Politik

"War sicher, das Baby ist tot"Flucht aus Belarus: Hochschwanger durch Wald und Sumpf

01.05.2023, 13:31 Uhr
imageVon Uladzimir Zhyhachou
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Die 35-jährige Polina Leschko musste durch eine Sumpflandschaft im belarussisch-ukrainischen Grenzgebiet flüchten. (Foto: imago images/shico3000)

Polina Leschko ist im siebten Monat schwanger, als sie eine schwierige Entscheidung treffen muss - das Kind im belarussischen Gefängnis zur Welt bringen oder fliehen. Die Frau entschiedet sich für die Flucht. Die Route verläuft durch tiefe Wälder und Sümpfe. Erst anderthalb Jahre später ist sie bereit, darüber zu sprechen.

Es ist ein grauer Tag im vergangenen Dezember, als Polina Leschko von dem Tod ihres Bruders erfährt. Die 35-jährige Belarussin lebt in Warschau, nur vier Autostunden von ihrer Heimatstadt Brest entfernt. Zur Beerdigung dort kommt die Frau trotzdem nicht - vor anderthalb Jahren musste sie aus ihrem Land fliehen, zurück kann sie nicht mehr.

Wie Hunderttausende andere Belarussen ging Leschko im August 2020 auf die Straße, um gegen Diktator Alexander Lukaschenko zu protestieren. Zusammen mit ihrem Mann lief sie bei täglichen friedlichen Demos mit. Mitte September war damit Schluss - die zweifache Mutter bekam eine Vorladung von der Polizei. Wegen der Teilnahme an den Demonstrationen wurden Strafverfahren gegen sie und ihren Mann eingeleitet. "Auf meine berechtigte Frage, ob wir denn etwas Verbotenes gemacht haben, zeigte mir der Beamte beim Verhör ein Foto von mir und meinem Mann auf einer Demo und sagte: 'Ihr seid verdammte Kriminelle, eure Kinder werden in ein Waisenhaus gebracht. Und ihr werdet im Gefängnis verrotten'", erinnert sich die Frau in einem Gespräch mit dem oppositionellem Nachrichtenportal Zerkalo. Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion erscheint ihr Bericht nun in verkürzter Form auch bei ntv.de.

Mehrere Monate später, im Juni 2021 - Leschko war inzwischen mit ihrem dritten Kind schwanger - wurde das Ehepaar zu einer Freiheitsstrafe von anderthalb Jahren verurteilt. Die beiden legten Berufung ein und gewannen so wertvolle Wochen in Freiheit, um zu überlegen, was zu tun ist. Die Kinder ins Heim schicken zu lassen und die Tochter hinter Gittern zur Welt zu bringen, war für die Familie keine Option. Das Ehepaar entschied sich für die Flucht.

"Wir hatten keine Zeit - ich musste in zwei Monaten entbinden"

"Wir wussten bereits, dass es Routen über Wälder und Flüsse gibt, und suchten jemanden, der uns dabei helfen könnte, sie zu finden und die Grenze zu passieren", erinnert sich die 35-Jährige. "Natürlich konnte ich mit so einem großen Bauch keinen Fluss überqueren. Es bestand die Gefahr, dass das Baby und ich sterben werden." Schließlich fand das Paar eine Möglichkeit, durch einen Wald in die Ukraine zu gelangen. "Das war der schnellste und gleichzeitig der gefährlichste Weg. Aber wir hatten keine Zeit - ich musste in zwei Monaten entbinden."

Einige Tage vor der Flucht brachten Verwandte die Kinder des Paares nach Kiew. Dort sollten sie auf ihre Eltern warten. Leschko - inzwischen im siebten Monat schwanger - und ihr Mann tauchten unter und suchten nach einem Schleuser. "Schließlich meldete sich einer. Auf seine Anweisung hin fuhren wir in eine bestimmte Stadt und saßen dort an einem bestimmten Ort". Den Namen der Stadt will die 35-Jährige aus Sicherheitsgründen nicht nennen. "Er kam von hinten, nahm uns an den Jacken und führte uns ins Auto. Diese Leute waren sehr vorsichtig, was ihre Identität angeht. Aber, soweit ich weiß, wurden sie geschnappt und sitzen jetzt im Gefängnis", sagt Leschko.

"Der Mann, der uns half, war völlig verblüfft, als er mich sah. Ich verstand, dass er vorher nicht gewusst hatte, dass ich schwanger war. Ich fragte: 'Haben wir überhaupt eine Chance, auf der anderen Seite in der Ukraine anzukommen?' Und an seinem Blick erkannte ich, dass die Lage schlimm war. Aber er sagte: 'Lass es uns versuchen.'"

"Ich kann nicht wegrennen, wenn sie anfangen zu schießen"

"Es war sehr beängstigend. Als wir in der Nacht in den Wald gingen, dachte ich nur daran, meine Kinder wiederzusehen. Ich hatte Zweifel, ob wir überhaupt herauskommen. Ich war in einer Art Schockzustand", so die 35-Jährige. "Ich sagte meinem Mann, dass er auf die Kinder aufpassen soll, sollte mir etwas zustoßen. Uns beiden war klar, dass ich mit diesem Bauch nicht weit wegrennen kann, wenn sie anfangen zu schießen."

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Familie Leschko in Kiew - wiedervereint nach der Flucht aus Belarus.

Als Frau aus einer Großstadt hatte Polina Leschko keine Vorstellung davon, was es heißt, Wälder zu durchqueren. "Erst dort verstand ich, was es bedeutet, sich durch all das zu kämpfen, zu rennen, zu fallen und wieder aufzustehen. Wir sind nicht gegangen, wir sind gerannt, und wenn wir Geräusche hörten, legten wir uns hin. Wir überquerten Gräben und Sümpfe. Meine Ellbogen, Beine und Hände waren verkratzt. Mehrmals fiel ich auf meinen Bauch", erinnert sich die Frau.

Weil es im Wald viele Mücken gab, trugen sie und ihr Mann trotz hoher Temperatur Jacken. "Doch diese Viecher stachen uns andauernd ins Gesicht", sagt die 35-Jährige. "Die Hitze war furchtbar, wir waren komplett nass, durch Schwitzen und weil wir im Sumpf gegangen sind. Das Ganze hat ungefähr vier Stunden gedauert."

"Ich war mir sicher, dass mein Baby tot ist"

Als sie schließlich einen ukrainischen Grenzschützer sahen, sei sie schon nicht mehr ganz bei Bewusstsein gewesen. Die ukrainischen Beamten halfen den Flüchtlingen: "Wir wurden auf ein Motorrad gesetzt und fuhren noch eine Stunde lang, bis wir in irgendeinem Dorf ankamen", erinnert sich die Frau. "Ich war kaum noch am Leben, fast bewusstlos. Dort stiegen wir in einen Bus und fuhren nach Kiew, wo unsere Kinder auf uns warteten."

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Wenige Wochen nach der Flucht kam das kleine Mädchen zu Welt.

Die nächsten Tage verbrachte die Familie in einem gemieteten Apartment in der ukrainischen Hauptstadt. "Ich hatte keinen Appetit, keine Energie, mein Blutdruck war niedrig. Mein Baby bewegte sich nicht. Ich weinte die ganze Zeit, weil ich mir sicher war, dass es tot war." Die Leschkos kontaktierten Freiwillige, die versuchten, einen Arztbesuch zu organisieren. "Aber das erwies sich als sehr schwierig, ich bekam keinen Termin", sagt die Frau. Erst nach anderthalb Wochen spürte sie wieder Bewegung in ihrem Bauch - "da wusste ich, dass mein Kind am Leben ist, und mir wurde endlich besser".

Wenige Wochen später brachte Polina eine Tochter zur Welt. Die Familie lebte inzwischen in einem Hostel in Warschau - in Polen hat sie Asyl beantragt. Trotz der Freude am Nachwuchs bezeichnet sie diese Zeit als schrecklich. "Ich möchte sie vergessen und mich nie wieder daran erinnern." Erst jetzt ist die Frau bereit, ihre Geschichte zu erzählen. "Die letzten anderthalb Jahre waren so hart für. Wir mussten ums blanke Überleben kämpfen. Aber Gott sei Dank haben wir es überstanden." Trotz allem verspürt sie "eine allumfassende Freude, dass wir zusammen sind, in Freiheit und nicht im Gefängnis", sagt Leschko. "Und jetzt müssen wir uns jeden Tag aufs Neue durchschlagen und uns weiteren Herausforderungen stellen."

Quelle: ntv.de