 nutzen und dafür auch neue Brennstäbe bestellen. Seit ihrem Rauswurf aus dem niedersächsischen Parlament am vergangenen Sonntag kämpfen die Liberalen mit neuer Vehemenz für ihre Pro-AKW-Linie. Derweil haben die Grünen auf ihrem Parteitag rote Linien eingezogen, hinter die die verantwortlichen Bundeswirtschaftsminister Habeck und Bundesumweltministerin Steffi Lemke sowie die Grünen-Bundestagsfraktion kaum zurücktreten können: Ein Parteitagsbeschluss schließt sowohl die Nutzung des AKW Emsland über den Jahreswechsel hinaus als auch die Beschaffung neuer Brennstäbe aus.
Die von Habeck für eine Überführung in die Notfall-Einsatzreserve vorgesehenen AKW Neckarwestheim2 und Isar 2 sollen demnach ab dem 15. April 2023 rückgebaut werden. Aus Habecks Sicht ist die Debatte unverhältnismäßig, weil die beiden süddeutschen AKW nur 0,5 Gigawatt Strom produzieren würden, während im angenommenen Ernstfall Deutschland 4 bis 8 Gigawatt Strom fehlten. Via Twitter kritisierte Lindner am Samstag dennoch den Grünen-Beschluss. "Wenn es darum geht, Schaden von unserem Land abzuwenden, hohe Energiepreise und Blackouts zu verhindern, dann gibt es für mich keine roten Linien. Es geht nicht um Parteipolitik."
Grüner Frust über die SPD
Es gebe keine energiepolitische Notwendigkeit für eine längere Laufzeit des Atommeilers in Niedersachsen, sagte Nouripour zu ntv. "Deshalb wüsste ich jetzt nicht, warum wir da was ändern sollten." Dennoch erwartet der Grünen-Chef eine baldige Entscheidung in der Koalition. "Die Zeit drängt." Er zeigte sich vorsichtig optimistisch. "Wir werden miteinander reden und wie immer natürlich eine Lösung finden." Druck für eine schnelle Einigung kommt auch aus der SPD. Der Bundeskanzler hatte am Freitag eine Einigung zum Beginn der neuen Woche angekündigt. Lindner änderte eigens seine Route für die Rückreise aus Washington, Habeck nahm an der Bundesdelegiertenkonferenz an diesem Sonntag nicht mehr teil. Ein Treffen und ein Telefonat der drei Spitzenpolitiker waren in der vergangenen Woche ergebnislos geblieben.
Falls es zu einer Lösung kommt, könnte es dennoch sein, dass Anfang der Woche der Koalitionsausschuss hierzu zusammenkommen muss. Sollten die Grünen nicht nachgeben, bräuchte Lindner womöglich einen anderen Erfolg zum Vorzeigen. Denkbar, dass die Grünen sich an anderer Stelle kompromissbereit zeigen, doch auch hier zeichnet sich bislang kein möglicher Ansatz ab. Dabei beschränkt sich der Konflikt nicht auf FDP und Grüne, sondern auch zwischen Grünen und SPD ist die Stimmung schlecht. Dass das Desaster um die Gasumlage auch vonseiten der Sozialdemokraten allein Habeck angelastet wurde, trägt ebenso zu Spannungen bei wie Scholz' Unentschiedenheit in der AKW-Frage.
Alle wollen pragmatisch sein
Die SPD hatte ihren erfolgreichen Wahlkampf in Niedersachsen unter anderem mit dem Versprechen geführt, dass das AKW Emsland wie geplant zum Jahreswechsel vom Netz geht, auch weil die dortigen Brennstäbe so gut wie ausgebrannt seien. Doch seither hält sich die SPD mit klaren Positionierungen zurück. Sollte es im Winter zu Stromausfällen kommen, will man bei den Grünen offenbar nicht allein die Verantwortung für die gemeinsame Energiepolitik der Ampel übernehmen. Stellt sich der Kanzler aber am Sonntagabend voll und ganz hinter Habecks Plan, droht weiterer Zoff mit den in Umfragen schwächelnden Liberalen, allen voran mit Parteichef und Bundesfinanzminister Lindner.
SPD-Fraktionsgeschäftsführerin Katja Mast rief die Ampelkoalition am Sonntag zu "gesundem politischen Pragmatismus" auf. "Mein Eindruck ist, dass die Menschen nicht interessiert, wer welche politischen Aktien in der Atomdebatte hat", sagte die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion. Mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil formulierte ein weiterer Sozialdemokrat ähnlich. "Das ist jetzt keine ideologische Frage, sondern eine pragmatische", sagte Heil dem Berliner "Tagesspiegel".
Pragmatismus reklamieren die Atomkraftbefürworter FDP und Union für sich, wenn sie angesichts einer Energiekrise im Winter jedwede Stromquelle aktivieren wollen. Für genauso pragmatisch halten sich aber auch die Grünen, die wegen der ungelösten Endlager-Problematik zusätzlichen Atommüll durch neue Brennstäbe genauso ablehnen wie eine dauerhafte Weiternutzung von Kernkraftwerken, deren Tiefen-TÜV - die periodische Sicherheitsüberprüfung - seit drei Jahren überfällig ist. Aber Pragmatismus zählt ja auch der Kanzler nach eigenem Dafürhalten zu seinen Stärken.
Quelle: ntv.de