100 Jahre Kibbuz Das Kollektiv wird erwachsen
29.10.2010, 11:55 Uhr
Kibbuz-Vorsteher Schai Schoschani steht vor einem Bild der Gründer des Kibbuz in Degania Alef.
(Foto: picture alliance / dpa)
Die israelische Kollektivsiedlung Kibbuz gilt als weltweit einzigartige Lebensform. Durch eine tiefe Krise zu Reformen gezwungen, ist der Kibbuz zu seinem 100. Geburtstag gerade für junge Israelis wieder attraktiv geworden.
Auf dem ersten Gruppenfoto sehen die Gründer der israelischen Kibbuz-Bewegung noch sehr adrett aus, ganz im alten europäischen Stil gekleidet. Ein späteres Bild zeigt sie dann schon als kernige jüdische Pioniere, die sich an die rauere Umgebung des damaligen Palästina angepasst haben. Die erste Gemeinschaftssiedlung Kibbuz, Degania Alef, feiert in diesen Tagen Jubiläum. Die vor 100 Jahren am 29. Oktober 1910 gegründete Ortschaft am See Genezareth gilt als "Mutter" aller israelischen Kibbuzim.
"Der Ort, an dem sie Degania errichteten, war damals absolut jungfräulich", erklärt Kibbuz-Vorsteher Shai Schoschani und zeigt zum Beweis alte Aufnahmen des Landes. Es ist ihm sehr wichtig zu betonen, dass die Gemeinde nicht etwa auf den Ruinen eines arabischen Dorfes errichtet wurde - wie später viele andere israelische Ortschaften. Die Gründer, ein Dutzend Juden aus Russland und Galizien, hätten das Land damals von Beduinen gekauft, sagt der drahtige Mann, der sich politisch als "sehr weit links" beschreibt. Sein Büro liegt in einem schönen zweistöckigen Haus, dem ersten Gebäude in Degania.

Für die 100-Jahrfeiern ist die Einfahrt im Kibbuz Degania Alef geschmückt.
(Foto: picture alliance / dpa)
"Sie wollten einen neuen Menschen schaffen, einen anderen Juden", erklärt Schoschani die Philosophie der Pionierbewegung, die den Weg für die Schaffung des Staates Israel ebnete. "Weg vom gedemütigten Diaspora-Juden, der beispielsweise mit Bankgeschäften seinen Lebensunterhalt verdiente, und hin zu einem auch körperlich starken Menschen, der sein eigenes Land beackert - im Heiligen Land."
Das Urmodell Degania Alef sollte als Vorbild für viele andere Gemeinschaftssiedlungen dienen, deshalb wurden später Degania Bet und Degania Gimel geschaffen. "Sie haben aber bald verstanden, dass nicht alle Kibbuzim Degania heißen können, deshalb haben sie sich später andere Namen ausgedacht", sagt der 43-Jährige lachend. Heute gibt es in ganz Israel mehr als 250 dieser Kollektivsiedlungen, von denen die meisten in den vergangenen Jahren tiefgreifende Reformen in Richtung Privatisierung erlebt haben.
Die Idee des Kibbuz basierte zu Beginn ganz auf den sozialistischen Grundsätzen und der gemeinsamen Bewirtschaftung des Bodens. Anders als in der sowjetischen Kolchose waren die "Kibbuzniks" aber auch gemeinsame Eigentümer des Bodens. Der anfangs sehr strenge Kollektivismus drang bis in die privatesten Bereiche des Lebens ein. Als etwa in Degania Alef das erste Kind zur Welt kam, diskutierten die Gemeindemitglieder hitzig darüber, ob es dem Kibbuz oder den Eltern gehören sollte. "Letztlich entschied man sich für die Eltern, weil es doch natürlicher war", sagt der in Tel Aviv geborene Schoschani, der sich selbst als "moderner Sozialist" definiert.
Kibbuz basiert auf Marxschem Grundsatz
Im Sinne des Kollektivismus aßen die Kibbuzmitglieder gemeinsam in einem großen Speisesaal, der Nachwuchs schlief in Kinderhäusern, nicht bei den Eltern. Die Verteilung von Arbeit und Lohn im Kibbuz basierte auf dem Grundsatz von Karl Marx: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen." Doch auch im Kibbuz erwies sich die Umsetzung der sozialistischen Ideale in die Praxis als schwierig. "Es gab schon immer Leute, die 'gleicher' waren als andere", sagt Schoschani.

Vor der Einfahrt ins Kibbuz erinnert ein ausgebrannter syrischer Panzer an den Unabhängigkeitskrieg von 1948.
(Foto: picture alliance / dpa)
In den 1950er Jahre kam es in vielen Kibbuzim zu heftigen Auseinandersetzungen über die richtige ideologische Ausrichtung, die in manchen Fällen zur Spaltung in zwei Ortschaften führte. "Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen, es erscheint fast lächerlich", meint der Kibbuz-Vorsteher. "Ehepaare haben sich scheiden lassen, im Streit darüber, wer "roter" als der andere ist."
Viele auch international bekannte Persönlichkeiten lebten im Kibbuz oder wurden dort geboren. Das zweite Kind, das in Degania Alef zur Welt kam, war etwa der spätere Generalstabschef und Politiker Mosche Dajan - der Mann mit der berühmen schwarzen Augenklappe. "Man erzählt sich im Kibbuz, dass er ein sehr freches Kind war, ein echter Draufgänger", erzählt Schoschani bei einem Rundgang in dem kleinen Museum von Degania. Auch die jüdische Dichterin Rachel Bluwstein verbrachte hier einige Zeit. "Sie musste gehen, als sie an Tuberkulose erkrankte - man hatte Angst, sie könnte die Kinder anstecken", erzählt Schoschani über die Zionistin, die am See Genezareth begraben ist.
Speerspitze der zionistischen Bewegung
An der Wand in Schoschanis Büro hängt ein Bild von einem älteren Mann mit einem beeindruckenden weißen Rauschebart - der führende Zionist und Schriftsteller Aharon David Gordon, der ebenfalls seine letzten Jahre am biblischen See Genezareth verbrachte. Auch der jüdische Held Joseph Trumpeldor lebte in Degania. Er starb 1920 bei einer Schlacht mit Arabern in Tel Chai. Als berühmte letzte Worte wurde der Satz kolportiert: "Es ist gut, für unser Land zu sterben."
Die Kibbuzim galten als Speerspitze der zionistischen Bewegung. Sie ermöglichten zugleich die Aufnahme neuer Einwanderer und die Befestigung erworbener Landstriche während der verschiedenen Nahostkriege. Vor der Einfahrt von Degania Alef erinnert ein ausgebrannter syrischer Panzer an einen dramatischen Kampf während des Unabhängigkeitskriegs von 1948.
"Teheran-Kinder" fanden Zuflucht im Kibbuz
Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen viele Holocaust-Überlebende nach Palästina, von denen ein großer Teil in den Kibbuzim aufgenommen wurde. Nicht wenige von ihnen mussten 1948 während des ersten Nahostkriegs zur Waffe greifen. Einer der ältesten Bewohner von Degania Alef ist der 82-jährige Izchak Levy, geboren im damals deutschen Breslau, heute Wroclaw in Polen. Er kam 1943 mit einer Gruppe von insgesamt 15 Jugendlichen nach Degania, die vor den Nationalsozialisten fliehen konnten.

Der aus Breslau stammende Izchak Levy floh als Kind vor den Nationalsozialisten und fand im Kibbuz eine neue Heimat.
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"Ich bin eines der Teheran-Kinder", erzählt der Mann, dem das Laufen schon sichtlich schwerfällt. Die "Teheran-Kinder" sind eine Gruppe jüdischer Flüchtlinge aus Polen, die erst nach einer dramatischen Odyssee nach Palästina kamen. Levy floh im September 1939 nach Kriegsbeginn mit seiner Mutter aus Auschwitz, wo sie damals lebten, Richtung Osten in die Sowjetunion. "Wir nahmen nur einen Koffer mit und gingen auf die Straße", erinnert sich der weißhaarige Mann.
Die Reise führte über Lemberg in der Ukraine, heute Lwiw, über Samarkand in Usbekistan bis in ein Zeltlager in Teheran. Erst nach vier Jahren auf der Flucht kam Levy - dessen Vorname damals noch Franz war - per Schiff nach Palästina. Ein altes Poesiealbum, das der alte Mann der Besucherin mit zitternden Händen zeigt, erinnert an die schweren Zeiten. "Geh immer aufrecht durchs Leben", lautet der Ratschlag einer seiner alten Weggefährten.
Während einer dreitägigen Einführungstour durch das britische Mandatsgebiet kam die Gruppe auch nach Degania Alef. "Alle wollten hierbleiben, aber sie konnten nicht alle aufnehmen", erzählt Levy, der seitdem in der Ortschaft am See Genezareth lebt.
"Es gab Zeiten, da wollte ich gehen"
Der Vater von vier Kindern und Großvater von zwölf Enkeln hat während seiner Jahre im Kibbuz in vielen Bereichen gearbeitet - vor allem auf dem Feld und als Fahrer. Rückblickend sieht er nicht alles rosig. "Ich glaube manchmal, es war ein Fehler, im Kibbuz zu leben", sagt Levy nachdenklich. "Es gab Zeiten, da wollte ich gehen." Besonders kritisch sieht er die kollektivistische Lebensweise und den Mangel an Privatsphäre. "Ich fühle mich wirklich nicht mehr als Sozialist", sagt er mit einem kurzen Lachen.
Von außen betrachtet erschien das behütete Leben im Kibbuz vielen jedoch als idyllisch und romantisch. Nach dem Sechstagekrieg von 1967 kamen Freiwillige aus aller Welt, um in den Kollektivsiedlungen mitzuhelfen. Mehr als 350.000 solcher "Volunteers" aus aller Welt haben bis heute in Kibbuzim gearbeitet, wie das israelische Zentrum für Kibbuz-Volontäre mitteilte.

Über 350.000 Freiwillige aus aller Welt haben von 1967 bis heute in israelischen Kibbuzim gelebt und gearbeitet.
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Nach langjähriger tiefer Krise haben die meisten Kibbuzim, von denen viele in der Vergangenheit rote Zahlen schrieben, einen Privatisierungsprozess hinter sich. Auch in Degania Alef ist heute alles sehr anders als zu Gründerzeiten. "Wir haben uns verändert", so Schoschani. "Wir haben uns angepasst."
Etwa ein Drittel der Kibbuzniks arbeitet heute auf dem freien Markt, übermittelt sein Gehalt aber weiter an den Kibbuz. "Leute, die höhere Gehälter haben, bekommen prozentual mehr vom Kibbuz als andere", erklärt Schoschani das neue Verteilungssystem. Es gebe aber nicht mehr als 25 Prozent Unterschied zwischen den verschiedenen Gehältern der Mitglieder.
Kollektivismus ist heute sanfter
"Außerdem haben wir ein System der Belohnungen geschaffen, um Verschwendung - etwa von Strom - zu verhindern", sagt der Kibbuz-Vorsteher. Und die Reformen tragen Früchte: Degania Alef gilt als einer der reichsten Kibbuzim, die Produktivität ist angesichts neuer Anreize erheblich gestiegen. Eine wichtige Einnahmequelle ist die örtliche Fabrik Toolgal, wo unter anderem Diamantschleifer hergestellt werden. Auch der Kollektivismus ist heute erheblich sanfter als früher: Es gibt mittags eine warme Mahlzeit im gemeinsamen Speisesaal und am Sabbath eine feierliche Zusammenkunft - die Teilnahme ist aber freiwillig.
Totgesagte leben länger: Heute müssen sich die Kibbuzim, die noch vor einem Jahrzehnt unter Überalterung litten, keine Sorgen mehr um Nachwuchs machen. "Sehr viele junge Paare wollen heute wieder im Kibbuz leben", sagt Schoschani. Insgesamt 15 Ehepaare, davon viele gut verdienende Akademiker, seien zuletzt Mitglieder von Degania Alef geworden. "Die Idee blüht wieder."
Quelle: ntv.de, Sara Lemel, dpa